Minute of Islands Review | Ich will das eigentlich gar nicht!

Minute of Islands ist keine klassische Held_innenreise. Aus Studio Fizbins Werk spricht der pure Widerwille.

Es gibt Momente im Leben, da fühlst du dich auserwählt. Wenn du etwas kannst, was andere nicht können, sie auf deine Fähigkeit angewiesen sind. Auserwählt, ja, aber auch mit der Bürde es machen zu müssen, weil es sonst für deine liebsten Menschen z.B. unglaublich viel Geld kosten könnte. Du musst also nicht einmal die Einzige sein, die das kann. Die einzige im Umfeld reicht aus. Gerade zurzeit, als ich noch jeden Tag in oder unter Autos geschaut habe, um Fehler zu finden und diese zu beseitigen, geschahen viele Kontaktaufnahmen aus meinem Bekanntenkreis aus nur einem Grund. „Kannst du nicht mal eben?“ Gemeint war natürlich nicht mal eben, sondern ‚kannst du mal schnell noch mein Auto nach deiner eigentlichen Arbeit in Ordnung bringen, damit ich endlich Einkaufen fahren kann? Werkstatt ist verdammt teuer und wir sind doch so gute Freunde‘.

Jede Zelle meines Körpers schrie, ich will das eigentlich gar nicht, ich habe gerade was anderes vor, ich will meine Ruhe, mich ausruhen. Nach einiger Zeit suchte ich nicht mehr nach Fehlern im Auto, sondern nach Ausflüchten, nach Ablenkung, nach Gründen, warum es nicht ging. Ich hatte mit immensen Konzentrationsproblemen zu kämpfen, wollte niemandem Zuhören und malte mir die schlimmsten aller Eventualitäten vorab aus. Aber diese Abhängigkeit der Menschen von mir trieb mich immer wieder dazu, einen Blick unter die Haube zu werfen oder Ferndiagnosen zu stellen, um sie am Ende doch nur zu enttäuschen. Auf dem Aldi-Parkplatz gegenüber meiner Wohnung gab es einfach keine vollausgerüstete Werkstatt mit Hebebühne und Diagnosegeräten. Ich geriet in einen Kreis aus Abhängigkeiten, Selbstzweifel und Enttäuschungen, der meine so einzigartigen Fähigkeiten nicht herausstellte und feierte, sondern mein Selbstwertgefühl immer wieder aufs Neue mit Absicht überrollte.

Die Auserwählte

Auch Mo ist auserwählt! In Minute of Islands auserwählt von den Riesen – die einst mit den Menschen an der Oberfläche zusammenlebten – mit ihrem mächtigen Omni-Switch Motoren und Filteranlagen der Inseln zu reparieren, um das Überleben aller zu sichern. Diese filtern seit einiger Zeit die so giftigen Sporen aus der Luft, angetrieben von reiner Muskelkraft der kurbelnden Brüder unter der Erde. Als alle Motoren und Filteranlagen gleichzeitig ausfallen und nicht nur das Leben der Bewohner_innen, sondern auch der Riesen bedroht ist, scheint Mo die einzige, die die Katastrophe noch abwenden kann. Eine klassische Held_innenreise, so scheint es. Doch aus Studio Fizbins Minute of Islands weht dir nicht nur eine Steife Briese Inselatmosphäre entgegen, es ist der Widerwille, der aus jeder Pore von Mos Charakterzeichnung gepresst wird.

Mit den Händen in den Taschen schludert sie über die Inseln auf dem Weg zur nächsten Filter-Antenne. Jedes noch so kleine Detail wird begutachtet, jeder noch so kleine vergangene Moment noch einmal aufgegriffen. Die zunächst so selbstbewusst scheinende Protagonistin, sie kämpft mit der Bürde der übermächtig scheinenden Aufgabe. „Hattest du nicht eine Aufgabe? Wieso stehst du noch hier?“ Sie kämpft mit dem Loslassen, der Einsamkeit, mit Unverständnis und repetitiven Arbeitsweisen. Und das nicht nur im narrativen Kontext, sondern in allen Elementen, die sich Videospiele zu Eigen machen. Minute of Islands lässt dich diesen Widerwillen, diese Schwerfälligkeit immerzu spüren. In Animationen, wenn das Abputzen des Regenmantels wichtiger scheint, als das Fortschreiten, wenn du dich an den Details der Welt ergötzt oder dich langsam am Felsvorsprung hochkraxelst. Dazu die immer gleiche Arbeit, an den immer gleichen Apparaturen. „Ich will das eigentlich gar nicht“ schreit nicht nur Mo, sondern auch du.

Nimm dir eine Minute of Islands

Und so schleicht Mo stetigen Schrittes über die so faszinierend gestalteten Inseln. Inseln, die in ihren Details von ihrer Historie erzählen. Die Funktionsweisen des Ökosystems und die Auswirkungen der Pilzsporen auch mal unkommentiert vorbeiziehen lassen. Wenn dich eine Krabbe seitwärts überholt und in seinem Haus – einem Schädel – verschwindet. Wenn Gruften von Ritualen erzählen oder Visionen Mos inneren Kampf thematisieren. Genau in dieser von Art Director Tim Gaedke erdachten Welt zeigen sich Inspirationen von Hergé, Moebius und Lewis Trondheim. Eine so bunt detaillierte Welt, die gleichzeitig dem Verfall ausgeliefert zu sein scheint. Überall warten Kadaver, Überreste von Menschen, verrottete Bauwerke und verrosteter Stahl inmitten von blühenden Pilzsporen. Dazu die so authentisch klingende Inselatmosphäre von Christian Wittmoser. Bestimmt von Windböen, dem Rauschen der Baumwipfel, der rauen See und den mal lehmig, mal sandig klingenden Schritten der stoischen Mo. Ich könnte Stunden an einem Fleck umherwandern, um einfach nur den Geräuschen zu lauschen.

Aber Mo hat ja eigentlich eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die immerzu von Megan Gay als Erzählerin vorangetrieben wird. Die Gedankengänge, Vergangenes und die große, wartende Aufgabe thematisiert. In Erinnerungen Zweifel säht, aber auch Argwohn und Vertrauensverlust, unter dem nicht nur die Protagonistin leidet. Auch wenn ich manches Mal gerne noch mehr durch die Inszenierung herausgefunden hätte, so ist Megan Gay als Konstante der ganzen Erfahrung ein unglaublicher Zugewinn. In Minute of Islands leiden ganze Beziehungen unter der Last der Auserwähltenthematik. Es ist keine klassische Held_innenreise. Sondern eine Reise, die für Studio Fizbin 2018 auf einem Gamejam begann, unter der Leitung von Game Director Anjin Anhut an Profil gewann und von den eigenen Hintergründen des Teams beeinflusst wurde. Ein Spiel, das auch durch seine Mechaniken eine gewisse Barrierefreiheit garantiert und dich nicht verzweifeln lässt, um den Fokus auf die Entwicklung der Narrative legen zu können.  

Minute of Islands ist furchtbar anstrengend, aber genauso furchtbar wichtig

Videospiele besitzen auf so vielen Ebenen die Möglichkeit Emotionen und Gefühle zu transportieren. Viele davon vernachlässigen jedoch die Interaktion, vermutlich aus Angst vor eben genau solchen Kommentaren, mit denen sich jetzt auch Minute of Islands konfrontiert sieht. Zu langsam, wenig innovativ im Gameplay und vor allem repetitiv sei der Puzzle-Platformer. Dabei beansprucht das Werk nicht einmal dieses Genre, sondern nutz dessen Mechaniken für die Erzählung. Das Gameplay könne ruhig abwechslungsreicher sein und vor allem mehr Spaß machen. Aber macht es wirklich Spaß, die einzige zu sein, die diese Inselkette vor dem Tod retten kann? Wenn sie das überhaupt kann? Wäre das nicht eher der klassischen Held_innenreise zuzuschreiben? Und ist das Reparieren von dem immer gleichen Typ Maschine nicht vor allem eines, repetitiv? Es ist zumindest einer der Gründe, warum ich überhaupt nicht mehr vor oder unter Autos stehe, um diese zu reparieren. Es ist immer dasselbe, Tag ein Tag aus.

Videospiele müssen dies auch über ihr Gameplay, über ihr Voranschreiten und über ihre generelle Auslegung kommunizieren dürfen, sonst verfehlen sie ihr eigentlich wichtigstes Feature, die Interaktivität. Minute of Islands traut sich genau diesen Schritt. Es will kein leichtfüßiges Puzzle-Platformer-Erlebnis sein. Eher ein spielbares, melancholisches Comic. Es will mit seinen Mechaniken anecken, Zweifel, Widerwille und Schwerfälligkeit zelebrieren. Minute of Islands ist keine schöne Geschichte, aber eine die erzählt werden will. Eine wichtige Geschichte voller Selbstzweifel und Gewissensbissen. Eine, die die Lohnarbeit thematisiert, das Scheitern und auch das Loslassen. Es ist eine Selbstfindungsgeschichte. Diese Selbstfindung kann mit den Charakterzügen von Mo auf Kopfschütteln treffen oder wie in meinem Fall auf volle Zustimmung. Sie kann für jede_n eine andere Interpretationsmöglichkeit hervorrufen. Und genau das ist doch eigentlich das so faszinierende an interaktiver Kunst.

9/10 🦀💀

Developer: Studio Fizbin
Publisher: Mixtvision
Genre: Narrative Puzzle-Platformer
Team: Anjin Anhut (Game Director, Writer), Tim Gaedke (Art Director), Sophia Donderer (Lead Game Designer), Peter Bergner (Lead Programmer), Tobias Frisch (Executive Producer), Oliver Ulrich (Producer), Alexander Pieper (Technical Director), Brendon Gibbons (Writer), Sebastian Hollstein und Marius Winter (Orifinal Concept & Prototype Lead), Moritz Biene und Ferdinand Engländer (Creanimo) (Lead Animators), Florian Hüsing und Zoe Asena Koc (Game Designers), Maike Blankenhagen und Sophie A. Herrmann (Game Artists), Kasimir Blust, Kathrin Radtke und Erik Schulze (Programmers) …und viele weitere Additional Artists
Musik: Thomas Höhl (Composer), Tabea Henkelmann (Singer)
Auszeichnungen: Beste Indie Games gamescom (Auswahl Welcome To Last Week 2019), Visual Design Award Nominee (Indiecade 2020), Indie Award Nominee (gamescom 2019), Excellence in Visual Art Honorable Mention ( Independent Game Festival 2020)
Veröffentlichung: 14. Juni 2021 (Steam, GOG, Humble Store, PS5, PS4, Xbox Series X|S, Xbox One, Switch)


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Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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