The Longest Road on Earth Review | Geduldsspiel

Das Leben ist lang. Gut, wer den kleinen Dingen zauberhafte Magie entlocken kann, wie in The Longest Road on Earth.

„Es ist grün!“
„Aber ich kann doch die Hummel nicht hier auf dem Bürgersteig sitzen lassen!“
Grün ist alle paar Minuten, für die ausgelaugte Hummel zum Frühlingsanfang war ich vielleicht gerade die letzte Rettung. Also streckte ich ihr meinen Finger entgegen, um sie als bequemes Transportmittel in den nahen Park zu begleiten. Ein ruhiges, grünes Plätzchen im Schatten sollte einen sichereren Hafen für die benötigte Mittagspause bilden, als es der Bürgersteig an der stark befahrenen Hauptstraße je könnte. So richtig von mir trennen wollte sie sich dennoch nicht, als ich ihr ein saftiges Blatt zum Verweilen anbot. Und so nahm sich unser gegenseitiger Abschied die Zeit, die dieser Moment eben gerade brauchte. Noch vor einigen Jahren hätte ich die Hummel vielleicht nicht einmal bemerkt. Inzwischen beachte ich meine Umwelt sehr genau, setze jede Schnecke nach einem Regenschauer wieder an den sicheren Wegesrand.

The Train that goes Nowhere

Zeit ist mir ziemlich egal geworden. Es braucht keine Ausreden für den Genuss der Momente, die dir Kraft schenken. Der immer gleiche Ablauf in der Routine des Alltags wirkt auslaugend genug, da ist Achtsamkeit einer deiner wichtigsten Mitreisenden im Leben. Zeit nimmt sich auch The Longest Road on Earth. Das dialogfreie Narrative erzählt in vier Episoden Geschichten über fünf anthropomorphe Charaktere und dessen Alltag. Developer Brainwash Gang aus Spanien sucht die Magie im Kleinen. Dort, wo sie kaum ein Mensch vermuten würde. In der U-Bahn, auf dem Weg zur Arbeit, im frisch aufgebrühten Kaffee am Morgen oder beim Mittagsessen. Immerzu auf der Suche nach den besonderen Momenten des Lebens zu sein, möglichst groß, möglichst spektakulär, möglichst besonders, es schlaucht. Fast so wie der Alltag. Unser Leben ist nun einmal kein komprimierter Actionfilm. Zum Glück. Zumeist besteht er immerzu aus demselben Ablauf, denselben Handgriffen, in derselben Umgebung.

Genau dem schenkt The Longest Road on Earth seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Kamera an, Spotlight auf den Alltag. Unweigerlich macht mein Gehirn einen Sprung in Richtung Jim Jarmushs Paterson. Ein Film, wie ein Gedicht. Ein poetisches Stück Flimmergeschichte. Pure Entschleunigung. Oder noch weniger als das. Wenn sich in Brainwash Gangs bezaubernd inszeniertem Werk irgendetwas bewegt, dann bloß unglaublich langsam. Der Moment ist der Star. Und das ist nicht die nächste Explosion oder die unerwartete Wendung in einem Thriller, das ist der Moment, in dem die Maus die Wäsche aufhängt oder der Bär sich seinen verdienten Kaffee zieht. Voller Schönheit, voller Anmut und Sehnsucht. Innerhalb dieser Szenen entstehen ganze Stillleben. So kannst du deinen Blick nicht nur auf die Bialetti auf der Kochstelle werfen, sondern auch den Putzeimer begutachten oder einem Charakter bei der Zugfahrt zusehen. Blick aus dem Fenster, Blick auf das Abteil. Blick aus dem Fenster, Blick auf das Abteil.

100 Miles

Ein ablenkendes Smartphone gibt es hier nicht. Zum Glück! Innerhalb einer inspirierenden Langsamkeit ist The Longest Road on Earth die Zeit ähnlich egal, wie mir bei meiner Hummelrettungsaktion. Dabei in seinem reizenden monochromen Pixellook so erhaben in Szene gesetzt und animiert, dass du dir das Alltagsspektakel in Superzeitlupe endlos angucken könntest. Ein Stück Alltagspoetik. Doch die Endlosigkeit ist wahrlich endlich. Denn auch, wenn sich die narrative Erfahrung gerne mal über Minuten verselbstständigt und dich zum Zusehen verdonnert, ist sie massiv abhängig von Beícolis imposantem Soundtrack. Jedem Moment, jeder Szene ist ein eigens geschriebener Song gewidmet. Und die besitzen alle das Potenzial das emotionale Geschehen spielerisch zu bestimmen. Wenn auch völlig passiv. Zwar greifen Bilder und Songs perfekt ineinander, doch vernachlässigen sie massiv die interaktive Ebene des ohnehin schon aktionsarmen Erlebnisses.

Eine zumindest teilweise taktgenaue Ausrichtung auf dein Eingreifen hätte vermutlich eine (zumindest bei mir) fehlende tiefgreifende Bindung enorm ausgleichen können. So geschieht es zuweilen, dass du mit den geforderten Interaktionen, auch bei der unglaublichen Langsamkeit, noch nachhängst und nach einer kurzen Stille einfach ein weiterer, diesmal jedoch instrumentaler Loop angehängt wird. Wenn ich mich so zurückerinnere, was taktgenaue Interpretationen mit mir angerichtet haben, fast eine grobe Potenziallücke für ein Spiel, das so sehr auf seine fantastischen Songs baut. Beícolis Soundtrack gehört zweifelsohne zu den besten Soundtracks des Jahres, eine noch tiefere Einbindung ins Spielgeschehen, anstatt der puren Begleitung der Bilder, hätte The Longest Road on Earth zu einem emotionalen Brecher mutieren lassen.

The Longest Road on Earth

Trotz all der Schönheit mag The Longest Road on Earth nicht so recht connecten. Vielleicht aber auch, weil ich über dessen Thematik weit hinaus bin. Achtsamkeit im Alltag und der Blick hinter die Routine seit Jahren zu meinen ganz eigenen nötigen Aufgaben gehören und meine geistige Gesundheit stärken. Weil mir die kleinen Dinge im Leben wesentlich mehr Kraft geben, als ein vermeintlich pompöser Tag. Letzterer zehrt ohnehin viel mehr Kraft, als er gibt. Kurz gesagt, die Aussage der Brainwash Gang ist immens wichtig und absolut erlebenswert. Nur, bin ich an einem Punkt im Leben, an dem mir diese Erkenntnis kein erstauntes „Aha“ mehr entlockt, dessen Spiegelung trotz allem Balsam auf die Wunden streicht. Das Leben ist ein Geduldsspiel, genau wie dieses Werk. Es braucht mein Aha nicht, um für viele Menschen wichtig zu sein, für die dieses Aha vielleicht erst noch erzeugt werden kann. Auch ohne eventuell verschenktes Potenzial.

The Longest Road on Earth ist ohne Zweifel ein zauberhaftes Erlebnis. Einer der kleinen Kraftspender auf deinem langen Lebensweg, den es so famos in Szene zu setzen vermag. Ein Kraftprotz für mich persönlich jedoch leider nicht. Dafür hätte die Erfahrung musikalisch-interaktiv eindringlicher sein müssen. Ich stelle mir gerade vor, wie ich als anthropomorphe Fuchs-Version einer zwei Pixel großen monochromen Hummel über die Straße helfe während Beícoli dazu taktgenau wundervolle musikalische Arrangements zelebriert. Mein Moment des Alltags, er hätte eine zauberhafte Szene in The Longest Road on Earth abgegeben. Ich bin offensichtlich bereits ein Teil des Narratives. Dein Leben ist im besten Fall ziemlich lang – The Longest Road on Earth. Nimm dir Zeit. Die Magie des Alltags und das spontane Glück im Kleinen zu finden kann dir die noch ausstehende Fahrt angenehmer gestalten.

7/10 🐭 🐝

Developer: Brainwash Gang
Publisher: Raw Fury
Genre: Narrative
Musik: Beícoli
Veröffentlichung: 27. Mai 2021 (Steam, Epic Games Store, GOG, Android, iOS)

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Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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