In WARSAW kannst du nur verlieren, denn der historische Ausgang ist vorgezeichnet. Alles was du tun kannst, ist aufschieben.
Anstatt zu arbeiten, beschäftige ich mich jetzt seit Stunden mit dem Warschauer Aufstand. Dabei heißt es doch immer so schön, Spiele seien reiner Zeitvertreib, Entertainment pur.
Trotzdem weiß ich nun mehr über die größte einzelne bewaffnete Erhebung gegen die deutschen Besatzer in Europa im Zweiten Weltkrieg als jemals zuvor. Etwas, das kein Medium, keine Bildungseinrichtung auch nur annähernd erreichen konnte. Mal abgesehen davon, dass dieses spezielle Ereignis sowieso viel zu wenig Aufmerksamkeit erfährt.
Wenn WARSAW also eines geschafft hat, dann, dass ich mich tiefer in die Thematik einarbeiten und Zusammenhänge verstehen will. Hier aber wiederum im Zusammenspiel mit anderen Medien. Vielleicht lenke ich mich auch nur von der eigentlichen Arbeit ab? Vielleicht ist es Teil dieses Artikels, also notwendige Recherche, sodass ich WARSAW besser begreifen kann. Damit also wieder Arbeit?
Hätte ich mich nach Beendigung des Taktischen-RPGs tiefergehend mit dem Thema beschäftigt, wenn ich diesen Artikel nicht hätte schreiben müssen? Ich bin verwirrt. Doch macht der Einstieg in eine intensivere thematische Beschäftigung WARSAW gleichzeitig überhaupt auch zu einem guten Spiel? Muss es das überhaupt? Und was bedeutet gut auf dieser schwierigen interaktiven Ebene eigentlich?
„Eine kritische Besprechung eines (künstlerischen) Produkts?“
Ich merke wie das Ausarten während der Bearbeitung meinen eigentlich angepeilten zeitlichen Rahmen für diesen Artikel sprengt. Aber offensichtlich fordert Pixelated Milks Werk genau das. Eine ganzheitliche Betrachtung. Losgelöst vom reinen Bespaßungsprodukt. Es liegt ein ernsthafter historischer Kontext zu Grunde, der vor allem eines verlangt, Beschäftigung. Wohl auch mit seinen spielerischen Strukturen, vor allem aber mit dem: „Was passiert hier überhaupt?“
Warum erscheint WARSAW genau 75 Jahre nach dem Aufstand. Genau am 2. Oktober – dem Tag der Kapitulation der Warschauer Widerstandskämpfer_innen als Folge der völlig aussichtslosen Situation. Vielleicht weil es sich trotz der Betrachtung als „Spiel das zuerst einmal Spaß machen muss“ auf Seiten der Entwickler_innen um so viel mehr als ein Entertainmentprodukt handelt? Eine Honorierung des nahezu bedingungslosen Kampfes für die Freiheit trotz Ausweglosigkeit? Eine Vermittlung des Widerstandsgedanken? Eine Widerstandsgeschichte? Ein Medium, das den Transport beklemmender Gefühle während Kriegsaktivitäten möglich macht? Ein Wegbereiter in die intensivere Beschäftigung? Mein Kopf brennt. Je tiefer ich gehe, desto mehr Fragen tauchen auf, die wiederum nach Antwort dürsten. Ist das hier überhaupt noch eine Review? „Eine kritische Besprechung eines (künstlerischen) Produkts?“
Zumindest aber ein Beweis dafür, dass einfach gedachte Spielekritik oft nicht so einfach ist wie gedacht. Texte sich einfach wie von selbst entgegen des gedachten roten Fadens entwickeln. Verfluuucht! Ich fühle mich wie Bojack ohne Outlines.
Was ist WARSAW?
Zu aller erst ist Warsaw eine Stadt in Polen, Warschau eben, oder Warzawa. In diesem speziellen Fall jedoch ist WARSAW ein strategisches, rundenbasiertes RPG, das den Warschauer Aufstand im Zweiten Weltkrieg zwischen dem 1. August 1944 und dem 2. Oktober 1944 zu Grunde liegt und eben mit der Kapitulation der Warschauer Widerstandskämpfer endete. Absehbarer Spielverlauf, intensive 63 Tage Widerstandskampf zwischen zunehmend einfallenden historischen Häuserreihen. Übrig bleibt eine nahezu komplett zerstörte, unbewohnbare Metropole.
Zumindest, wenn der von dir angeführte Trupp von Widerstandskämpfer_innen denn auch positiv zum Kampf gegen das Naziregime beitragen kann. In meinem Fall habe ich in etwa die Hälfte durchgehalten. Nach 33 Tagen waren Missionen gescheitert, Viertel der Stadt verloren, die Moral des Widerstandes am untersten Ende, Vorräte und Munition aufgebraucht. Doch nicht nur das. Der Großteil meiner aufopferungsvoll für die Freiheit Warschaus kämpfenden Menschen fand sich auf einer Gedenktafel wieder. Sie alle waren tot!
Wie viel Spaß kann also ein rundenbasiertes, strategisches Survival Game bereiten, dessen so brutaler Ausgang schon vorher klar ist? Du lediglich den Tag der Kapitulation nach hinten verschieben kannst. In dem die Brutalität in der sinkenden Zahl der Einwohner der Stadt nach jeder Mission unaufhaltsam nach unten ratternd visualisiert wird. Ich verrate es dir vorab: Absolut keinen!
Und genau das muss WARSAW auch nicht und genau deswegen enthält es Elemente, die äußerst schlauchend und zäh wirken. Aber das scheinen wiederum nicht mal die Entwickler_innen selber realisiert zu haben. Weswegen sie nun ständig nachbessern.
Krieg ist Krieg
Und so organisierst du in deinem kleinen Versteck einen Zusammenschluss von Widerstandskämper_innen, die zur Hilfe des gesamten Aufstandes auf einer historisch nachgebildeten Karte zu verschiedenen Zielen marschieren können. Verlorene Munition sicherstellen, Patrouillieren, gegnerische Ziele angreifen, in Gefahr geratenen Genossen zur Hilfe eilen. Doch in den dunklen, vernebelten Gassen besteht auch immer die Gefahr von Nazis aufgespürt und in Kämpfe verwickelt zu werden. Genau dann wechselt WARSAW von der vereinfachten Topdown Perspektive in eine 2D-Seitenansicht.
Die Kämpfe erfolgen rundenbasiert. Eine Gruppe Nazis gegen deine Polnischen Widerstandskämpfer_innen. Vor bedrohlich atmosphärisch inszenierten, handgemalten Szenerien und unterlegt von dramatischen Kompositionen, wählst du pro Kämpfer immer wieder eine Aktion aus. Angriff, Verteidigung oder strategisches Element. Genauso agiert deine Gegenseite. Kämpfe in WARSAW laufen immer gleich ab.
Viele Spieler_innen und Kritiker_innen merken an: „zu eintönig, wenig abwechslungsreich und im Gesamten zu wenig Inhalt und Möglichkeit. Kämpfe und Missionen enden zumeist mit dem Rückzug oder dem Tod aller Beteiligten.“ Ach nein, wirklich?
Nun, wie groß sollte die Möglichkeit einer kleinen Widerstandsgruppe gegen einen übermächtig erscheinenden Gegner gestaltet werden. Mit absolut keiner Aussicht auf Hilfe von Außerhalb, mit schwindenden Vorräten und spärlich vorhandener Munition, mit im Minutentakt wegsterbenden Menschen.
Dein Spielerlebnis endet in der absoluten Katastrophe weil das historische Vorbild es genauso vorgibt. Es vermittelt dir absoluten Schrecken und Hilflosigkeit. Jeder Verlust eines Charakters mit ausgearbeiteter Hintergrundgeschichte tut weh.
Es transportiert die barbarische Brutalität des Naziregimes, dessen SS-Oberbefehlshaber gegen den Warschauer Aufstand Heinz Reinefarth nach dem Krieg, seinen zahlreichen Morden und Kriegsverbrechen einfach so Teil des Schleswig-Holsteinischen Landtages werden konnte. Später auch Bürgermeister auf der Wohlfühlinsel Sylt.
Na das passt doch. Hier soll ja schließlich eine Auszeit und Abstand vom Alltag genommen werden. Auslieferungen an Polen wurden stets abgewiesen. Von Deutschland ebenso wie von Großbritannien. Von wegen Entnazifizierung! Und das soll dann Spaß machen? Nur ein Teil Entertainment sein?
WARSAW ist mehr als ein Spiel
WARSAW ist kein taktisches Spiel für die Gelegenheitsablenkung. In diesem Fall könntest du wirklich lieber zur viel zitierten möglichen Inspiration Darkest Dungeon greifen. Aber Gelegenheitsablenkung und Spaßbereiter kann es und muss es auch nicht sein. Pixelated Milks bockschwerer Strategieklotz ist vielmehr eine beklemmende Erfahrung mit absolut großartiger Kunst und schön inszenierter Atmosphäre. Hier zählen Abwägungen, Risiko und Ressourcen sparender Einsatz von Kampfmitteln.
Mit den strikt auferlegten historischen Vorgaben ist das Spiel im Kontext des zweiten Weltkrieges in seiner spielerischen Anlage natürlich limitiert. Es kann jedoch losgelöst von sämtlichen Kontexten absolut nicht betrachtet werden. Genauso sollte es vorab auch beworben werden. Und genau hier liegt der Denkfehler im Marketingansatz seitens des Developer und des Publisher Gaming Company.
WARSAW als reines Entertainment Produkt, das zufällig im Zweiten Weltkrieg spielt, funktioniert so nicht und kann in dem Fall nur auf genau die zumeist erfolgte Rezeption treffen. Es ist aber jedoch viel mehr ein interaktiver Ausflug in einen schwer zu erfassenden historischen Kontext. Eine spielerische Näherung, die mit ihrer Gesamtheit aus Organisation, Strategie, Kampf und historisch korrekter und fiktiver Ereignisse eine Nahbarkeit garantiert, die sonst nur schwer möglich ist.
Losgelöst vom Kontext ist WARSAW tatsächlich nur ein durchschnittliches Strategie-Spiel mit reduzierten Möglichkeiten, das nun immer wieder mit zusätzlichen Inhalt angereichert wird. Eine Art Early Access Titel, der diesen Status nie erhalten hat, sich aber stetig weiterentwickelt. Wenn du aber nur ein Spiel spielen willst, dann greifst du im besten Fall auch nicht zu WARSAW.
Im Gesamtkontext ist es jedoch eine wichtige Erfahrung. Ein manifestierter Zeitzeuge, der den Warschauer Aufstand würdigt und in ein angemessenes Paket einhüllt. Ein Paket, das dir annähernd die Brutalität des Naziregimes und die schiere Hoffnungslosigkeit, in der Menschen nach dem letzten aussichtslosen Strohhalm greifen, vermitteln kann. Auch durch sein limitiertes Gameplay als Stilmittel.
Für den Widerstand!
Doch das Wichtigste an WARSAW ist die Erzählung einer Widerstandsgeschichte. Denn davon gibt es bei weitem viel zu wenige. Wenn du dich also mal wieder fragst wie das denn alles passieren konnte, dann aus dem Grund, weil sich kaum jemand den Geschehnissen mit all seiner Kraft entgegenstellte. Ganz im Gegenteil zu den Menschen in Warschau. Es hätte unzählige Warschaus gebraucht.
Und wenn du dann wissen willst, wie so etwas verhindert werden kann, nimm dir nur einen kleinen Funken der Energien des „Warsaw Uprising“ und investiere es in den Aufstand gegen unterdrückerische Machtstrukturen, Rassismus, Faschismus, Antisemitismus, Sexismus und Diskriminierungen jeglicher Art, bevor der bewaffnete Kampf als einzige Lösung und letzter Ausweg erscheint. Genau das ist es was WARSAW vermitteln kann. Für die Freiheit aller Menschen! Und das ist dann doch so viel mehr, als nur ein durchschnittliches Spiel.
Aus Respekt vor dem historischen Kontext und der Opfer des Warschauer Aufstandes vergeben wir im Falle von WARSAW keine Wertung.
Developer: Pixelated Milk
Publisher: Gaming Company
Veröffentlichung: 2. Oktober 2019 (Steam), 29. September 2020 (PS4), 1. Oktober 2020 (Switch), 2. Oktober 2020 (Xbox One)
Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.