ToeJam & Earl Back in the Groove! Review | Invasion der 90er Aliens

Kann ein so übermäßig Retro infizierter Titel wie ToeJam & Earl überhaupt objektiv betrachtet werden? Kannst du das Spiel, das Fans des Franchise forderten, völlig losgelöst von seiner Historie betrachten? Ist Back in the Groove! unter normalen Umständen rezensierbar?

Objektivität ist der Schlüssel zu einer neutralen, bewussten Bewertung. Objektivität hilft sich von Vorlieben zu entfernen, Vergleiche zu unterlassen und das reine selbstständige Werk zu betrachten. Doch wenn du ehrlich bist werden gerade Spielerlebnisse, ähnlich wie im Film und in der Musik, von Emotionen und individuellen Erlebnissen beeinflusst. Du kannst dir zwar alle wichtigen Elemente eines Spiels getrennt ansehen, in jeder Kategorie zu einem Schluss kommen und die Ergebnisse am Ende addieren, doch immer wieder wird deine Entscheidung von deinen eigenen Emotionen verwässert werden. Die Frage wäre also nicht; kann eine Rezension ausschließlich objektiv sein, sondern muss sie es überhaupt?

„Auf der Welt gibt es nichts, rein gar nichts von Menschen, was objektiv wäre.“ (Unbekannt)

Im gewissen Maße muss eine Rezension, eine Kritik natürlich objektiv sein, sonst würdest du ungeliebten Spielekonzepten immer eine Abfuhr erteilen. Um den Umstand zu vermeiden kannst du aber Genrevertreter, die dir nicht liegen, im besten Fall an den delegieren, der sie bevorzugt. Zur Einordnung im historischen Kontext, wie im Fall von ToeJam & Earl würde pure Objektivität zu keinem guten Ende führen. Das zeigen inzwischen viele unterschiedliche Rezensionen für Back in the Groove!, die auf einer Skala von 0-10 in Bereichen zwischen 4 und 9,5 liegen. Das Spiel ist also riesigen Schwankungen ausgesetzt, die aller Wahrscheinlichkeit nach absolut nichts über die reine Qualität und das individuelle Spielerlebnis eines jeden Menschen aussagen. Die Frage scheint überflüssig wer hier eine emotionale, retrospektive Bindung zu dem 90er Jahre Adventure pflegt und wer rein analytisch die Fakten zusammengesammelt hat.

Rezensionen sind objektiv niemals objektiv. Oft überwiegen einzelne Elemente des Spiels in ihrer Qualität oder der gewollten Ausrichtung. Anders als bei reinen Produkttests, die auf Fakten und Ergebnissen beruhen, ist ein Videospiel nicht in puren Zahlen bewertbar. Es ist ein Stück der freien Künste. Hier ein starres Muster der Bewertung für eine Art der Kunst anzusetzen wäre völlig fatal und führt zu einer ungenauen Einordnung im Gesamtkontext. Manche Titel spielen mit simplen Grafiken, bei einigen überwiegt die Erzählung, bei anderen das Gameplay und bei wieder anderen das Gesamtkonzept oder das Design. Starre Einordnungsmuster und unlebendige Erzählungen des Spielerlebnisses lassen Rezensionen unbedeutend wirken. Der Blick zu schmal, die Gewohnheit zu eingefahren, das Ergebnis gnadenlos negativ, überschwänglich euphorisch oder schlicht falsch. Doch das einzig greifbare, das vermittelbare innerhalb einer Rezension ist das „Real Erlebte“. Das individuelle Spielerlebnis. Ein Spiel soll dich unterhalten, dir Abwechslung in deinen Alltag bringen, es mag dir Blickwinkel präsentieren, eine Geschichte erzählen und Emotionen übermitteln. Und genau das versuchen wir hier bei Welcome To Last Week ungefiltert zu transportieren. Am Ende entscheidest du, ob das gelesene Erlebte deinem Erlebbaren nahekommen könnte. Was uns nach viel zu langer Einleitung nun wieder zurück zu der Betrachtung von ToeJam & Earl bringt. Eine Rezension, die wie jede andere in ihrer Gesamtheit völlig subjektiv erscheint und doch mit Mitteln der Objektivität angereichert wurde.

Wir brauchen mehr Funk!

ToeJam & Earl haben sich mal kurz ein Raumschiff geborgt, um mit ihren beiden Freundinnen einen Ausflug zur Erde zu unternehmen und dort ein wenig Funk vom Planeten Funkotron unter die Leute zu bringen. Earl verspürt den Drang die integrierten Boxen des Schiffes überstrapazieren zu müssen. Zu viel für die alte Erde. Der freshe Funk dröhnt durch den Kern und lässt die Erde inklusive des Raumschiffs in Einzelteilen umherfliegen. Wieder zu Bewusstsein gekommen beginnen die Freunde mit der Suche nach den einzelnen Raumschiffteilen. Nur die Erde ist plötzlich nicht mehr Rund. Sie besteht wie ein Hochhaus aus unendlich vielen Etagen, die durch Fahrstühle verbunden sind. Keine leichte Aufgabe hier unbemerkt als Alien sein Raumschiff zusammenzusammeln.

 

 

So startest du dein Abenteuer im vierten Teil der Roguelike Adventure Reihe ToeJam & Earl. Ein Spiel, das erstmals 1991 auf dem Sega Mega Drive erschienen ist und sich mit seinem übertrieben bunten Style, den 80er/90er Hommagen und dem funkigen Funk in die Herzen vieler daddelte. Nach dem 1993er Mega Drive ToeJam & Earl Panic on Funkotron und dem 2002er 3D-Wiederbelebungsversuch ToeJam & Earl III: Mission to Earth hatte es sich ausgefunkt. Doch einer der Erschaffer der ToeJam & Earl Welt, Greg Johnson, konnte den sich häufenden Fragen nach einem vierten Teil der scheinbar geliebten Reihe nicht mehr widerstehen und begann die Arbeiten an Back To The Groove, das 2015 mit über 500.000 Euro auf Kickstarter finanziert wurde.

Fortan begleiteten immer wieder Verschiebungen der Veröffentlichung die Produktionsphase. Allein die integrierten Bilder der Kickstarter-Kampagne lassen eine häufige Überarbeitung der Spieloberfläche vermuten. Und so brauchte es die Zeit bis zum heutigen Tage, dem 1. März 2019, der den Fans der ToeJam & Earl Reihe 17 Jahre später endlich den vierten Teil des absurden Coop-Roguelike-Adventures in die Hand drückt.

Selbst deine Trainingsanzüge waren nicht so bunt

Das Wort bunt war dir ja eigentlich geläufig. Als Ausdruck für die Vielfalt der verschiedenen gezeigten Farben. Was ToeJam & Earl Back in the Groove! allerdings über die Xbox One X in deine Augen drückt ist tiefster, kontrastreicher 90er Neon Comic-Style. Wenn du denkst dein Bild ist ganz gut gesättigt fahren die Designer der HumaNature Studios die Regler noch einmal richtig nach oben. Da springt dir jede Farbe aggressiv ins Auge und transportiert mit seiner platten Silhouette der Figuren und dem cheesigen Funk im Hintergrund eine doppelte Portion verordneter Coolness durch den Raum. So erinnert das Design durchaus an die ersten beiden Teile der Reihe, die aber noch mal mächtig von Staub und Ballast befreit wurden, um im Groove die Symbiose aller drei Teile präsentieren zu können. Und da du niemals auch nur einen dieser Teile gespielt hast, aber in den 90ern aufgewachsen bist, erreicht dich dieses Retrofeeling durchaus schon zu Anfang, nur kannst du absolut nichts mit dem Spielsystem anfangen. Deshalb erst einmal Tutorial.

Das Ziel des Spiels ist es dein Raumschiff wieder zusammenzubauen. Doch wurden die Teile auf allen Ebenen der Erde verteilt, die du in allen Ecken durchsuchen musst. Völlig simpel, eigentlich! Du wackelst an Bäumen, sammelst Geld und Geschenke, die dir später von Nutzen sein können und flüchtest vor allem vor den komischen Erdlingen. Denn die jagen dir als Alien-Sensation entweder hinterher, sind wahnsinnig genervt von dir oder wollen dich nur abzocken. Um herauszufinden wer zu welcher Gattung gehört braucht es Zeit. Tanzende Hula-Mädels, Segway fahrende Menschen, Internettrolle, Game-Nerds, Rasen mähende besessene Gärtner, Stalker, wirre Doktoren und viele weitere Gestalten geben dir aber durchaus Hinweise in ihren Verhaltensweisen zu welcher Kategorie sie nun zählen.

Immer wieder lenken dich das öffnen von Geschenken und inkludierte Mini-Games von deiner eigentlichen Suche ab. Und eigentlich musst du durch diese Aktivitäten auch deine Fähigkeiten etwas steigern, um in höheren Etagen den schieren Mengen von Menschen gewachsen zu sein. Denn zunehmend wirst du von den einzelnen Etagen gestoßen, attackiert oder steigst wegen des Verlustes der Orientierung in den falschen Fahrstuhl, der dich wieder nach unten befördert. Wirst du zu oft angegangen schwindet deine Energie, die du durch Essen auffüllen kannst. Schwindet deine Energie komplett, verlierst du ein Leben. Und wenn die dann auch noch alle verbraucht wurden, ist deine Reise hier zu Ende und du kannst von vorne beginnen. Hier ist wirklich alles Retro! Kein Continue, kein Speicherpunkt. Einfach alles noch mal von vorn.

Besser nicht allein.

Die simple Sucherei langweilt dich zu Anfang mächtig, ist im Tutorial aber auch deutlich einfacher gestaltet als es dann im Spiel der Fall ist. Die Welt von ToeJam & Earl aber scheint dich langsam zu vereinnahmen. Von Anfangs leichtem Desinteresse wandelt sich deine Stimmung mit jedem Schritt, jeder Begegnung, jeder witzig animierten Kleinigkeit, jeder durchsuchten Etage und jedem gewonnenen Rhythmus-Spiel zu leichter Freude, die am Ende im totalen Suchtfaktor endet. ‚Verflucht, irgendwie musst du das doch schaffen an den fiesen Erdlingen vorbeizuschleichen.‘ Die Meisterin des Versteckens im Sonnenblumenfeld bist du jedenfalls schon. ToeJam & Earl packt dich langsam, es kitzelt deinen Ehrgeiz und deine Retrogameplayliebe, um dich zu fordern, damit du dich auch weiterhin mit dem Spiel auseinandersetzt. Klassische Version der Bindung des Spielers zum Spiel. Erzeuge Situationen, die sie scheitern lassen, um den Willen zu aktivieren.

ToeJam & Earl ist in seinen einzelnen Strukturpfeilern absolut nicht erklärbar. Es besteht aus repetitiven Leveln, die immer wieder das Selbe von dir fordern. Es besitzt ungenaue Mechaniken, die dich Fluchen lassen und ungewollt in den See oder von den Ebenen stürzen lassen. Es wirkt im Gameplay mitunter müßig und langatmig, viel zu übertrieben kontrastreich und in seiner Gegnerplatzierung manchmal absolut unfair. In der Gesamtheit und im Zusammenspiel aber funktioniert das alles komischerweise sehr gut. Die Ansammlung der Destruktivität mutiert zum großen Ganzen, zum dich fordernden  Entertainmentball, der immer wieder gekonnt zurückgespielt wird.
Hier würden dann Rezensionen, die Anhand von Einzelteilen bewerten, aber den gesamten Blick außer acht lassen, gnadenlos scheitern. Der insgesamt charmante Vibe mit dem großartigen Funk Soundtrack kommt dem Gesamterlebnis völlig gelegen und groovt dich über jede Ebene des Spiels. Mit ein bis drei Freund_innen multipliziert sich der Spielspaß durch eingeworfene High Fives und humorvolle Comic-Sprechblasen exponentiell. Überhaupt ist der pointierte Witz in diesem Spiel ausgezeichnet und liebevoll platziert. Das vielfältige Charakter-Design handelt bezaubernd fürsorglich mit seinem Ursprung. Die Einordnung in den Gesamtkontext der Reihe erscheint sinnvoll. Für Fans der Franchise vermutlich ein eigenartiger, schmackhafter Genuss.

ToeJam & Earl Back in The Groove! ist ein absolutes Retro-Erlebnis, das selbst ohne Berührungspunkte nach ausgiebiger Beschäftigung fruchten kann, aber nicht muss. Es kann dich übelst schnell anöden aber genauso gut in seinen Bann ziehen und nie mehr loslassen. Dem Phänomen ToeJam & Earl ist deine Objektivität letztendlich absolut egal. Sie packen diese in den Fahrstuhl nach unten und kotzen noch mal oben drauf. Das Spiel, das in kein Genre zu passen scheint wird zu deiner Selbstinszenierung einer 90er Jahre Samstag morgen Comic-Show. Die Plattform dafür geben dir HumaNature Studios. Den Spaß inszenieren du und deine Freund_innen. Das Adventure ist natürlich keine Offenbarung, kein Innovationsmonstrum und auch kein Design-Held. Dafür ist ToeJam & Earl auch nicht erschaffen worden. ToeJam & Earl ist absurder und völlig skurriler Spaß für gute Abende. Wahrscheinlich sogar der beste Spaß, den du im ToeJam & Earl Universum haben kannst. Aber das müsste dir dann einer dieser Menschen erzählen, der 17 Jahre auf den vierten Teil gewartet hat. Um die gute Musik musst du dich an diesem Abend jedoch nicht mehr kümmern.

7/10 <3

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=xZVPQpRDTmA&w=560&h=315]

Developer/Publisher: HumaNature Studios (physische Version Limited Run Games)
Team: Greg Johnson (Director & Designer), Jeff Kreis (Lead Engeneer), Nathan Shorts (Lead Artist), Ko Costarella (Engeneer), Christopher Hall (Engeneer), Rick Servande (Animation), Connie Chin (Art & Animation), Maida Kreis (3D Design), Tormo Johnson (Play Balance)
Veröffentlichung: 1. März 2019 (Steam, PS4, Xbox One, Switch)

Autorin: Benja Hiller
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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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