The Suicide of Rachel Foster Review | Vergangenheitsbewältigung

The Suicide of Rachel Foster schickt seine Protagonistin zurück in das Haus ihrer Kindheit, zur Vergangenheitbewältigung.

Eine enge Straße wuselt sich durch die verschneiten Hänge der dichten Berglandschaft. Im Radio des sich darauf langsam fortbewegenden Autos wird ein heftiger Schneesturm angekündigt.
Zehn Jahre war Nicole nicht mehr in dem alten Haus, in dem sie aufwuchs. Doch jetzt möchte sie dem letzten Wunsch ihrer verstorbenen Mutter nachkommen und das Familienerbe – das alte verlassene Hotel – verkaufen. Sie selber verbindet diesen Ort mit schmerzhaften familiären Dramen und dem mutmaßlichen Suizid der dem Vater der Familie nahe gestandenen Rachel Foster.

Eigentlich will Nicole nur den Termin mit dem Anwalt zur Begehung und Ansicht des Zustandes des Hotels hinter sich bringen, um diesen Ort so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Doch der angekündigte Schneesturm durchkreuzt ihren Plan und macht eine Abreise unmöglich. Zwangsläufig muss Nicole sich nun mit ihrer Familienhistorie und den damit verbundenen Tragödien auseinandersetzen. Allein, in einem alten, verlassenen Hotel. Völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Nur der örtliche FEMA-Agent Irving (Eine Behörde, die für Notfälle zur Verfügung steht) bietet über eines der ersten Mobiltelefone seine Unterstützung an, auch in der Aufarbeitung der Geschehnisse der Rachel Foster. Denn die Wahrheit lauert irgendwo in den knarzigen Gängen des alten Hotels.

Zwischen Schneesturm und unbehaglichen Gängen

ONE-O-ONE Games platziert dich mit der Protagonistin Nicole in The Suicide of Rachel Foster mitten in einem Familiendrama, das durch mehrere Ereignisse das familiäre Konstrukt zum Einsturz brachte. Nach dem Tod beider Eltern will die unabhängige Nicole nun einen Schlussstrich unter dieses Kapitel setzen, doch das alte Haus hat anderes mit ihr im Sinn.

In der First Person Perspektive durchforstest du das alte Hotel, stößt auf Erinnerungen, Hinweise, Enthüllungen und versteckte Gänge. Fast kammerspielartig fokussiert sich das Geschehen des interaktiven Thrillers auf die Umgebung und Atmosphäre des Hauses, das die Protagonistin mit seiner gewaltig aufgeladenen Aura emotional beeinflusst, während der Schneesturm die durch die Isolation steigende Verzweiflung forciert. Wie lange muss Nicole gezwungenermaßen hier bleiben und sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen?

Doch ganz allein ist sie dann doch nicht. Denn Irving, der FEMA-Agent steht ihr in jeder Situation über den alten Backstein aka Mobiltelefon, der Anfang der 1990er Jahre Standard war, mit uneigennützig scheinender Hilfe zur Seite. Er kennt das Hotel und dessen Eigenheiten und auch die Geschichten, die sich um die Erscheinung dessen sammeln, inklusive des Suizids und des damit verbundenen Rufs als verlassenes Geisterhotel. Seine stimmliche Unterstützung hilft Nicole durch die abgeschiedenen, einsamen Tage.

Mashup oder mehr?

The Suicide of Rachel Foster ließ sich offensichtlich sehr von The Shining inspirieren. Ein verlassenen Hotel auf einem Berg, ein Schneesturm der für Isolation sorgt und die unumgängliche Konfrontation mit der eigenen  und der Vergangenheit des Hotels. Nicht nur Perspektiven senden Rezitationen des Kubrick Werks in die Welt, selbst der Teppich des Hotels scheint zu weilen derselben Designfeder zu entstammen. Doch auch wenn ONE-O-ONE Games wie im Vorbild mit klaustrophobischen und verängstigenden Mitteln arbeiten. Einmal am Ort des Geschehens angekommen, entwickelt sich eine sehr eigene Dynamik.

Eine erzählerische Dynamik, die durchaus Elemente des Walking Simulators Firewatch aufgreift und allein durch die Konversationen über das Telefon seine Geschichte in Richtung dramatischer Spitze treibt. Ein Effekt, der durch das exzellente Voice Acting von Kosha Engler und Christopher Ragland massiv an Authentizität, Vertrauen und Spannung gewinnt.
Und auch wenn sich in einigen Momenten der Hauserkundung ein Gefühl von Gone Home einstellt haben die italienischen Entwickler_innen hier kein reines Vermischen von altbekannten Konstanten erschaffen, sondern etwas ganz eigenes. Einen interaktiven Thriller, der Thematiken wie das Auseinanderbrechen von Familienverbünden, Suizid, Verlust, unverarbeiteten Ereignissen, Wahn, Depressionen und Pädophilie aufgreift und sie in ein spannendes, ebenfalls langsam verfallendes Konstrukt eines alten Hotels wirft.

Das jedoch scheint seine Vergangenheit nicht verdrängen zu wollen, wie es Protagonistin Nicole angestrengt versucht. The Suicide of Rachel Foster konfrontiert sie an jeder Ecke mit schlechten, aber auch netten Erinnerungen. Doch es weiß sie auch in den Wahnsinn zu treiben, wenn es in der unbehaglichen Stille im halb zerfallenen Zustand mal wieder unentwegt knarzt und quietscht oder seine halb aus der Angel gerissenen Fensterläden aufgrund des Sturms vor die Fassade knallt.

The Suicide of Rachel Foster macht atmosphärisch nahezu alles richtig

An stimmig gewählter und perfekt verbreiteter Atmosphäre fehlt es hier an keiner Stelle. Selbst die Zwischensequenzen, in denen Nicole eine Tür durch Druck langsam zu öffnen beginnt oder mit einem Werkzeug agiert, fügen sich nahtlos in das Gesamtkonstrukt ein. Die Gestaltung der Szenerie bildet eine stimmungsvolle Einheit mit der reichhaltigen, unbehaglichen Aura des Hotels, den richtigen Momenten für auflockernde, wohltuende Gesten und Gefühle nicht verpassend.

ONE-O-ONE Games finden die perfekte Balance für ein spannendes Setting aus Drama und Thriller, ohne sich dabei in Absurditäten zu flüchten. Es entwickelt sich eine geradlinige, nachvollziehbare Geschichte. Gerade die stetig wachsende und sich wandelnde Beziehungsebene zwischen Protagonistin Nicole und und FEMA-Agent Irving sorgt für einen spannungsgeladenen Erzählbogen, der sich gegen Ende dann leider doch ein wenig zu gehastet anfühlt. Denn dadurch leidet der so nötige Transport der wichtigen emotionalen Ebene. Das nachvollziehbare Leiden der Protagonistin war hierdurch getrübt und nicht direkt greifbar. Dabei setzt mein Trigger sonst bei der kleinsten Erwähnung dieser Thematiken ungehindert einen sehr intensiven Prozess in Gang.

Doch auch wenn sich die Autorenebene gerade das Ende als schwächere Phase aussucht ist The Suicide of Rachel Foster insgesamt ein absolut erlebenswertes Drama. Es entwickelt über seine Spielzeit wichtige Fragen und Prozesse der Aufarbeitung von prägenden Lebensereignissen. ONE-O-ONE Games wirft dich durch seine enorm gute Gestaltung aus Sound und Design in wirklich intensive Situationen. Situationen, die auch nach dem Erleben noch Verarbeitungsprozesse in deinem Kopf fordern und anregen. Da verzeihe ich manch nicht so dringlich scheinende Ausprägungen am Ende gern.

7/10 <3

Developer: ONE-O-ONE Games
Publisher: Daedalic Entertainment
Genre: First Person-Thriller, Walking Simulator
Veröffentlichung: 19. Februar 2020 (Steam), PS4 und Xbox sollen im Laufe des Jahres folgen

Autorin: Benja Hiller

Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

Kommentar verfassen