Ganze 25 Stunden bist du in der Nebula umhergesegelt, hast unglaubliche Schauplätze wiederentdeckt und zahlreiche Hieroglyphen einer antiken Vergangenheit übersetzt. Außergewöhnlich!
Die Nebula, ein komplexes Netz aus Flüssen im All, das verschiedene Monde innerhalb des Universums verbindet. Doch so recht interessiert sich niemand für diese imposante Struktur. Die Völker der Monde bleiben unter sich. Sie glauben an den Loop und das alles immer wieder von vorne beginnt. Kein Grund also rauszusegeln und die Welt zu entdecken. Und überhaupt, das Segeln ist eher etwas für Rumtreiber und verruchte Piraten.
Aliya Elasra ist für sie auch so eine seltsame Person. Aliya ist Archäologin, interessiert sich für die Historie dieses Universums, sammelt Relikte und übersetzt stückweise eine vergessene Sprache, die in Hieroglyphen erscheint. Für viele einfach nur wahllose Geschichten und enorme Zeitverschwendung. Doch Aliya hat da ihre ganz eigenen Theorien. Von der Professorin des Universitätsmondes Iox bekommt sie den Auftrag das Verbleiben eines Kollegen aufzuklären. Vor einiger Zeit hatte er sich auf den Weg zu einer neuen Expedition gemacht und ist nie wieder zurückgekehrt. Zusammen mit Roboter Six sucht Aliya nach Anhaltspunkten innerhalb des Universums und trifft schon bald auf eine viel größere, antike Spur des Konstruktes Nebula.
25 Stunden
25 Stunden in der Nebula. 25 Stunden im außergewöhnlichen Comicstil des narrativen Open-World Adventures Heaven’s Vault. 25 Stunden voller Entdeckungen, Abenteuer und Konversationen, aber auch voller Entspannung und Müdigkeit.
Inkle aus Cambridge (Vereinigtes Königreich) hat mit Heaven’s Vault eine interaktive Graphic Novel erschaffen, in der du dich nicht nur nahezu frei bewegen kannst, sondern mit deinen Interaktionen und Entdeckungen ebenfalls die Geschichte beeinflusst. Der Großteil des Adventures besteht aus Lesen, Übersetzen und Schlussfolgern, weshalb der Aufwand fürs Knöpfedrücken eher gering bleibt. Gerade aber noch so viel, um deinen Aufenthalt in der Open World der Nebula interaktiv nennen zu können. Entspannend.
Imposant ist tatsächlich der Puzzle-Teil des Spiels, auf dem zumeist auch der Fokus liegt. Während der Erkundung alter Ruinen und atemberaubender Monde stößt du immer wieder auf antike Hieroglyphen einer längst vergessenen Sprache. Durch Auswahlmöglichkeiten und Wiederholungen kommst du langsam näher an die Bedeutungen einzelner Zeichenfolgen heran. Dabei spielt deine Schlussfolgerung und die Verbindung der verschiedenen antiken und kunstvoll geschwungenen Abfolgen der Zeichen eine große Rolle. Hast du das Wort für Gott entziffert, ist es einfacher ähnliche Begriffe in der Assoziationskette folgen zu lassen. „Ah, diese Schwuppsis habe ich schon in dem Wort Gott gesehen. Hier ist noch so eine Art Häuschen mit drin. Könnte also Tempel bedeuten? Ja Tempel klingt gut?“
Vermutungen verfestigen sich über die Zeit und werden zur Konstanten. Deiner Konstanten, die nicht richtig sein muss, aber die Basis deiner Vermutungen über die antike Welt der Nebula verfestigen. Recherche, Ausgrabungen, Vermutungen, Einordnungen, Übersetzungen. Historisch archäologische Arbeit innerhalb eines Videospiels. Immer mehr willst du übersetzen. Jedes neu gefundene Wort, das auch in Satz- und Verskonstruktionen Sinn ergibt befriedigt dich zu tiefst. Du willst mehr Wörter, mehr Geschichte. Du blätterst durch deine Aufzeichnungen und vervollständigst frühe Schriftfunde. Die Struktur der Hieroglyphen scheint zu jeder Zeit, durchdacht und absolut plausibel. Ein Meisterwerk der fiktiven Spracherfindung und eine ruhige, sehr ruhige, aber spannende Beschäftigung. Du fühlst dich gut.
Segeln
Doch um historisch wichtige Orte zu finden, brauchst du Hinweise. Die bekommst du durch Austausch mit weiteren Menschen auf den verschiedenen Planeten. Auch hier wird die Hilfsbereitschaft des äußerst diversen Casts durch deine Interaktion mit ihnen beeinflusst. Keinen Bock deinen Roboter zu verkaufen? Gut, musst du halt auf den Hinweis verzichten, den dieses Geschäft gebracht hätte. Das ewige Suchen und Schlussfolgern lässt dich unzählige Male durch das Universum reisen. Wer sucht muss eben auch reisen. Mit großer Beständigkeit findest du dich auf den Flüssen wieder, die die Nebula verbinden. Eine entspannende Reiseform in einem quasi Raumschiff auf den wilden Gewässern der Galaxie. Die kunstvolle, expressive Gestaltung dieser Phasen wirkt fast meditativ. Immer wieder musst du feststellen, dass deine Augen, hypnotisiert von der begleitenden Musik, vor Entspannung ihren Dienst quittieren, obwohl du regelmäßig und minimal in die Steuerung des Schiffs eingreifen musst. Das ist eine wundervolle Erfahrung, die dich aber im Fortschritt des Spiels immer wieder zurückwirft. Zu dieser Zeit kannst du nur Routen zu Orten abgeben, die du bereits besucht hast. Und selbst hier sind die Vorschläge, die dein Co-Kapitän dir als Ziel unterbreitet äußerst überschaubar. Meist willst du dort nicht mal hin, so dass du wieder selber das Ruder in die Hand nimmst und erneut einnickst.
Die Lösung des Problems wurde eineinhalb Stunden vor Beendigung deines Abenteuers angekündigt. Patch 1.05 ermöglicht die Schnellreise zu allen Ortspunkten auf der Karte. Du kannst also ab jetzt zu jeder Zeit das Steuer deinem Roboter in die Hand drücken wenn die entspannende Segelei mal zu lang oder zu entspannend sein sollte. Auch zu unbekannten Orten segelt Six selbstständig und übergibt Aliya erst zur näheren Suche des geheimnisvollen Ortes das Steuer. Gute Entscheidung, um Heaven’s Vault als Spielerlebnis etwas kompakter gestalten zu können. Die Ströme der Flüsse machen durchaus auch Spaß, doch überfordern sie mit ihrer leisen und minimal agilen Intensität deinen von Müdigkeit geplagten Körper. Offenbar geht es auch zu ruhig.
Linear
Heaven’s Vault ist als frei erkundbare Welt gedacht. Eine Welt, in der du deine Geschichte selber entwickelst. Doch zu oft hast du das Gefühl, dass dich Inkles narratives Abenteuer eigentlich gar nicht so frei erkunden lassen will. Oft ist nach der Erkundung eines Planeten nur ein reisefähiger Ort auf der Karte markiert. Planetenareale werden künstlich eingeschränkt, manchmal wirken sie leer und zumeist eher schlauchig. Zwar kannst du deine Erkundung innerhalb der Welten frei gestalten, doch irgendwie wirst du das Gefühl nicht los, dass deine freie Entscheidung der storytechnischen Entwicklung weichen muss. Zudem ist dein begleitender Roboter äußerst ungeduldig und fragt in regelmäßigen Abständen, ob ihr diesen Mond denn nun verlassen könntet. Es schleichen sich Passagen ein, in denen du das Gefühl hast, nicht allzu viel zu tun zu haben, das entweder der Geschichte oder dem Teil des Übersetzens irgendwie förderlich wäre. Heaven’s Vault wird hier eher zur individuellen aber linearen Erzählung mit leicht ausladenden Arealen zur Erkundung. Manchmal sind Monde auch wenig besuchenswert, also eher weniger vielfältig. Aber das ist dann wieder der völlig normale Alltag einer Archäologin. Es ist eben nicht jeder Tag ein unglaubliches Abenteuer. Wieder einmal wird das Segeln zum Beweis für wenig Freiheit. Die Richtung deiner Route wird bei jeder Abzweigung angezeigt. Verpasst du die richtige Abzweigung, kannst du nicht etwa einen anderen, neuberechneten Weg nutzen, sondern wirst zurück auf die ursprüngliche Route versetzt.
Die Nebula Atmosphäre
Stell dir vor du liest dein Lieblingsbuch, dick eingekuschelt in deiner Schnuffeldecke. Gibt es da Raum für weitere Nebengeräusche, Musik oder Unterhaltungen? Nein, es gibt nur dich und das Buch. Genau hier borgt sich Heaven’s Vault seine Inspiration. Zumeist stellt es Erzählungen und Enthüllungen in den Vordergrund. Begleitet dich nur äußerst leise mit Musik und schließt Alltagsgeräusche abhängig vom Mond und der Tätigkeit nahezu aus. Fragen, Erzählungen, Ausführungen und Theorien von Aliya und ihrer Begleitung Six, die an deine Lesegeschwindigkeit angepasst werden können, sollen deine volle Aufmerksamkeit bekommen.
Nur während ausgewählten Passagen des Segelns und bei Ankünften, Abreisen oder unglaublichen Ereignissen wird das Piano zum Forte. Das mag zu Anfang arg ungewöhnlich wirken, wenn Aliya sich nahezu geräuschlos auf die Suche nach dem nächsten Anhaltspunkt begibt, ergibt in der Gesamtkomposition als nahezu Graphic Novel und intensiver archäologischer Expedition aber durchaus Sinn. Die größten Entdeckungen der Menschheit wurden ja auch nicht unter ohrenbetäubender Slayer Beschallung durchgeführt.
In Heaven’s Vault gewöhnst du dich immer mehr an die ruhigen und entspannenden Momente, die fast schon zu rar erscheinen innerhalb der pompösen Videospielwelt.
Da passt sich die Optik des Abenteuers von Inkle wunderbar an und bildet das Spiegelbild der atmosphärischen Reise. Ein comichafter Stil, in dem Aliya sich eher ruckhaft bewegt. Als würdest du deine Augen im Comic von Panel zu Panel schweifen lassen. Immer wenn die Archäologin aus dem Stand losgeht, hinterlässt sie am Ausgangspunkt ein schimmerndes Abbild ihrer selbst. Ein wundervolles Bild in einer Welt inspiriert von ägyptischer, griechischer bis orientalischer Antike mit Sci-Fi Elementen. Eine zumeist karge, sandige Mondlandschaft, die jedoch immer wieder von imposanten Wäldern und Gärten durchkreuzt wird. Ein wenig Sepia, vermischt mit einem beruhigendem Forstgrün und dem expressionistischem blau und lila der Galaxieflüsse. Da reichen nicht mal 25 Stunden, um sich daran satt zu sehen.
Außergewöhnlich stark
Heaven’s Vault ist ein gelungenes Archäologie-Abenteuer mit starken, vielfältigen und diversen Charakteren, an dessen Spitze die starke, selbstständige, Kopftuch tragende Archäologin und Historikerin Aliya Elasra steht, die selbstbewusst ihr Vorgehen verteidigt und nach Bruchstücken ihrer Vergangenheit und der des Universum sucht. Heaven’s Vault findet seinen Höhepunkt in Form der Puzzle-Mechanik, dem Hieroglyphen übersetzen, das sich perfekt in das narrative Element des Abenteuers einfügt. Niemals hattest du mit eigentlich stupiden Übersetzungen so viel Spaß. Ein Fakt, den sich der Bildungszweig vielleicht einmal als Inspiration hernehmen sollte. Inkle hat es geschafft archäologische Arbeit innerhalb einer fantasievollen Welt zu platzieren, in der jede Entdeckung etwas zur Gesamtlösung oder deiner Perspektive auf die Sicht der Antike beiträgt. Nur mehrere Spieldurchgänge können dir ein weitreichendes Bild des kompletten Universums bieten und strecken somit den Wiederspielwert, in dem du zudem deine korrekten Übersetzungen überführen kannst.
Dabei ist Inkles Werk in seiner Auslegung nicht immer konsequent und bahnbrechend. Es verliert über längere Strecken das Ziel aus den Augen. Dir fehlt ein wenig Kompaktheit, gerade in den Phasen, in denen dir das Herzstück des Spiels fehlt. Den Phasen, in denen es nichts zu übersetzen gibt.
Und trotzdem überzeugt dich das zumeist ruhige und leise Erlebnis am Ende durch einen mysteriösen Geschichtsverlauf, seiner stimmigen Welt und die eigensinnigen Charaktere. Vor allem ist Heaven’s Vault aber ein Spiel, dass dich allein durch sein Art-Design entzückt, das so außergewöhnlich erscheint, so nah am Medium Comic und doch in seiner ureigenen Art als interaktives Erlebnis funktioniert. Heaven’s Vault ist die ruhige Leseecke für den Literaturstammtisch, in der du deinen heißen Matetee auf den Tisch stellst und am Ende des Tages feststellst, dass er schon kalt ist. Heaven’s Vault ist irgendwie mehr Buch als Spiel. Ein unglaublich interaktives, mysteriöses, wichtiges, feministisches, mitreißendes, spannendes fiktiv-historisches Buch. Ein 25 Stunden Medienhybrid das die Faszination historischer und archäologischer Arbeit vermittelt.
8/10 <3
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Developer/Publisher: Inkle
Team: Joseph Humfrey, Jon Ingold (Gründer und Lead-Artists)
Veröffentlichung: 16. April 2019 (Steam, PS4), 28. Januar 2021 (Switch)
Autorin: Benja Hiller
Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.