Maneater Review | Haialarm im Trash-TV

Wenn Trash-TV, Gesellschaftskritik und Naturdoku verschmelzen. Friss dich als Hai in Maneater durch den reichhaltigen Ozean.

Irgendwann Anfang der 1990er Jahre, Der weiße Hai von Steven Spielberg hatte eine Flut an Ozean B-Horror-FIlmen nach sich gezogen. Sie alle liefen in Endlosschleifen im nächtlichen Programm des noch recht frischen Kabelfernsehens. Und mitten drin? Meine Mama, meine Schwestern und ich. Horror-Alligatoren, Killer-Krokodile, gurgelnde Piranhas und übergroße Haie. Die Filmbranche konnte nicht genug bekommen von völlig überzeichneten Monsterversionen tierlicher Meeresbewohner_innen. Und wir? Ebenfalls nicht. Mit Kakao, Decke und Flips bereiteten wir uns für Trash-Nächte auf Tele 5 vor und nahmen jede noch so aufgepumpte Schuppe mit Freude entgegen. Die Taten der Schreckensverbreiter, so absurd, dass sie uns fast schon schmerzende Lachanfälle entlockten.

Es war nicht nur die Liebe zu den faszinierenden Meeresbewohner_innen, die mich Nächte lang an die flimmernde Mattscheibe des alten Röhrenfernsehers band, sondern ebenfalls das trashige Konstrukt, in das sie gekleidet wurden. Jeder Statistik zum Trotz wurde das Bild der Killermaschinen aus dem Meer gestrickt, Ängste geschürt, ein Feindbild geschaffen. Es wurde immer skurriler, immer sonderbarer. Immer wuchtigere, außergewöhnlichere Wesen und Kreuzungen. Ein schlichter weißer Hai reichte da nicht mehr. Es wurde ausgereizt was ging, bis es nicht mehr ging. Der Meeres-B-Movie Horror verschwand, vorerst. Doch eine spezielle Liebe ist scheinbar unbewusst geblieben. Die Liebe zum faszinierenden Wesen Hai.

Auf den Spuren des B-Movie Meeres-Horror

Genau diese Liebe hat Maneater ausgegraben und wachgeküsst. Inklusive der Erinnerungen an hektisch flüchtende Menschen, an hilflos im Wasser strampelnde Beine, klischeehafte Küstenorte, braungebrannte Surferdudes, richtig dumm handelnde Menschen und vor allem, abgebissene Extremitäten. Aber auch Erinnerungen an meine Familie, die vor lauter Lachen kaum noch ein Auge aufhalten konnte, sind so nah wie nie zuvor. Bilder meiner kleine Schwester, wie sie Fuchtelbewegungen aus Der weiße Hai imitiert, lebendig. All das zaubert mir schon beim ersten Flossenschlag, der meinen Babyhai durch die flachen Gewässer nahe der schilfbedeckten Ufer befördert, ein massives Grinsen ins Gesicht. Ich bin Zuhause. Dabei hat meine Reise durchs Trash-Programm des fiktiven Kanals Port Clovis Channel an die Spitze der Nahrungskette gerade erst begonnen.

Damals galten meine Sympathien nicht den bedroht zu scheinenden Menschen, sondern den Haien und anderen Meerestieren. Ich wollte möglichst viele abgetrennte Arme und sich rot färbendes Wasser sehen. Und genau das ist es, was Maneater so unglaublich charmant erscheinen lässt. Endlich kann ich den Menschen selber den Schrecken durch die Knochen treiben, den sie durch die Stilisierung der Killermaschinen selbst herbeigeführt haben. Eine Millionen getötete Haie durch Menschen pro Jahr gegen 5 getötete Menschen von Haien pro Jahr. Es wird Zeit letztere Zahl massiv anschwellen zu lassen. In Tripwires ShaRkPG schaue ich nicht mehr nur dabei zu, es ist an der Zeit als Hai selber Rache zu üben. Und wenn es die Protagonist_innen einer Reality-Show selber trifft.

Schalte auch nächstes mal wieder ein… wenn es wieder heißt, Maneater!

Denn es ist nicht meine Bullenhai-Mutter, die mich in Haiform wohlbehütet zur Welt bringt, sondern der berüchtigte Hai-Jäger Scaly Pete, der mich auf seinem Boot aus dem Bauch meiner Mutter schneidet, während die Stimme von Chris Parnell (Saturday Night Live, 30 Rock, Rick and Morty) immer wieder das Geschehen gekonnt aus dem Off kommentiert. Ich bin unfreiwillige Teilnehmerin einer Reality-Show über Hai-Jäger_innen. Natürlich beiße ich Pete die Hand ab und verschwinde.
Ab Minute eins die meistgehasste Antagonistin des Trash-TVs, völlig auf mich allein gestellt, zwischen Alligatoren, Baracudas, Schildkröten und Barschen. „Und schon muss der Bullenhai lernen, dass er nicht allein die Herrschaft der Ozeane beansprucht!“ Wieder einmal ertönt diese Stimme von Parnell während mich ein recht normal gewachsener Alligator zum Frühstück verspeist. Es hilft nichts, ich muss mich vorerst mit kleinen Fischen abgeben, wachsen und gedeihen. In der Ruhe liegt die Kraft. Und im unendlichen Verspeisen von Fischen.

In sieben unterschiedlichen Regionen fresse ich mich vom Babyhai zum Mega-Shark. Mehr Essen bedeutet mehr Kraft und mehr Kraft bedeutet Wachstum. Ich steige auf in der Hirarchie des Meeres und schon bald räche ich mich zum ersten Mal an besagten Alligator, dem Alfa-Tier der Region, um die Machtverhältnisse wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Chris Parnell folgt mir bei allem was ich als Hai eben so haiiges anstelle. Während ich in die vielfältigen Tiefen des Ozeans vordringe, philosophiert er von meinem Speiseplan oder kommentiert, dass ich auch einfach mal Ruhe brauche wenn in meine Höhle verschwinde. Ich werde ständig von dem Team der Reality-Serie „Maneater“ verfolgt. Und von flüchtig eingespielten dramatischen Musikstücken, während ich auf den Strand robbe, meine Zähne in den nächstbesten Strandraver ramme und so die Protagonist_innen der Show auf den Plan rufe. In hektisch zusammengeschnittenen Einspielern werden sie von Chris als Hüter der Strandsicherheit eingeführt.

Furchtlose Fischer fischen frische Fische

Die Menschen bei Tripwire Interactive scheinen sich früher genau wie meine Familie und ich am übertriebenen Aktionismus der Meeres-Horrorstreifen amüsiert zu haben. Es ist eine wahre Freude der zielgerichteten Atmosphäre und den verängstigten Schreien zu lauschen während ich mich den Gefahrenzonen nähere. Die Vorfreude auf den Überraschungsangriff aufs nächste Schwantretboot mit anschwellender orchestraler Untermalung, sie steigt mit jedem verspeisten Menschen. Ich werde Partycrasher, Promenadenspaziergangsstörer und Ausflugsdampferuntergangsauslöser. Ich fresse, um Scaly Pete, den Mörder meiner Mutter zu fressen. Um Rache zu nehmen.
Und um das umzusetzen, hat sich Maneater einige, sagen wir mal, nicht so ganz natürliche Evolutionsmöglichkeiten für mich ausgedacht. Ob knöchriger, mit Stahl verstärkter Schutzpanzer, mächtige Kauleisten oder elektrisierte Flossen. Es ist vieles möglich. Immer wieder scheint der Wahnwitz der 80er Killermaschinen hindurch. Ist aber auch kein Wunder, schließlich schwimme ich zum Teil durch ehemalige Atomkraftwerke.

Die verschiedenen Areale, durch die ich mich fresse, werfen Gesellschaftskritiken auf. Maneater geht gekonnt auf den ignoranten Umgang der Menschen mit den Ozeanen ein. Einzig, du musst dir nur Zeit lassen genau diese Orte auch zu entdecken. Müll, Mutationen, leichtfertiger Umgang mit Küstenregionen, Tourismus und Hedonismus. All das ist Teil der so vielfältig gestalteten Welt. Vom verwaisten Flachwasserlandstrich, über ehemalige Spaßtempel, bis hin zu prächtigen Küstenregionen und der Tiefwasserregion. Tripwire teilen nicht nur die Liebe zum Hai und zum Horror-Trash, sondern auch die zum Lebensraum Ozean und seinen Bewohner_innen. Zudem verteilen sie neben den Hauptstory-Aufgaben und Nebenquests sogenannte Landmarks, die immer wieder pointiert die Gesellschaft kommentieren. Von absurden Eskapaden bis hin zu popkulturellen Ausflügen.

Maneater – aus Liebe zum Trash!

Auch wenn der Kampf nicht immer gänzlich hakelfrei vom Controller in die Reality Show übertragen wird und manches „Arrgh“ forciert, ich fresse mich in einen wahren Rausch. Und natürlich ist das repetitiv. Das ganze Leben eines Hais ist repetitiv. Haie fressen, schwimmen, fressen, chillen und fressen, um dann wieder noch mehr zu fressen. Du frisst Fische, Schildkröten, Barsche, Delphine, Wale und forderst andere Haie zum Kampf heraus. Und wenn es mal langweilig wird, frisst du halt ein paar Menschen, bis der nächste Wahnsinnige des Trash-Senders auftaucht. In seinem gesetzten Umfeld erwarte ich von Maneater keine blumenpott gewinnende Gameplay-Innovation. Tripwires ShaRkPG ist pure gewollte Trash-Unterhaltung. Das hier Erlebte nimmt das Rumgekloppe auf den Knöppen des Controllers bis zum aufgeschürfte Daumen in Kauf. Das reine rauslassen von Aggression ist hier völlig gewollt. Ich will in diesem Umfeld nur fressen und keine detektivischen Rätsel lösen.

Und genau das macht Maneater mit einem so angenehm leichtfüßigen Charme, dass es nicht nur dem ganzen B-Movie Horror an Ufernähe gerecht wird, sondern ebenfalls dem Lebensraum Meer und der bizarren Wirkungsweise von Reality Shows. Scharf beobachtetes und konsequentes Setzen von Pro- und Antagonist mit clever inszenierten Momenten und absolut humorvollen Auswüchsen. Tripwire erzeugen eine absolut kuriose TV-Show zwischen Naturdoku, Trash-TV und Gesellschaftskritik, die unterschwellig doch immer wieder offen lässt, wer hier eigentlich das Monster ist. Und das in einer so bewusst gestalteten Welt, die immer wieder auch für zauberhaft skurrile und schöne Momente sorgt.

Maneater ist der unbedarfte Spaß, den du damals des Nachts mit deiner Familie auf dem Sofa erlebt hast. Bei denen ihr vor überschäumenden Emotionen bei jedem abgefressenen Kopf und umherschwimmenden Torso in Lachanfällen fast ertrunken seid. Maneater kann diese Emotionen tragen, intensivieren und dich völlig in seiner von Hommagen, Verweisen und Zitaten angereicherten Welt aufnehmen. Du musst es nur zulassen.

9/10 🦈

Developer/Publisher: Tripwire Interactive
Genre: ShaRkPG, Action-RPG
Veröffentlichung: 22. Mai 2020 (Epic Games Store, PS4, Xbox One), 12. November 2020 (PS5, Xbox Series X|S), 25. Mai 2021 (Switch)

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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