Orwell’s Animal Farm | Weg vom Bildschirm

Spiele können dich in ihre Welt ziehen und auf lange Zeit beschäftigen. Orwell’s Animal Farm kann das auch… nur anders.

Videospiele lassen dich am Bildschirm kleben. Genau dafür wurden sie eigentlich mal erfunden. Um dich zu unterhalten. Inzwischen hat sich das aber geändert Wie bei allen anderen Medien unterhalten Spiele nicht mehr nur, sie können alle möglichen Arten von Emotionen, Gefühlen und Gedankenprozessen in Gang bringen. Du versinkst in der gestalteten Welt oder der Thematik. Nicht nur für die Zeit des Spielens, auch für die Zeit dazwischen und danach. Es ist wahrscheinlich der größtmögliche Erfolg, den ein Spiel erreichen kann, wenn dich ein Spiel dazu bringt, dich auch noch nach dem Genuss mit ihm zu beschäftigen. Ob jetzt in Form von aufgekommenen Fragen, die du noch einmal reflektieren möchtest, ob du mehr zum Artstyle erfahren willst und Verwandte suchst oder in behandelte Themen tiefer eindringst.

Im Normalfall ist das ein Zeichen dafür, dass das Spiel äußerst gut gewirkt hat. Dass du dich nach einer belanglosen bis schlechten Spielerfahrung noch einmal tiefer damit beschäftigen willst? Nahezu ausgeschlossen. Bloß weg! Vergessen scheint als Reaktion doch irgendwie passender. Du willst dich schnellstmöglich mit etwas anderem beschäftigen. Doch Orwell’s Animal Farm hat in mir einen Prozess gestartet, den ich so im letzten Jahr nicht mehr erwartet hatte. Nachdem ich Nerials Visual Novel auf Basis des gleichnamigen Romans von 1945 durchgespielt hatte, verspürte ich einen Drang, den ich schon fast verloren geglaubt hatte. Ich wollte genau dieses Buch noch einmal lesen. Mir George Orwells Fabel um den Stalinismus noch einmal im Original zu Gemüte führen.

Nein, tut mir leid, keine Zeit!

Neun Monate hatte ich kein Buch mehr in der Hand. Und wenn, dann habe ich es nach drei Minuten wieder weggelegt weil ich mich kaum noch an den kurz vorher gelesenen Satz erinnern konnte. Zu ungeduldig war mein Kopf, konnte er sich doch jetzt nicht nur einer Sache widmen wo 100 andere gleichwichtige Themen um die Beachtungsvorherrschaft kämpften.
Sach ma, watt essen wir eigentlich gleich? Hast du schon darüber nachgedacht wo wir das AddBlue herbekommen? Was sagst du eigentlich dazu, dass Trump die Zählungen stoppen will? Ne Runde Fahrradfahren? Boa, kumma der Fleck hier! Hee, ein Kaninchen, watt putzig! Weißt du eigentlich, dass deine Oma tot ist? Wollten wir nicht noch die letzten Pandemienachrichten im Liveblog lesen? Lieber Kekse oder doch noch nen Keesebrot? Boa, Kino wär geil oder? Ist das eigentlich immer noch zu?

Was mein Kopf wie ein Informationskrake auf Speed seit März vermieden hatte, schaffte plötzlich Orwell’s Animal Farm. Immerzu sagte es mir: „mach den Computer aus, setz dich aufs Sofa und lies bitte dieses Buch. Ich sorge für das passende Ambiente.“ Und das tat ich! Ich las Animal Farm seltsam konzentriert einfach innerhalb von wenigen Tagen durch. Und nicht nur das. Ich bekam urplötzlich Heißhunger auf englische Klassiker. Und so durchwühlte ich den Onlineshop meines Tablets nach weiterem Futter. Ich lud Moby Dick, Dracula und The Adventures of Huckleberry Finn herunter, las H.G. Wells Sci-Fi Klassiker The Time Machine und einen Tag später startete ich Jack Londons The Call of the Wild. Den ganzen Urlaub hielt diese Sucht. Innerhalb von drei Wochen hatte ich sieben Bücher und Comics geradezu verschluckt. Ganz so, als hätte mein Körper eine Mangelerscheinung des Buchkonsums ausgemacht und jegliche Störfelder abgestellt.

Orwell’s Animal Farm, auch 80 Jahre später noch immer am Besten in Buchform

Und so ganz kann ich dieses Phänomen noch immer nicht greifen. Es ist zudem der Grund, warum ich erst über einen Monat später an einem Text zu Orwell’s Animal Farm sitze. Ich hatte nie das Gefühl ich würde dem Ganzen in irgendeiner Weise gerecht werden. Zu sehr mochte ich das Design der Geschichte über den Animalismus, zu sehr die beruhigende Stimme des Erzählers. Und doch, möglichst schnell wollte ich den holprigen, fast schon belanglosen Verlauf der Erzählung vergessen. In der ich niemals eine Ahnung hatte, welche Aktionen jetzt zu welchen Entwicklungen führten. Eine Visual Novel, in der meine Entscheidungen eher zur Verwässerung der Geschichte beitragen, sich die letzten Jahre nur noch wiederholen und totgeglaubte Tiere wieder einen schmissigen Satz schmettern können oder gleich als festes Mitglied in der Animal Farm aufgenommen werden sollen.

Ich hatte überhaupt keine Ahnung mehr, was mir Buch und Film damals mitgegeben hatten. Ich musste es noch einmal erleben. Und mein Kopf stellte mir tatsächlich jede noch verfügbare Ressource dafür bereit. Danke Kopf! Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass ich diese lineare, unveränderbare Geschichte von Goerge Orwell noch einmal brauchte, um die vorangegangene unbefriedigende Erfahrung zu überschreiben. Sie irgendwie doch noch mit Sinn zu füllen. „Wenn jeder das machen könnte was er wollte, wer könne dann garantieren, dass auch wirklich das Richtige getan wird?“ heißt es in dem Buch. Ein bisschen glaube ich sogar, dass sich das Spiel dieses durchblitzen eines anfänglichen Machtregimes zu eigen hätte machen sollen. Lineare Erzählung statt undurchsichtiger, verwässernder freier Entscheidung. Am Ende kann ich Orwell’s Animal Farm aber nicht einmal böse sein. Ich bin Nerial sogar unglaublich dankbar, dass sie mich weg vom Bildschirm ins Buch getrieben haben.

Developer: Nerial
Publisher: The Dairymen
Genre: Visual Novel
Veröffentlichung: 10. Dezember 2020 (Steam, Epic Games Store, Android, iOS)

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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