Svoboda 1945: Liberation Review | von tiefen Wunden und persönlichen Perspektiven

Svoboda 1945: Liberation zeigt exemplarisch, dass historische Ereignisse spielend erlebbar gemacht werden können.

Ich beschäftige mich sehr gerne mit Geschichte. Blöderweise hat mir das damals in der Schule nie geholfen. Das starre lernen von Daten und Ereignissen war für mich so abstrakt wie chemische Zusammensetzungen pauken. Ich konnte einfach keinen Bezug zum historischen Geschehen herstellen. Erst über Dokumentationen zur jüngeren Zeitgeschichte ab der Industrialisierung konnte ich langsam einen Draht und ein ernsthaftes Interesse herstellen. Immer mehr recherchierte ich auch lokale Zusammenhänge. Besonders geprägt hat mich jedoch der spätere Austausch mit meinen Omas und das Interesse an unseren familiären Strukturen. In ihren Erinnerungen fühlte sich alles vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich unglaublich nah an. Historische Ereignisse eingebettet in persönliche Geschichten, die ich niemals vergessen werde. Auf dieser Basis ist eine weiterreichende Beschäftigung mit der Thematik um ein Vielfaches einfacher.

Diese Zeitzeug_innen gehen uns jedoch allesamt langsam verloren, weswegen wir andere Wege finden müssen, um historische Geschehnisse auf eine einfache, nachvollziehbare Art transportieren zu können. Auch wenn ich hoffe, dass Geschichtslehrer_innen über 20 Jahre nach meinem Schulaufenthalt inzwischen einen besseren Job machen, sind es vor allem Medien, die Geschichten von Zeitzeug_innen auf einer persönlichen Ebene an dich herantragen können. Charles Games aus Tschechien beherrschen diese Art des Geschichtstransports wie kaum ein anderes Studio. Vor allem, weil sie Ereignisse in den Mittepunkt rücken, die in der großen Betrachtung oftmals untergehen. In meiner Familie gibt es unzählige Geschichten über Flucht und Vertreibung. Unsere Ursprünge ziehen sich mit den damaligen Gebieten aus Ostpreußen, Schlesien und dem Sudetenland nahezu durch den kompletten osteuropäischen Raum. In einem kleinen Dorf an der deutsch-tschechischen Grenze erzählt auch Svoboda 1945: Liberation seine persönliche Geschichte über Besetzung, Vertreibung, Kollektivierung und die weitreichenden Wunden, die aus diesen Thematiken entstanden sind.

Historisch wertvolles Kulturgut oder baufällige Ruine?

Was für das kollektive Gedächtnis eventuell von unschätzbaren Wert scheint konserviert zu werden, ist für jemanden individuell gar ein Schreckensgespenst. Mit meinen Opas konnte ich zum Beispiel nie über ihre Perspektiven reden. Nicht nur, weil sie viel zu früh gestorben sind, sondern gerade weil ich aus späteren Erzählungen erfahren konnte, dass für ihr psychisches Seelenheil das Schweigen die selbstgewählte bessere Option war. Und genau hier hakt auch Svoboda 1945: Liberation ein und schickt dich als Historiker um das Jahr 2000 in das tschechische Örtchen Svoboda. Dort steht eine Schule, die wohl immer wieder Mittelpunkt der Ereignisse zur Naziherrschaft, zur Befreiung, zur Vertreibung der Deutschen und zur kommunistischen Kollektivierung der Sowjetunion war. Genau du sollst also jetzt entscheiden, ob sie historischen Wert besitzt und als Denkmal erhalten bleiben soll oder abgerissen werden kann.

Genau hier zeigt sich in der Folge, wie zerrissen dieses tschechische Dorf nahe der Grenze zu Deutschland von den historischen Ereignissen noch immer ist. Wie sich Sichtweisen und Perspektiven unterscheiden. Was sich schon aus der Neutralität heraus als schwierige Entscheidung entpuppt, wird mit deiner ersten Begutachtung des Gebäudes noch einmal schwammiger. Charles Games wären eben nicht Charles Games, wenn sie dich nicht ein altes Bild deines Opas hier finden lassen würden. Adieu Neutralität. Ab jetzt recherchierst du nicht nur die Bedeutung, sondern auch die Involvierung deines Opas kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit Schweißperlen auf der Stirn, was dieser Fund denn nur zu bedeuten hat. Über interaktive Filmsequenzen befragst du die Bewohner_innen nicht nur zu ihrer Sicht auf die alte Schule und warum sie (nicht) erhaltenswert scheint, sondern versuchst auch mehr Hinweise zu deinem Opa zu erhalten. Gar nicht mal so einfach, wenn ihn kaum jemand zu kennen scheint.

Svoboda 1945: Liberation involviert dich durch einfache Minigames und intensive Dialoge

Charles Games integrieren nach Attentat 1942 abermals weitreichende Diologoptionen in authentisch wirkenden Interviewabschnitte über ihre eigens entwickelte Charles Engine. Nur durch sehr sensibel gesetzte Fragestellungen gelangst du hier auch wirklich an die gewollten Informationen. Denn nicht alle sind dem Thema so wohlgesonnen, wie der freundliche Hobbyhistoriker der Stadt, der natürlich ein Interesse daran hat, die Schule zu erhalten. Der Landwirt, der hauptsächlich für den Abriss ist, will von deiner unnötigen Recherche nichts wissen und versucht dich stets abzuwimmeln. Wunden heilen individuell oder nie. Doch hast du einmal einen Weg gefunden, eine Basis für deine Fragestellungen aufzubauen, rücken die Bewohner_innen von Svoboda mit Erinnerungen und Geschichten heraus. Schaffst du dies nicht, kann das Ende der Erfahrung ganz schön abrupt erscheinen. Dennoch entfaltet das Narrative genau hier seine größtmögliche Kraft.

Zur emotionalen Erzählung der Portagonist_innen gesellen sich in der Bebilderung seltene historische Bildaufnahmen. Erzählte Thematiken werden zu wundervoll animierten schwarz/weiß Comics, Erläuterungen der Umstände zu Minispielen. Wenn du in Gesprächen davon erfährst, dass Deutsche zur Deportation nur wenige erlaubte Gegenstände und Kleidung mitnehmen durften und diesen Moment im Anschluss innerhalb eines Entscheidungsspiel erlebst, trägt das erheblich zur Erlebbarkeit bei. Kleine Farmingspielchen erläutern das System des Kommunismus, den Zwang zur Kollektivierung einzugehen, andernfalls wird dein landwirtschaftlicher Betrieb schneller mit Strafzöllen belegt, als du Korn ernten kannst. Bei einer Runde Karten werden ganz nebenbei die Strukturen zu den Wahlen des Bürgermeisters erläutert. Welche Interessen vertreten und welche Konsequenzen zu befürchten waren, erfährst du hier spielerisch. Ereignisse verharren an prägnanter Stelle im Kopf. Das Nachlesen von Begriffen ist möglich. Durch einfache Involvierung lernt es sich am besten.

Noch immer nicht verheilte Wunden werden in Svoboda 1945: Liberation sichtbar

So werden durch eine intensive, persönliche Narrative Themen eingeflochten, die oft nur am Rande stattfinden. Denn das namensgebende Dörfchen in Svoboda 1945: Liberation ist durchzogen von unterschiedlichen Geschichten, die doch alle eine Gemeinsamkeit besitzen. Das Gefühl Zuhause zu sein, wurde hier anscheinend allen genommen. Sei es zur Naziherrschaft, nach der Befreiung, in der die Hoffnung aufkam eine Republik errichten zu können, die unmittelbare Vertreibung der Deutschen, die Einnahme des Landes durch die Sowjetunion oder der spätere Umgang mit diesen Thematiken. Nach dem unsäglichen Leid des Zweiten Weltkriegs folgte hier nur weiteres Leid und massive Konflikte.

Die Menschen blieben dieselben, die Bezeichnungen für sie wurden andere. Aus Juden und Antifaschisten wurden Deutsche, aus Tschechen wurden Sozialdemokraten. Stigmatisierungen, die Enteignung und Vertreibung aus der Heimat zur Folge hatten. Die zum Teil, wie auch im Zweiten Weltkrieg, mit Arbeitslager oder dem Tod endeten. Neue Menschen zogen in alte Häuser. Der Konflikt blieb der Gleiche. Ist eine Gebäude, das für so viele Menschen etwas anderes bedeutet tatsächlich erhaltenswert? Charles Games erzählt diese Geschichten mit einer ausgereiften Sensibilität, die sich nicht auf eine Seite schlägt, sondern die Schicksale und Auswirkungen für alle involvierten Menschen der Region thematisiert und zeigt. Und das mit einer Intensität, die Abseits von Videospielen nur sehr selten erreicht wird. Die losen Strukturen meines Familienstammbaums reichen noch heute bis zu entfernten Verwandten in Polen. Sie alle besitzen ihre eigenen Geschichten.

Ein Zeitzeuge für die Ewigkeit!

Wie es dazu kam, dass ein Teil der Familie in ganz Deutschland verteilt landete, andere in der osteuropäischen Region geblieben sind und wieder andere diese Konflikte nicht überlebten, das beruht auf klitzekleinen Entscheidungen aller Beteiligten mit weitreichenden Auswirkungen. Sie alle müssen mit ihnen leben, genau wie die Menschen im Spiel. Svoboda 1945: Liberation wurde in Zusammenarbeit mit vielen Historiker_innen und Zeitzeug_innen erschaffen. Charles Games Nachkriegsdrama an der deutsch-tschechischen Grenze steht stellvertretend für all diese Geschichten. Als konservierter Zeitzeuge und Felsen der Erinnerungskultur. Für all diejenigen, die ihre Geschichten nicht erzählen konnten. Ein Versuch der Annäherung in einem komplexen Konflikt.

Wie immer vergeben wir, bei dieser Art der ernsthaften Thematik aus Respekt vor den Opfern des Holocaust, während und in der Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg, keine Wertung. Wie wertvoll die Beschäftigung mit Svoboda 1945: Liberation ist, liest du ausführlich im Artikel.

Developer/Publisher: Charles Games
Genre: Serious Game, Narrative, FMV, Animierter Comic
Auszeichnungen: Best Narrative Direction (Megamigs 2020 Finalist), Social Impact (Megamigs 2020 Finalist), BIG Impact Award: Best Social Matters Game (BIG Festival 2021)
Veröffentlichung: 3. August 2021 (Steam)


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Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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