Es ist Ende August und du merkst, dass irgendetwas anders ist. Alle sind akribisch und wuselig. Eine kribbelige Zeit, voller Mystik und Spannung. Überall hängen bunte Fähnchen, die Gehwege werden von Unkraut und den letzten Kieselsteinchen befreit.
Es werden Schilder aufgestellt, wo sonst keine Schilder stehen. Es passiert was in der Stadt, greifbar nah, verbreitet Aufregung wohin du schaust. Ja, die Aufregung wohnt in dir. Sie hat dich besetzt. Nun nervst du alle mit deiner hibbeligen Art. Und plötzlich hörst du ein tiefes brummen. Ist es das, was sie dir erzählt haben? Ist es das? Du rennst zum Fenster und ziehst dich voller Vorfreude und Mut an der Heizung hoch um die Fensterbank zu erreichen. Deine Hände zittern, aber du schaffst es. Die Anspannung in deinem Körper erreicht ihren Höhepunkt. Wäre das Fenster noch weiter oben, du hättest es nicht geschafft. Nun drückst du Hände und Nase am kalten Glas platt und versuchst die Straße in deinen Blickwinkel zu rücken. Es ist noch schöner als du es dir von den Erzählungen hast vorstellen können. Bunter, größer, eindrucksvoller. Sie kommen langsam die Straße rauf. Jeden Meter verfolgst du aufmerksam. Du vergisst sogar zu blinzeln. Augen und Mund weit aufgerissen. Dein Herz wird kalt. Sie kommen nicht alleine. Einer nach dem Anderen biegen sie in die kleine Seitengasse, gegenüber deines Hauses, ein. Die Helden aus den Erzählungen sind da. Vor deinen Augen. Du kannst es nicht glauben. Die Kirmesautos kommen! Darum hast du gekämpft, Wochen lang. Du wolltest länger aufbleiben. Du wolltest endlich sehen was passiert. Du hast es geschafft. Der Augenblick auf den du hingearbeitet hast, er ist da.
Die nächsten Tage bist du damit beschäftigt, zu dokumentieren, wie schnell die Aufbauarbeiten voran gehen. Kein Status darf dir entgehen. Ein täglicher Rundgang, auf den langsam bunter werdenden Straßen der Innenstadt, mutiert zum Pflichtprogramm. Für dich, für deine Familie und den gesamten Tagessprachgebrauch. Andere Themen verschwinden mit niedrigster Priorität in den Weiten der wehenden Wüstenbällchen. Nicht auszudenken wenn du den Moment verpassen würdest, in dem das Riesenrad seine halbrunden Gondeln angehängt bekommt. Alles braucht deine volle Aufmerksamkeit bis jede Schraube angezogen, jedes Schild aufgestellt ist und alle bunten Lichtchen im Takt der Musik blinken, laufen und leuchten. Und dann sind sie fertig. Das Entdeckungsparadies steht dir und deinem Expeditionsteam, für die nächsten vier Tage, ohne Einschränkungen zur Verfügung. Alles muss ausprobiert werden. Jedes Feuerwehrauto, jeder Rennwagen, jedes Flugzeug, jedes Pferd, die Tasse, Popcorn und Pommes. Du musst unbedingt dieses Nilpferd haben und den Großen beim schreien zusehen. Doch ein Tabu gibt es! Niemals, wirklich niemals würdest du in das Polizei Auto einsteigen. Lieber verschränkst du die Arme, stellst dich Stur und wartest die nächste Runde ab. Du musst Mittags hin, weil es leer ist und man viel schneller die gedankliche To-Do-Liste abarbeiten kann. Du musst Abends hin, wenigstens einmal, um das Farbenspektakel nicht zu verpassen und aus nächster Nähe betrachten zu können. Du musst, mindestens einmal, einen kompletten Durchgang jedes vorhandenen Karussells begutachten. Einen Tag diesem übergroßen Spielplatz fernbleiben? Du spürst eine Erschütterung der Macht! Unmöglich diesen Ausnahmefall als Option in dein Gedankenspiel mit einzubinden.
Und nun? Wo ist diese Spannung hin, diese unbändige Aufregung? Dieses Wissen, es passiert etwas einmaliges? 25 Jahre später ist das einmalige Treiben zur Belanglosigkeit verkommen. Das Einzige, was dir ein schmunzeln ins Gesicht zaubert ist, nach wie vor, der erste Kirmeswagen den du zu Gesicht bekommst. Alles andere überschattet von aggressiven, wenig umsichtigen und ignoranten Menschen. Das Highlight besteht darin, in fünf Tagen so viele alkoholische Getränke wie nur irgend Möglich in sich aufzunehmen und im körpereigenen Schnapsladen zu lagern. Eskalation unter dem Stützpfeiler der Tradition. Weil es immer so war! Schalten wir den Verstand aus und pöbeln uns durch die Mitte der Gesellschaft. Es geht nicht darum, mit alten und/oder neuen Freunden ein paar schöne Stunden zu verbringen, sondern ihnen zu zeigen, wie toll du geworden bist, was du hast und welchen Status du besitzt. Wer am längsten steht, hat die beste Geschichte für nachkommende Generationen. Noch immer magst du es, dass du das Wissen hast, es passiert etwas. Der Unterschied? Du musst es nicht mitbekommen! Aus sicherer Entfernung sieht das Farbenspiel des ehemaligen Expeditionsfeldes viel netter und beruhigender aus. Entschleunigung für deine Seele und die Entdeckung der Ruhe auf dem einsamen grünen dunklen Hügel. It will never get as exciting as in a childs mind. (WDDH exclusive)
Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.