Genesis Noir Review | Die Welt ist nicht genug

Die Bühne von Genesis Noir braucht Raum. Inmitten unseres Kosmos entfaltet sich ein noiriges, psychedelisches Schauspiel.

Manchmal passiert es. Da lassen dich Erlebnisse einfach völlig sprachlos zurück. Keine Ahnung davon, was du mit dem Erlebten überhaupt anfangen sollst. Du liegst also da, versuchst das Ganze irgendwie einzuordnen, denkst an all das, was du bereits weißt und findest doch keinen Ansatz. Wider dem Redaktionsplan, verschaffst du dir Zeit, schiebst den ganzen Bums einfach nach hinten. Irgendwann wird schon der richtige Einstieg kommen. Die Zeit heilt alle Wunden oder so ähnlich? Heilt sie auch völlige Planlosigkeit? Wann wäre der Zeitpunkt gekommen und wird dir dann per Push-Nachricht mit Pflaster-Emoji der Erfolg mitgeteilt? Musst du von all dem überhaupt einen Plan haben?

Was hat Genesis Noir nur mit dir angerichtet? Dich völlig skrupellos mit der schieren Kraft aus endlos schwarzen Flächen, den feinen weißen Linien, den Goldakzenten und dem dezenten Spiel aus Licht und Schatten verschluckt und ganze fünf Stunden später einfach wieder so ausgespuckt. Zerkaut, völlig entkräftet, Ahnungslos und doch irgendwie glücklich. So viele Bilder zu verarbeiten, so viel Bekanntes einzuordnen und doch, genauso muss sich Neil Armstrong nach dem berüchtigten ersten Schritt auf dem Mond gefühlt haben. Die Auswirkungen von Feral Cat Dens kosmischem Abenteuer, nicht minder nachhaltig als die des Urknalls.

Genesis Noir bedroht nicht weniger als unsere Existenz

Du gehst also an den Ort zurück, an dem die Welt noch die war, die du greifen konntest. Zumindest ansatzweise. Du musst zurück zum Ursprung der Geschichte. Und die begann doch eigentlich recht banal. Der Uhrenverkäufer No Man jedenfalls scheint sich unwissentlich in einer Dreiecksbeziehung zu befinden. Offenbar genauso wie sein Counterpart, der Künstler Golden Boy. Als es zur Konfrontation kommt, fällt aus Eifersucht ein Schuss auf die involvierte Dritte, Miss Mass.
Es ist also eigentlich ganz einfach, verhindere diesen Schuss und rette die Liebe deines Lebens. Halt, halt, halt! Du spulst weitere eineinhalb Jahre zurück. Zurück in das Jahr 2019, wo du im Sommer bereits über diese eine Inspirationsquelle geschrieben hattest. Italo Calvinos Cosmicomics. Die Sammlung von poetischen Kurzgeschichten besitzt ein kleines Detail, das alle Erzählungen miteinander verbindet. Sie alle nehmen sich einen wissenschaftlichen Fakt, um diesen herum fiktive Geschichten erzählt werden.

Calvino erzählt von greifbaren, fast alltäglichen Dingen und pflanzt sie in ein für viele komplexes und schwer nachvollziehbares Feld der Wissenschaft. Abstrakte Fakten werden greifbar. Ohne Cosmicomics wäre Genesis Noir vermutlich nie entstanden. Developer Feral Cat Den befasste sich also mit der Frage, wie sähen die Motive Calvinos aus, wenn wir sie in einer interaktiven Erzählung im Film Noir Stil erzählen würden. Und an diesem Punkt steigst du wieder in deine imaginäre Zeitmaschine und braust zurück ins Jetzt. Denn dieser Schuss, den Golden Boy auf Miss Mass abfeuert, ist nicht nur der Schuss, der No Mans Liebe des Lebens töten soll, sondern der Urknall, in dessen Folge die Ausdehnung des Universums und unseres Lebensraumes Erde das Leben der Gottheit Miss Mass bedroht. Der Protagonist der Geschichte will nicht weniger als deine und unser aller Existenz auslöschen.

„Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“

Puh, einmal durchatmen, weiter im Text: No Man begibt sich also auf die Suche durchs Universum in Raum und Zeit, um Hinweise zur Möglichkeit der Auslöschung zu finden. Oder aus seiner Sicht, Anhaltspunkte zur Verhinderung des Mordes an seiner Liebsten. Also hält der Uhrenverkäufer in Machermanier die Zeit und damit den tödlichen Schuss an, um sich einen Puffer zur Erforschung des sich neu ausdehnenden Universums zu verschaffen. Über Portale innerhalb der Schallwelle hüpft er in verschiedene Szenarien und begegnet fortan der Entstehung unseres Universums. Genau in diesen Szenen nutzt Genesis Noir seine Unendlichkeit, um per generativer Kunst den Rahmen unser aller bekannten Point-and-Click Mechaniken endgültig zu sprengen. Durch simple Interaktionen verschmilzt du mit der von dir erzeugten Kunst und der damit verbundenen Musik. Ein psychedelischer Sog, aus dessen Universum du dich nicht mal nach dem Ende des Abspanns befreien kannst.

Während No Man die Schönheiten und die Gräueltaten unserer Welt betrachtet, schmachtest du den cleveren Kamerafahrten hinterher, den Schwenks und den Zooms. Immer verfolgt vom absolut reduzierten Noir Style, der mit seiner zwielichtigen Ader sein detektivisches Treiben entfacht. Doch so simpel der Look aus drei Farben mit den übermächtig scheinenden schwarzen Flächen aussehen mag. Exakte Ebenbilder der Welt auf den Spiegelbildern des regendurchtränkten Asphalts offenbaren weitaus größere Komplexität, als der flüchtige Blick preisgeben will. Genesis Noir ist eines der herausragendsten Kunstwerke, das du jemals interaktiv erkundschaften durftest. Eines, in dem jedes Element exakt ineinandergreift, um die Gesamttonalität zu verstärken. Und das ist eine Geschichte, um Verlust und Betrug inmitten der Ausdehnung unseres Universums, entlang erzählt an wissenschaftlichen Fakten.

Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter

Inspirationen aus Italo Calvinos Cosmicomics, dem Puzzler Windosill, dem Developer Amanita Design, dem Komponisten Sun Ra, dem Dichter William Blake und der deutschen Band Alphaville. Wie bekommst du sie alle gemeinsam in eine Welt gestopft? Eine Welt, die auch noch so abartig gut funktioniert? Die Antwort darauf ist ziemlich einfach: Gar nicht! Die Welt ist für Genesis Noir nicht genug. Die Ausdehnung des Universums ist unendlich. Und genauso fühlt es sich an. Als würde sich die Entstehung von Materie, Raum und Zeit inmitten deines Kopfes entfalten. Das Platzangebot für die Verarbeitung derartiger Informationen um ein vielfaches zu gering. Das Ausmaß und der Raum der Erzählung einfach viel zu groß für einen irdisch kleinen Kopf.

Und trotz technischer Schwierigkeiten, die ich auf meinem PC gegen Ende der Erzählung erfahren habe, wenn selbst die Unendlichkeit für die dargestellte Kunst nicht mehr auszureichen scheint. Ich hatte das unmittelbare Gefühl diesen Trip gleich wieder bestreiten zu wollen. Wie nach einem Teller voller Waffeln mit Sahne, der durch die Bauchdecke zu drücken droht, dessen Geruch dich dennoch dazu antreibt einen weiteren in dich hineinzustopfen. Im Falle von Genesis Noir war ich aber einfach zu leer, völlig entkräftet. Nicht mehr im Stande das Erlebte noch einmal durchzumachen. Und doch, es sei dir garantiert. Sobald hier die letzte Taste und damit das letzte Wort getippt sein wird, werde ich die erste sein, die erneut den Urknall zu verhindern versucht. Solange, bis dieses einzigartige Kunstwerk auch meinen Planeten hinter meiner Schädeldecke in seine Einzelteile zerlegt hat.

9/10 🌌 🕵️‍♂️

Developer: Feral Cat Dan
Publisher: Fellow Traveller
Genre: Narrative Adventure
Team: Evan Anthony (Creative Lead), Jeremy Abel (Technical Lead), Skillbard (Sound Design)
Musik: Tom Carrell, Vincent Oliver
Auszeichnungen: 1st Place (NYS Game Dev Challenge 2017), Auswahl Die besten Indie Games der gamescom 2019 (Welcome To Last Week), International Innovation (London Game Festival 2021)
Veröffentlichung: 26. März 2021 (Steam, Epic Games Store, GOG, Humble Store, Xbox Series X|S, Xbox One, Switch)

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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