Moons of Madness Review | Mit Anlauf in den Wahnsinn

Moons of Madness ist Cosmicism in reinform. Ein Stück Weltraumeinsamkeit im psychologischen Horror.

Zugegeben, es ist nicht die beste Idee jemanden allein auf einer Mars-Forschungsbasis zurückzulassen. Die psychische Gesundheit lässt grüßen. Schon in Duncan Jones Film Moon“ konntest du erleben wohin das letztendlich führt. Und auch Techniker Shane hat in Moons of Madness arg zu knabbern an der völligen Isolation weit weg von seinem Heimatplaneten.

Seit geraumer Zeit verfolgen ihn Albträume, in denen er vor phantastischen Wesen flüchtet. Doch als er zu einer technischen Störung innerhalb der Station aufbricht, begegnet ihm auch dort unbeschreibliches. Die Grenzen zwischen Realität und Albtraum scheinen zu verschwimmen. Was ist hier real? Was entspringt seinen vereinsamten Gehirnzellen? Zusehends weißt auch du nicht mehr so recht zu unterscheiden und rennst mit Anlauf in den Wahnsinn.

HP Lovecrafts deutliche Handschrift in Moons of Madness

Rock Pocket Games kosmischer Horror Moons of Madness wandelt auf den Pfaden des Schriftstellers H.P. Lovecraft und seinem bedeutenden Schaffen in der phantastischen Horrorliteratur. Unmittelbar wirst du in der Ich-Perspektive in das Empfinden des Protagonisten Shane hineingeworfen. Schon in den ersten Sekunden wird klar, dass hier nur eines sicher ist. Gar nichts!

Das Entwicklerstudio aus Norwegen verknüpft subtilen außerirdischen Horror mit psychologischen Folgen der Isolation, der Einsamkeit und verbindet sie mit hoch philosophischen Fragen in einem Hard Science-Fiction Szenario. Ganz nach dem Vorbild von Lovecrafts Cosmicsm geben sie sich dem kafkaesken Einbrechen des übermächtigen Fremden in das Leben eines gewöhnlichen Menschen hin. Konfrontation, Überforderung und Hilflosigkeit treffen auf eine Welt voller Angst, Paranoia, Verschwörung und Wahnsinn.

Das Eindringen des unmöglich scheinenden trifft Shane völlig unvorbereitet und machtlos in seinem eigentlich routinemäßigen Marsstationsalltag. Unbewaffnet und ausgeliefert, bleibt ihm zumeist nur der überhastete Rückzug. Es zieht ihn tiefer in eine ausbalancierte und vielschichtige Erzählung, die immer ihn und sein aktuelles Empfinden ins Zentrum der Aktion rückt.

Übernimmt der erlebte Horror dein Gehirn oder dein Gehirn den erlebten Horror?

Doch wovor flüchtet Shane eigentlich? Vor der Realität oder vor einem Konstrukt seiner angekratzten Psyche? Was sich auf erzählerische Weise so perfekt als Fundament in Moons of Madness ausbreitet, findet in seiner visuellen Gestaltung seine Fortsetzung. Der Horror ist nicht nur storytechnisch greifbar, sondern zu jeder Zeit sicht- und fühlbar. Ob in ruhigen Phasen der Einsamkeit trotzend zum Anfang des psychologischen Horrors oder in hektischen Phasen des bedrohlich Übernatürlichen. Rock Pocket Games finden ihr eigenes Tempo zwischen Weltraumeinsamkeit und klassischem außerirdischen Horror.

Dabei wechseln sich hoch technologisierte, sterile Farbgebungen im inneren mit der sandigen, vernebelten Einöde der Marsbeschaffenheit ab. Oft werden maximale Bedrohungen in Schatten versteckt oder dessen Auswirkungen auf die Raumstation gezeigt. Das Surreale trifft auf das Reale und umgekehrt. Viele kleine Hinweise in Emails, detailreiche Ausarbeitungen der Umgebung, Briefe und Broschüren verschaffen über die gesamte Zeit einen gefestigteren Einblick in die Welt von Moons of Madness, in die Eigenheiten der Raumstation und in Shanes Vergangenheit.
Nur selten arbeiten die Entwickler_innen mit plumpen Jump-Scares. Sie setzen eher auf unterschwellige, permanente Bedrohung in ihrer Atmosphäre und nutzen das einfache Tool der Offensichtlichkeit. Was bedrohlich und übermächtig erscheint, sorgt zwangsweise für in die Hand genommene Füße und schaurige Momente.

Angst macht das, was du nicht sehen, nicht begreifen kannst!

Wo Einsamkeit 77 Millionen Meilen von Zuhause entfernt, ohne Aussicht auf Tageslicht, schon allein völlig kirre macht, braucht es nur noch ein wenig stimmungsvolles Sounddesign, um dich auch schon ohne visuelle Begleitung in die Sinnestäuschung zu treiben. Schon während der ruhigeren Phasen von Moons of Madness verfolgen dich beim Gang durch die von Wasserdampf und Nebelrauschen durchzogene Raumstation immer wieder auch Paranoia und Angst. Rock Pocket Games basteln ein immersives Ambiente aus Stille und Hall. Auf den Punkt genau mit dramatisierender oder begleitender Töne und spacigen Melodien unterlegt.

Sie spielen mit deiner durch Jump-Scares befeuerten Konditionierung, bei der du hinter jedem Aussetzen der Musik und jedem Türöffnen die nächste Bedrohung vor dir vermutest. Doch sie zügeln ihre Durchschaubarkeit und knacken deine Angst viel, viel subtiler. Dabei sind wissenschaftliche Szenerien und Landschaften so faszinierend gestaltet, dass du dich eigentlich noch ein wenig länger umsehen magst. Immer unterlegt von fantastischen Selbstgesprächen, Funksprüchen und Stimmen ungewissen Ursprungs.
Immer drängt dich dieses Gefühl auf keine Zeit mehr zu haben, schutzlos ausgeliefert zu sein. So gehst du technische Herausforderungen, clevere Rätsel und deren Lösungswege zumeist eher überhastet an. Du übernimmst die Züge derer, die du als passiv betrachtende Person in Medien immer und immer wieder anzweifelst. Die nicht sichtbare Bedrohung treibt dich zu unbedachten Aktionen. Treffer versenkt!

Ein Lovecraft-Liebesbrief in Videospielform.

Rock Pocket Games erschaffen ein faszinierendes Erlebnis voller Horror und Zweifel. Ständig werden Ebenen des Offensichtlichen mit Halluzinationen und Paranoia vermengt. Was hier real ist, scheint in seinem Erleben durchgehend nie wirklich greifbar. Genau das zeichnet den eigentlichen Gruselfaktor von Moons of Madness aus. Ganz nach dem Vorbild des Schriftstellers H.P. Lovecraft wandelt der Protagonist auf der Schwelle zum Wahnsinn. Getrieben vom wahrhaften Schrecken der Ereignisse. Ob nun real oder nicht, die Formel wirkt in seiner Gesamtheit so prägnant, dass du dann und wann doch mal eine Verschnaufpause für deine Psyche einlegst.

Die Gestaltung von Planetenlandschaften, wissenschaftlichen Einrichtungen, phantastischen Kreaturen und außerirdischen Objekten zieht dich weiter in diesen Strudel aus Ungewissheit, Bedrohung und Machtlosigkeit. Die üppige Beschallung entfaltet ihre gänzliche Kraft über deine 7.1 Anlage. Selten war Lovecraft Horror in Videospielen greifbarer. Selten kam die Formel des Cosmicisms so überzeugend zum Zuge. Da verzeihst du Moons of Madness durchaus den ein oder anderen plumpen Versuch in Gameplay oder Schocker. Denn zumeist ist auch ersteres äußerst stimmig in die Erzählung eingewoben, ohne reine Beschäftigungstherapien zu integrieren. Hier fördert jede Aufgabe auch den Erzählstrang.

Moons of Madness nimmt sich Raum zum Atmen für Atmosphäre und Storyentwicklung. Es steigert seine Intensität im ruhigen Aufbau der Spannungskurve, damit es in den wirklich schockierenden Momenten rücksichtslos zupacken kann. Rock Pocket Games kosmischer Horror spielt mit seiner schwammigen Ebene, um auch dich aufweichen zu können. Dein Weg ist vorgezeichnet, wie das Schicksal der Lovecraft Protagonist_innen. Der Hilflosigkeit völlig ausgeliefert, den Atem der Angst ständig auf deinen Nackenhaaren spürend. Das Erschreckendste bringt immer noch dein Hirn zu Tage. Mit Anlauf in den Wahnsinn.

8/10 <3

Developer: Rock Pocket Games
Publisher: Funcom
Genre: First-Person, Horror, Psycho-Horror, Sci-Fi
Motion-Sickness Hinweis: Moons of Madness bietet verschiedene Einstellungen, um Auswirkungen wie Übelkeit zu reduzieren. Im Spieldurchgang waren diese bei mir als anfällige Person sehr hilfreich.
Auszeichnungen: Best of 2019 (Beat it First), Unreal Underdog Nominee (Unreal E3 Awards 2019), Best of E3 2019 Nominee (TechRaptor)
Veröffentlichung: 22. Oktober 2019 (Steam), 24. März 2020 (PS4, Xbox One)

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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