Mosaic Review | Auf den Spuren von Metropolis

Knapp 100 Jahre nach Metropolis erschafft Krillbite Studio mit Mosaic eine interaktive Version um Ausbeutung und Isolation. Eine imposante dazu!

Jeder neue Tag ist eine exakte Kopie des vorherigen Tages. Dein Wecker reißt dich aus dem Schlaf, kurz Zähne putzen und Haare zurechtlegen, bevor du im Dunkeln zwischen meterhohen grauen, von Werbung eingedeckten Betonklötzen zur U-Bahn Station schleichst. Du zwängst dich dort in eine kleine Ecke und wartest auf die Ankunft während dir dein Smartphone deine nicht beglichenen Rechnungen präsentiert oder dich gleich mit Dating Apps und sinnlos wirkenden Endlosspielen ablenken will.

Auf der Arbeit erwarten dich vollgepackte Großraumbüros, unerreichbare Ziele und Sanktionierungen wenn du mal wieder unterm Durchschnitt liegst. Natürlich ist es abermals dunkel wenn du deine morgendliche Reise in umgekehrter Reihenfolge antrittst. Was jetzt noch bleibt? Blip Blop spielen und Schlafen. Morgen beginnt das Ganze wieder einmal von vorn.

„Hör nicht auf wenn du müde bist, hör auf wenn du fertig bist!“ – Mosaic Corp.

Du hast an deinem Arbeitstag vermutlich tausende von Menschen gesehen und doch bist du einsam, isoliert von jeglichem bunten Treiben oder Nähe. Die Anderen weichen von dir wenn du in den Fahrstuhl steigst. Das fordern nach „immer Mehr“ der Mosaic Corporation saugt deine ganze Kraft und deine Motivation wie ein Blutegel aus dir heraus. Alles versinkt in einem unbestimmten Allerlei aus grau, hellgrau und dunkelgrau. Du scheinst zu rennen und kommst doch nirgendwo an.

Die Datingapp auf deinem Handy verspricht dir den perfekten Partner und doch vertreibt es nur unerreichbare Ebenbilder. „Ein Freund“ sagt, dass ihr unbedingt mal wieder etwas machen solltet. Dazu kommen wird es nie! Deine Umwelt suggeriert grenzenlose Möglichkeiten und versinkt im Einerlei. Die Tage überhaupt noch zu unterscheiden fällt dir schwer. Du erkennst sie vermutlich noch am besten an der Höhe der Müllberge in deiner Wohnung.

Die unerfüllte Sehnsucht nach Wärme und Nähe treibt dich langsam in den Wahnsinn.  Dein Herz schreit nach Abwechslung. Immer wieder stehst du minutenlang schmachtend vor dem Fenster wenn die Sonne mal wieder einen dieser Winkel in der gigantisch aufgetürmten Stadt getroffen hat, in der sie für einen Moment warmes Gelb und Orange spendet. Denn eigentlich ist sowieso für jeden Tag Regen angesagt. Immer öfter bemerkst du auf deinem täglichen Weg zur Arbeit Dinge, die da so nicht hingehören. Viel zu bunt, viel zu außergewöhnlich. Doch der schmale Grat zwischen Realität und Wahnsinn ist kaum noch wahrzunehmen. Zu sehr hat dich die Stadt schon aufgefressen und nur halb verdaut auf den Bordstein gespuckt.

„Arbeite nicht um zu leben, lebe um zu arbeiten!“

Wie schon Fritz Lang 1927 in Metropolis oder Charlie Chaplin 1936 in Moderne Zeiten (Modern Times), erzählt Mosaic vom nahezu roboterhaften einfachen Arbeiter, der völlig gleichgeschaltet im Stechschritt gen mächtigen Konzern marschiert. Es erzählt von Ungleichheit, von extremer Ausnutzung und der Isolation innerhalb der Gesellschaft. Doch anders als die düsteren Inspirationsquellen finden die in Oslo, Norwegen ansässigen Developer des Krillbite Studio immer wieder auch einen Weg zur warmherzigen Umarmung des Rezipienten. Ganz so, als wollten sie sagen, „gib nicht auf, du schaffst das!“

Genau dann werden endlose Grautöne durch bunte Äquivalente ausgetauscht und die massiven Bauten gesprengt. Ein Versuch des Ausbruchs in einem gnadenlosen Hamsterrad. Mosaic streut immer dann Farbe, wenn der Protagonist seinen Blick vom immer Gleichen abwendet, sich ablenken lässt oder… langsam den Verstand verliert.
Wenn er sich von den Massen beeinflussen und überwältigen lässt. Immer dann, wenn er in der Macht der Gleichschaltung droht zu versinken. Immer dann setzt sein Geist aus und verfrachtet ihn in eine Welt, die wahlweise beruhigt oder den panischen Zustand noch einmal drastisch visualisiert und verstärkt.

„Glück ist das Gefühl der Erfüllung, das durch harte Arbeit entsteht!“

Mosaic wirkt im Zusammenwirken von visueller Inszenierung und tontechnischer Aufmerksamkeit imposant. Das reduzierte Polygondesign verstärkt das immer wiederkehrende, sich nie ändern wollende Alltagsgefühl. Das Versteifen auf Grautöne vermittelt Tristheit und Monotonie. Streng choreografierte Menschenmassen und gigantische Totalen von Wolkenkratzern erinnern an die für immer hängenbleibenden Szenen aus Metropolis. In der von Mosaic Corporation diktierten Stadt ist alles einfarbig zugebaut und auf Optimierung ausgerichtet. Hier gelangt kein Sonnenstrahl mehr auf den Boden der Stadt. Hier schaffen es nur Regentropfen bis nach ganz unten.
Und genau wie in der Strahlkraft verbreitenden Inspiration von Fritz Lang thront in der Mitte des architektonischen Spektakels das mächtige M der alles ausnehmenden Mosaic Corporation. Dennoch besitzt der knuffig unförmige Protagonist viel mehr Nahbarkeit und generiert damit seine so wichtige emotionale Ebene. Ganz anders als in den Szenen des rezitierten Vorbildes.

Mosaic verengt und weitet nach Belieben sein Bild, ändert Perspektiven und Spielmechaniken wenn es der Erfahrung dient, streut Farbe wenn es Ausbruch anzubieten vermag und hebt Details hervor wenn sie von Nöten sind. Krillbite weiß zu jeder Zeit, wie es seine spielenden Menschen zu welchen Gefühlen verleiten muss. Mosaic arbeitet mit erschreckender Präzision und Sicherheit an einem exakten cinematographischen Bild. Genau wie das Bild aus der dystopischen, digitalisierten Welt, das es zu übertragen gilt.
Immer auf den Punkt genau gesetzte Tonalität unterstützt die extremen Wirkungsweisen. Von wummernden Geräuschpegeln über knarzende Störquellen bis zur absoluten Stille und wohltuenden Melodien.

„Wenn du liebst was du tust, wirst du niemals auch nur einen Tag in deinem Leben arbeiten.“ – Mosaic Corp.

Dabei gibt dir Krillbite genauso viel zu tun, wie es eben gerade noch nötig ist. Das ohne gesprochene Worte auskommende Mosaic ist eine narrative interaktive Erfahrung, keine auf Spielebene herausfordernde Angelegenheit. Das reduzierte Spielsystem dient dem Eintauchen in die Haut des Protagonisten Inge Nielsen, bei dem jegliche Motivation neben den zahlreichen unbezahlten Rechnungen auf dem Tisch in der Küche liegengeblieben sein muss.

Doch bei all der Finsternis, der Hoffnungslosigkeit und der Isolation im sich ewigen wiederholenden sinnlos erscheinenden Kreislauf, besitzt Mosaic eine rebellierende, eine sich sträubende Ebene, die dir auch bei einem wirklich herunterziehenden, atemraubenden Erlebnis Mut zusprechen mag. Dir die Hand reicht und sagt. „Hey, das hier ist unsere Utopie, du kannst das verhindern. Du besitzt die Kraft da rauszukommen!“  

Mosaic greift das ewige Thema, um den sich selbst und seine integrierten Menschen auffressenden Kapitalismus auf und verpackt es in eine Form, die durch Interaktivität ungefilterte Wirkung erzielt. Jeder Schritt in Krillbites Werk ist bewusst schwerfällig, langsam und wiederwillig. Durch das direkte hineintauchen in Ausbeutung, Resignation und Isolation gewinnt Mosaic an Schlagkraft. Es ist damit ganz zurecht eine Art digitale Neuinterpretation des Epos Metropolis. Eine, die in ihrer Eintönigkeit für viele in Hinsicht auf ihr aktuelles Leben relevant scheint. Eine weitaus imposantere als ich es jemals für möglich gehalten hätte.

10/10 <3

Developer: Krillbite Studio
Publisher: Raw Fury
Musik: Martin Kvale, Xploding Plastix, Hakon Kornstad, Hiefer
Auszeichnungen: Welcome To Last Week „Best Indie Games 2019“ (Top 10 Selection)
Veröffentlichung: 5. Dezember 2019 (Steam, GoG), 23. Januar 2020 (PS4, Xbox One, Switch), seit November 2019 (Apple Arcade)

Autorin: Benja Hiller

 

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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