Unreal, Unity? Die Wahl der Game Engine stellt sich Developern als erstes. Pit Gennari entschied sich für einen eigenen Weg.
Ein Videospiel braucht eine Plattform auf der es ensteht. Klingt einleuchtend und äußerst simpel. Nachdem also das Konzept erschaffen und die Rahmenbedingungen abgesteckt wurden ist Entscheiden angesagt. Viele der angehenden Spieleentwickler_innen setzen inzwischen häufig auf vorhandene Game Engines, um ihr Projekt umzusetzen. Äußerst beliebt und in der Handhabung nicht zu fordernd ist Unity – die zur Zeit weltweit meistgenutzte Echtzeit-3D-Entwicklungsplattform.
Die von Unity Technologies aus San Francisco bereitgestellte Game Engine steht bis zu einem Jahresumsatz von 100.000 $ der kostenlosen Nutzung zur Verfügung. Danach steigert sich der Beitrag zur Nutzung weiterhin über den Umsatz. Die Entwicklungsumgebung kann auf die eigenen Bedürfnisse durch Skripte angepasst werden. Zudem ist die Entwicklung für nahezu alle Plattformen von PC über Konsolen bis Mobile und VR möglich. Demnach also perfekt für kleine Indie Game Studios und Menschen, die gerade ihr erstes Werk angehen.
Bis zum Fotorealismus
Eine andere weit verbreitete Variante wäre die vierte Generation der Unreal Engine. Die von Epic Games bereitgestellte und entwickelte Game Engine gilt vor allem als Kraftprotz in Sachen Grafik. Seit 2015 ist sie zudem ebenfalls kostenlos nutzbar. Jedoch nur zu nicht kommerziellen Zwecken und bis zu einem Umsatz von 3.000 $. Danach sind 5% des Umsatzes als Beteiligung an Epic Games fällig. Außer, du entwickelst dein Spiel direkt für den Epic Games Store. In diesem Fall werden keine Lizenzzahlungen fällig.
Unity und Unreal als Entwicklungsumgebung decken den größten Teil der Entwicklungsumgebung der Indie Games ab, die in den letzten Jahren erschienen sind. Doch wie bei großen Spieleentwicklern gibt es alternative und eigene Wege ein Spiel zu kreieren. Den Weg eine andere Engine zu nutzen, die eventuelle besser auf die Bedürfnisse zugeschnitten scheint oder – und das bildet im Indie Bereich tatsächlich die Ausnahme – eine völlig eigene Engine zu programmieren. Eine begleitende Entwicklung der Engine entlang des Spiels. So ist schließlich auch die Unreal Engine 1998 entstanden und dutzende Pendants wie Cry Engine, Frostbite Engine und Codemasters Ego-Engine. Doch was bewegt einen Entwickler dazu sich neben dem Programmieren des Spiels auch noch um die Entwicklung einer eigenen Entwicklungsumgebung zu kümmern. Gerade wenn du völlig allein agierst und der andere Weg für viele so einfach erscheint?
Eine eigene Game Engine schmeichelt den speziellen Bedürfnissen des Spiels wie ein maßgeschneideter Anzug deinen Speckrollen. Auch wenn dieser Weg zumeist mit wesentlich mehr Arbeit und Programmierungsoverkill verbunden ist. Am Ende kann sich diese Entscheidung auch heutzutage noch durchaus bewähren.
Entwicklungsmasochismus Game Engine
Pit Gennari von Sepia Rain aus Luxemburg hat sich für seine Göttersimulation Tidal Tribe für genau diesen eigenen Weg entschieden. Ein Weg den Pit mit sypathischen Humor als masochistische Veranlagung beschreibt. „Als ich 2005 mit der Spieleprogrammierung als Hobby angefangen habe, war es noch gang und gäbe seine eigene Engine zu schreiben. Und irgendwie ist seitdem diese Mentalität einfach bei mir hängengeblieben.“ Gewohnheit also. Für die einen unbekanntes Fahrwasser, für Pit die bekannte Umgebung. Der Wohlfühlfaktor innerhalb eines Haufen von auf dich zukommender Arbeit.
Ein Jahr zuvor hatte Telltale gerade ihr eigenes Telltale-Tool geschrieben, um die variantenreichen Wege der entscheidungsgetriebenen Spiele zu realisieren. LucasArts Scumm und GrimE lassen grüßen. Was damals noch normal war, scheint heute kaum ein kleineres Studio als Möglichkeit ins Auge zu fassen. Zu arbeitsintensiv, zu teuer, in kleinen Gruppen oder alleine ein absolutes, zeitliches No-Go und als Quereinsteiger eventuell auch viel zu undurchsichtig und überwältigend. Das gewohnte und verbreitete überwiegt. Lieber Einschränkungen hinnehmen oder geringe Anpassungen vollziehen, jedoch mit dem Vorteil auf gewohntem Umfeld ohne Umschweife schneller in der Entwicklung voranzuschreiten. Für Pit jedoch erscheint die Wahrnehmung der Herangehensweise als das genau Gegenteil.
Die Nutzung vorhandener Game Engines bringt bei allen angenehmen Vorteilen eben auch Probleme mit sich. „Ich mag auch das Gefühl die volle Kontrolle zu haben und sich nicht irgendwie mit Engine-Einschränkungen oder unklaren Dokumentationen rumplagen zu müssen.“ Die vollkommene Kontrolle über jedes Detail innerhalb der Spielentwicklung und der Handhabung der Engine. Pit spricht vor allem über Vorteile des auf den Workflow angepassten Frameworks gegen Ende des Projekts. Klar, was du selber erschaffen hast funktioniert für dich auch am Besten. Die Engine wurde genau auf Pits Arbeitsweisen angepasst. Als gelernter Itler vermutlich auch kein Problem die Umgebung, in der das Spiel entstehen soll, gleich selber zu erschaffen, um immer genau im Bilde zu sein, was das Spiel benötigt. Um Gewolltes akkurat umsetzen zu können. Für Quereinsteiger und Erstlinge vermutlich eine unmögliche Herangehensweise.
Profiteur der eigenen Game Engine: Tidal Tribe
Wie wirken sich diese Vorteile im speziellen Fall von Tidal Tribe aus? An welchen Stellen profitiert die Göttersimulation von der eigens entwickelten Engine?
„Tidal Tribe hat eine komplett dynamische Welt (Terrain, Wasser und Vegetation). Zumindest damals, vor 5 Jahren, hätte ich wohl durchaus auch bei Unity einige Anpassungen vornehmen müssen, um das mit guter Performance zu ermöglichen.“ Die Simulation schöpft die selbst gestalteten Leistungen der eigenen Entwicklungsumgebung perfekt, die so vielleicht innerhalb von Unity nicht möglich gewesen wären und profitiert von diesen in ihren Animation, dem Verhalten und den Darstellungen der gesamten Welt.
Der exakte Zuschnitt der Entwicklungsumgebung. Was dem Spiel zugute kommt hat vor allem Auswirkungen auf den Zeitfaktor während der Erschaffung von Tidal Tribe. Ganze fünf Jahre entwickelt Pit Gennari die namenlose Engine entlang des Spiels. Eine genaue Bemessung des Zeitaufwands zur Entwicklung der Engine, unmöglich. Tidal Tribe und Tidal Tribe Game Engine sind in ihrer Schöpfung unzertrennlich miteinander verbunden.
Doch die eigene Programmierung einer Game Engine scheint nicht nur Mittel zum Zweck. Es ist nicht das nötige Übel, um Tidal Tribe die gewollte Richtung einzuimpfen. Für Pit bildet dieser Teil der Entwicklung gar Abwechslung und Ansporn. „Auch wenn es zwar manchmal etwas nervig ist, wenn man sich mit irgendeinem dummen Bug rumplagen muss, im Großen und Ganzen finde ich persönlich den Engine-Entwicklungsteil einen der spaßigsten Aspekte der Spieleprogrammierung. So gesehen waren die Tage, wo ich daran gewerkelt habe, auch gut um einen wieder mit Motivation und neuer Energie zu füllen.“
Die 90-90 Regel und ihre Herausforderungen
Doch nicht nur die reine Programmierung der Engine forderte eine Optimierung des Zeitmanagements. Die anspruchsvollen Eigenheiten der Welt in Tidal Tribe wollten ebenfalls ausgiebig eingestellt werden. Die größte Herausforderungen während des Prozesses stellten die Balance und das Feintuning dar. Besonders der Bereich der Flüssigkeitssimulation der Wellen und die Vegetation pochten auf sensible Aufmerksamkeit. Auch die KI der nicht spielbaren Charaktere in der Welt von Tidal Tribe bedurften der uneingeschränkten Fürsorge. Probleme und Herausforderung, die schlussendlich zu einem viel ausgedehnteren Zeitraum der Entwicklung sorgten als zu Anfang angedacht. Pit jedoch nimmt das abermals mit Humor. „Es ist halt die Sache mit der guten alten 90-90-Regel…“
Die 90-90 Regel also. Ein humoristischer Aphorismus der Softwareentwicklung, der Pits Zeitmanagment und das eines/einer jeden Entwickler_in wunderbar in Worte fasst. „Die ersten 90 Prozent des Codes benötigen die ersten 90 Prozent der Entwicklungsdauer. Die verbleibenden 10 Prozent des Codes benötigen die anderen 90 Prozent der Entwicklungsdauer.“ Ein Zitat von Tom Cargill (Bell Labratories), das in der Kolumne „Progamming pearls“ von Jon Bentley des Fachmagazins „Communications of the ACM“ im Jahr 1985 breitere Aufmerksamkeit fand.
Das individuelle Bedürfnis
Es muss also nicht immer der Weg sein, den alle anderen bestreiten. Manchmal ist der Umweg für einen selbst die Abkürzung. Die vertraute Umgebung, die am Ende deiner Motivation und deiner Kreativität zu Gute kommt. Wenn auch dieser Weg oft länger und weniger breit ausgebaut erscheinen mag. Die Entscheidung für die jeweilige Engine erscheint immer individuell und sollte von vielen Aspekten der persönlichen und spieletechnischen Bedürfnisse abhängig gemacht werden.
Am Ende ist Pit Gennaris Weg für die Göttersimulation Tidal Tribe genau der Richtige gewesen. Ein Weg der beweist, dass Entwickler_innen auch im Indie Game Bereich durchaus neben Unity, Unreal und anderen bereits vorhandenen Entwicklungsumgebungen sich noch viel mehr Eigenheit beibehalten können, wenn sie die nötige Expertise und den Vibe vergangener Programmiertage im Blut tragen. Genau dann kann diese Herangehensweise auch auf aktuelle Standards angewandt und angepasst werden und das Endergebnis profitieren. Die Entwicklung der eigenen Engine entlang des Spiels. Ein außergewöhnlicher, aber im speziellen Fall lohnenswerter Weg. Nicht nur für die Großen Player der Branche.
Autorin: Benja Hiller
Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.