AWAY: The Survival Series Review | Expedition ins Tierreich

Breaking Walls erschaffen mit AWAY: The Survival Series einen spielbaren Tierfilm, der zudem einen Ausblick in die Zukunft wagt.

Der Tierfilm, häufig auch Naturfilm genannt, soll uns das Verhalten von Tierarten näherbringen. Den komplexen Zusammenhang von Ökosystemen veranschaulichen. Tierfilmer_innen geben uns mit enormen technischen Aufwand und versteckten Kameras einen Einblick in das Leben auf der Welt, das für uns nur schwer zugänglich ist. Zu den erfolgreichsten Tierfilmen zählen in Deutschland Die Reise der Pinguine mit 1,4 Millionen Besucher_innen und Unsere Erde mit 3,8 Millionen Besucher_innen in den deutschen Kinos. Doch der Tierfilm findet zumeist eher im linearen Fernsehen und auf Streaming-Plattformen statt. Auch wenn heute noch immer der Bildungsauftrag im Mittelpunkt steht, scheint sich der Fokus hin zur Veranschaulichung des schützenswerten Lebens zu verlagern. So sagte Alastair Fothergill, einer der Regisseure von Unsere Erde zum Erscheinen des Films, dass sie diesen Film zehn oder 20 Jahre später gar nicht mehr machen können, da es die Bilder schlicht nicht mehr einzufangen gäbe.

AWAY: The Survival Series – ein spielbarer Tierfilm

Unsere Erde solle „ermutigen, etwas dafür zu tun, unseren schönen, aber empfindlichen Planeten zu erhalten“. Das unabhängige Kanadische Studio Breaking Walls verlagert diesen von Fothergill geformten Gedanken in das Medium Videospiel. In AWAY: The Survival Series schaust du nunmehr nicht länger in beobachtender Position auf das Geschehen eines komplexen Ökosystems. Mit einem Kurzkopfgleitbeutler – umgangssprachlich auch Gleithörnchen oder Flughörnchen genannt – bist du Teil dessen. Dabei ist es nahezu unglaublich, dass uns diese Bilder überhaupt erreichen. Denn unser Protagonist des interaktiven Tierfilms ist ein Gleithörnchen, die, anders als die Menschen, ein klimatisches Desaster auf der Erde überlebten und sich an die neuen Lebensumstände anpassen konnten. Inklusive der sich regelmäßig abwechselnden Phasen aus Stürmen, Feuern und Trockenperioden.  So zumindest der Erzähler, der uns, ob des Aussterbens der Menschen, auf wundersame Weise vom Leben des Kurzkopfgleitbeutlers erzählen kann.

Die Menschen haben sich also den Lebensraum, den sie anderen stahlen, selbst genommen. Und wenn wir auf Studien schauen und den Aussagen 99% der Wissenschaftler_innen lauschen, ist dieses Szenario ein gar nicht mal so unglaubwürdig und weit entferntes, wenn wir denn jetzt nicht radikal gegen aktuelle Entwicklungen steuern. Die Flughörnchen jedenfalls haben es geschafft. Mit ihnen unser kleiner Joey (wie die Jungtiere in Englischer Sprache genannt werden, was mich dazu brachte, durch die ganze Doku hinweg zu glauben, es sei sein Name), der nun aber in einem veränderten Ökosystem vor ganz anderen Gefahren steht, als dem Menschen. Denn nicht nur Stürme, Feuer und Trockenheit müssen überwunden, auch gefährliche andere Tiere sollten vermieden werden, um das Überleben zu sichern. Doch wie das Leben so spielt, verliert das Jungtier nicht nur seinen Vater durch einen Sturm, sondern auch seine Mutter und sein Geschwisterchen an einen Geier.

„If you truly love nature, you will find beauty everywhere” – Vincent van Gogh

Doch letzteres will der Kleine nicht auf sich beruhen lassen. Er folgt dem Greifvogel, um beide aus seinen Fängen zu befreien. Während Tierfilme immer nur den Ist-Zustand thematisieren können, macht sich es AWAY: The Survival Series zunutze, Studien und Aussagen der Wissenschaft aufzugreifen, um sie so in eine Art mögliche Vision einfließen zu lassen. Nichtmehr der Ist-Zustand und mahnende Worte sollen ein Bewusstsein für Bewahrung schaffen, es ist ein möglicher Ausblick, der uns erwartet, wenn wir so weitermachen. Ein greifbares mahnendes Beispiel. Videospiele agieren in diesem Fall als ein Medium, das es möglich macht, in die Welt einzutauchen, die uns eventuell erwarten wird. Oder eben auch nicht, wenn wir Breaking Walls Vision glauben. Das Adventure mit dem lebhaft begleitenden Erzähler macht es möglich, sich diese Welt genauer anzuschauen und mögliche Auswirkungen zu erleben. Bei dieser Herangehensweise besteht die Möglichkeit ein sensibles Bewusstsein für unseren gesamten Planeten zu entwickeln.

Allein dieser Fakt macht AWAY zu einem unglaublich wertvollen Projekt. Gerade in der Liebe zum Detail, in der sich die Welt hier darstellt. Die Gesamtheit der Insel erwacht mit ihren Kreaturen, ihren Eigenheiten und liebevollen Details zum Leben. Überall zeugen Ruinen und Mutationen vom einstigen Leben mit dem Menschen. Immer wieder triffst du auf Hinweise, wie es hier einmal ausgesehen hat. Dazu erzählt der Erzähler, was hier eventuell geschehen sein könnte. Erzählt was das Jungtier zu tun, worauf es zu achten hat. Diverse Tiere wie Schlangen, Skorpione und Spinnen tauchen auf, um uns den Weg durch die Wildnis zu erschweren. Es wird geklettert, gekämpft, geflogen, gehüpft und sich versteckt. Das Adventure lebt seinen Überlebenskampf in einer reichhaltigen und durchaus schön anzuschauenden Welt voll aus. Ein Flughörnchen ist zwar nicht das Kleinste aller Lebewesen, in der Wildnis lauern jedoch durchaus unzählige große Gefahren, die die Reise gefährlich, aber abwechslungsreich erscheinen lassen.

„Our Sugar Glider will stay protected if he stays on high branches.”

Doch AWAY: The Survival Series besitzt leider viele andere Probleme, die dieses so wundervoll erdachte Format einer spielbaren Tierdoku immer wieder mit scharfen Dornen piksen und dich der Illusion rauben. Eines der geringsten ist da noch die Animation, inklusive Kollisionsabfrage. Die lässt es oftmals so aussehen, als würde unser Kurzkopfgleitbeutler in der Luft hängen, in die Umgebung eintauchen oder beim Fressen und Angreifen in die Luft beißen. Was jedoch der eigentlichen Immersion einer wirklich nachhaltigen Erfahrung massiv im Weg steht, ist die kaum auszuhaltende störrische Bewegung des Hörnchen, inklusive seiner Kamera. Kletter-, Sprung- und Flugparts sind in dieser Form kaum präzise auszuführen. So wird die Spielzeit allein dadurch in die Länge gezogen, weil du aufgrund der problematischen Steuerung ständig stirbst. Ein Hohn, wenn der Erzähler dazu kommentiert, dass du auf den hohen Ästen sicher bist, wenn weder der Flug dorthin, noch das balancieren darauf wirklich annehmbar funktionieren.

Auch die Integration des Survival-Aspekts, durch den du ständig auf Gesundheit und Hunger achten musst, sind gut gemeint, aber miserabel umgesetzt. Wenn ich mich nicht mal 5 Minuten in einem verzweigten Abschnitt vor einer Spinne verstecken kann, ohne zu verhungern, wurde der Überlebensfaktor reichlich übertrieben. Da ist es fast ein Geschenk, dass ich in diesem Abschnitt in der Requisite bewegungsunfähig hängenbleibe und nicht vorankomme, damit ich beim Neustart des letzten Speicherpunkts wieder humaner aufgefüllte Balken besitze. Vorausgesetzt dieser Speicherpunkt wurde fair gesetzt und du musst nicht gleich am Beginn des Sektors wieder starten. Zugegeben, Breaking Walls haben diese Schwächen im Blick und arbeiten bereits an der Beseitigung. Doch bleibt wieder einmal das Geschmäckle eines zu frühen Veröffentlichungszeitpunkts. Aber nach fünf Jahren Entwicklung scheint es für einen Indie Developer wohl schlicht kaum noch möglich zu sein, das Projekt weiter nach hinten zu verschieben.

AWAY: The Survival Series braucht den letzten Schliff, um sein mühsam aufgebautes Potenzial nicht zu vergeuden

AWAY bietet neben der Story einen Erkundungsmode, in dem es möglich ist, die Insel in Ruhe zu durchforsten, um weitere Bröckchen vom Verbleiben der Menschen zu finden. Hier kannst du jedes Tier in dieser Welt als Protagonist_in erleben, Perspektiven wechseln. Ein wundervolles Feature, das ein tieferes Eintauchen in dieses Szenario möglich macht. In diesem Zustand jedoch lehne ich vorerst dankend ab, um meine Nerven zu schonen. Das Format eines visionären, spielbaren Tierfilms ist eines der dringendsten, das wir in der Videospielwelt brauchen. Es besitzt die Möglichkeit Zusammenhänge nicht nur zu vermitteln, sondern vielmehr erlebbarer zu gestalten, als es anderen Medien durch ihre Rahmenbedingungen können. Es steckt unglaubliches Potenzial im Genre der interaktiven Tierdoku. Ich hoffe, dass die Assoziation zum Namen Breaking Walls bei anstehenden Verbesserung mit dem Erschaffen von Immersion einhergeht, statt mit einer, die diese mühsam aufgebaute Welt durch Flüchtigkeitsfehler wieder einreißt.

5/10 🐿️🎥

Developer/Publisher: Breaking Walls
Genre: Adventure, interaktiver Tierfilm
Team: Nathanaël Dufour (Co-Founder, Creative Producer), Laurent Bernier (Co-Founder, Creative Director), Sébastien Nadeau (Co-Founder, Head of Technology), Ghyslain Godon (Game Designer), Paul Capo (3D Artist), A.P. Johnson (Head of Growth), Anuradha Mallik (Programmer), Damien Sauzet (Sound Designer), Sage Minard (Community Manager), Liliana Muñoz (Accounting), Mylène Paquet (Graphic Designer)
Musik: Mike Raznick
Auszeichnungen: Best in Play (GDC 2019), Best Business Promising 3rd Winner, Indie Arena Booth 2021), Most Adoptable Winner (United Nations 2021)
Veröffentlichung: 28. September 2021 (Steam, PS5, PS4)

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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