Figment Review | Der Musical-Kampf gegen Albträume, Depressionen und Angst

Was passiert eigentlich in deinem Kopf, wenn Traumata, Angst und Depressionen ihren düsteren Schleier auf deine Erinnerungen legen, Albträume in Form von dubiosen Gestalten die Herrschaft des Geistes übernehmen? Genau dann beginnt ein surreales Musical-Action-Adventure.

Es ist ruhig im einst so bunten, vielfältigen Land. Ehemalige Areale, gefüllt mit Aktivitäten, wertvollen Erinnerungen und reichlich Kreativität, sind zu ausgestorbenen, desinteressierten Zeugen der Zeit mutiert. Freude, Aufregung, Spannung, Ärger, Emotion, Liebe und Zuversicht sind hier schon lange nicht mehr zu finden. Die Bewohner_innen haben sich arrangiert. Doch weitere Veränderungen scheinen sich einzuschleichen. Die verschiedenen Regionen des Landes malen in ihren reichhaltigen Landschaften ein immer trüberes Bild. Es wird düster, Bauten bröckeln vor sich hin, Brücken zu einzigartigen Teilen brechen zusammen. Manch eine Region ist gar völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Finstere Kreaturen bewohnen sie nun und verbreiten Mutlosigkeit, Hilflosigkeit und Angst.

Wenn das doch alles so einfach wäre…

Der Bürgermeister der Hauptstadt ist ratlos. Die restlichen Bewohner_innen haben sich in ihren Häusern zurückgezogen. Wenn du an ihre Türen klopfst, sollst du schnellst möglich verschwinden oder Lethargie und Panik gelangen als Reaktion durch die Wände des sicheren Rückzugsortes.

Da kommt die positive Piper dem grummeligen Dusty – der ehemaligen Stimme des Mutes – gerade recht. Er hat schon lange keine Lust auf Abenteuer mehr und will lieber seine alten Erinnerungen in einem Drink ertränken. Doch Piper gibt nicht nach, denn diese so wertvolle Welt muss von den fiesen Albträumen befreit werden, die Schrecken und Unsicherheit verbreiten und den Geist terrorisieren. Und so gibt Dusty wiederwillig nach und macht sich mit Piper auf den schweren Weg zur Bekämpfung eines ausgewachsenen Traumas.

Figments humorvolles „Helden-Duo“- bestehend aus dem griesgrämigen Dusty und der stets gut gelaunten Piper – geht nun aber nicht in einem weit weit entfernten Land auf Bösewicht-Jagd, sondern direkt in deinem Kopf. Verschiedene Regionen repräsentieren unterschiedliche Teile des Gehirns, in denen Kreativität, Verständnis und Bewusstsein als Welten herhalten. Allesamt in einem surrealen, handgemalten Gewand, das in reichhaltigen Details an die Vorlieben des Menschen erinnert, aber auch tief verwundete Szenerien nachbildet. Landschaften, die vor allem von einer großen Liebe zur Musik erzählen. Instrumente als Szenerien, Trompeten als Brücken, ein Akkordeon als Dampfmaschine und überall fliegen kleine Noten umher.

The Musical Touch

Es steht also völlig außer Frage, dass die fiesen Albträume sich in Form eines einleitenden und imposant inszenierten Songs vorstellen und dir immer singend über den Weg laufen. Die Welt von Figment ist ein Musical-Action-Adventure, in dem der Musik eine exorbitante Rolle im Gesamtkontext des Werks zugesprochen wird. Denn Musik erzeugt Emotionen, knüpft Verbindungen und fördert Kreativität. Die so eindrückliche Atmosphäre profitiert zu großen Teilen von dieser einzigartigen Musik und dem großartigen Sound-Design des Komponisten Niels Højgaard Sørensen und den Einlagen der engagierten Sänger_innen und Synchronsprecher. Ein Mix aus Pop, Indie, Metal, Klassik und Weltmusik, der in seiner Eigenheit der Komposition und in der Gesamtheit des Werks zu einem großartigen Soundtrack heranwächst, der wie das Buffy-Musical noch lange in deinem Kopf für positive Verknüpfungen sorgen wird.

Zudem ist das Design von Art-Director Adrielle Buus derart liebevoll und detailreich gestaltet, dass du jeden Screenshot ohne Umschweife einrahmen und in deine Flur-Galerie hängen könntest. Aber da Figment ja nicht nur aus Musik und Kunst besteht, sondern ziemlich interaktiv ist, haben aus Bedtime Digital Games Dänemark gleich noch ein wenig Gameplay implementiert. Soll ja in der interaktiven Form des Medienkonsums durchaus helfen. Sonst wäre das jetzt hier eher eine Review über einen außergewöhnlichen Animationsfilm. Was der Beschreibung der Inszenierung durchaus gut stehen würde.

Befreie den Geist von seiner schweren Last

Mit dem spielbaren Dusty aber machst du dich auf, die drei Albträume zu beseitigen, die immer tiefer in die einzelnen Regionen des Geistes eindringen, flüchten und weiteren Schaden anrichten. Du musst mit deiner Begleiterin Piper zerbrochene Verbindungen wieder aufbauen und defekte Vorgänge reparieren, um den Eindringlingen immer näher zu kommen. Ein wenig Point and Click inmitten von Action und Gehirnzellenmassaker. So hast du es eben nicht nur mit Puzzle-Elementen zu tun, sondern zudem mit kleinen Kampfeinlagen. Denn ebenso wie die Hauptantagonisten besiegt werden müssen, schicken diese auch immer kleine Vorboten vorbei, die Dusty mit seinem Schwert zu Staub pulverisiert. Im besten Fall!

Eine Analogie also, zu kleinen Einbrüchen des Geistes im Alltag, in dem immer wieder Trigger und völlig verschobene Wahrnehmungen Anzeichen eines tiefer sitzenden Problems zu sein scheinen. Immer wieder glänzen Humor und eingeworfene Zitate der beiden, die mit empowernden Thesen oder flapsigen Einwürfen großen Unterhaltungswert verbreiten. Da rücken das leicht unpräzise Kampfsystem oder nicht immer deutlich erscheinende geforderte Aufgaben weit in den Hintergrund. Oftmals reicht für letzteres eine kurze Pause oder ein zweiter Blick, um das Rätsel zu lüften und somit die Erzählung voranzutreiben.

Figment ist ein herausragendes Gesamtkunstwerk, das mit seiner liebevoll gestalteten Welt und der herzlichen Erzählung ein ausgezeichnetes Mittel zur Nachvollziehbarkeit des Kampfes gegen psychische Krankheiten ist. In diesem Kampf gibt es eben nicht nur einen Gegner, sondern gleich mehrere und selbst diesen kommst du nur in kleinen Schritten auf die Schliche. Es müssen neue Netze gewebt, Brücken saniert und positive Erinnerungen ausgegraben werden. Eben genau wie es Dusty und Piper im isometrischen Abenteuer Figment so aufopfernd tun.

Der Kampf für die psychische Gesundheit ist schlauchend, anstrengend und immer wieder demotivierend. Doch den wundervollen und einzigartigen Geist von Albträumen, Traumata und Depressionen befreit zu haben ist jede Anstrengung wert. Figment spielt mit dieser Ebene so locker und frei, dass am Ende eine mitreißende, spaßige, aber eben auch äußerst intensive Erfahrung steht. Figment ist die perfekte Erläuterung der undurchschaubaren Wirrungen deines Geistes, aber eben auch ein verdammt gutes Videospiel. Es spendet kraft und zeigt Verständnis. Es sieht wundervoll aus und versüßt dir deinen Tag mit außergewöhnlichen Melodien. Mehr gut geht eigentlich nicht.

9/10 <3

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Developer: Bedtime Digital Games
Team: Klaus Pedersen (CEO), Jonas Byrresen (Lead Game-/Story-Designer), Adrielle Buus (Art Director), Dion Christensen (Programmer), Lasse Juul-Jensen (Programmer), Lasse Westmark (3D Tech Artist), Niels Højgaard Sørensen (Design and Music), Stefan Lindgren (Lead Artist), Ole Risgaard Hansen(Lead QA)
Auszeichnungen: Best Narrative, Winner (BIG Festival, 2017), Best Art, Winner (Casual Connect Indie Prize, 2017), Indie Game Awards, Finalist (Momocon, 2017), Indie Game Awards Finalist (BitSummit, 2017), Best Sound, Finalist (Casual Connect Indie Prize, 2017), Best Console/PC Hardcore, Finalist (Game Connection Europe, 2016), Best Hardcore, Finalist (Game Connection Europe, 2016), Indie Sensation Award, Finalist (Nordic Games Award, 2016)
Veröffentlichung: 22. September 2017 (PC, Mac, Linux) / 28. Juni 2018 (Switch) / 14. Mai 2019 (PS4)

Autorin: Benja Hiller

 

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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