Where the Heart Leads Review | Haben Sie kurz 15 Stunden, um über das Leben zu reden?

Jede noch so kleine Tat und jedes noch so kleine Gespräch hat unvorhersehbare Auswirkungen. Im Leben und in Where the Heart Leads.

Immer wieder stelle ich mir die Frage, was wohl passiert wäre, wenn…? Komischerweise aber nicht sehr häufig zu so offensichtlichen Fragen wie, was wohl passiert wäre, hätte ich sofort Abitur gemacht oder wenn ich den einen Job dort angenommen hätte. Viel mehr verstricke ich mich in viel kleineren Fragestellungen. Was wohl passiert wäre, wenn ich damals wirklich den alten Mercedes und nicht den Ford Sierra gekauft hätte? Vielleicht hätte ich diesen einen Anruf nicht tätigen sollen? Hätte ich diesen einen Abend wohl besser zu Hause verbracht? Ob die Wohnung in der Berliner Straße nicht doch besser gewesen wäre? Zugegeben, letzteres ist Aufgrund der ganzen Umfeldsthematik eigentlich schon wieder eine ziemlich große Frage.

Es sind natürlich die Folgen, die solche Entscheidungen mit sich bringen, die mich auch 20 Jahre nach ihnen, ob des möglichen Ausgangs, noch zur Verzweiflung bringen. Habe ich wirklich das richtige getan? Gibt es ein richtig überhaupt? Da traue ich mich fast gar nicht mehr zu fragen, warum meine Lehrer_innen damals mein kreatives, textliches Verständnis verkannt haben, um stumpf meine Rechtschreibung bemängeln zu können. Scheiß egal, ob das Kind da einen humoristischen Text schreibt., habt ihr gesehen wie es das macht? Gott, ist das dumm! Was bleibt ist eine hypothetische Fragenkette. Wäre ich dann wirklich eher in die Richtung des Schreibens getrudelt? Hätte ich auf die Förderer meines Talents gehört? Hätte mir Umwege erspart?

Where the Heart Leads? Unmittelbar in den Abgrund!

Sich zu Entscheidungen, Wegen und Auswirkungen im Leben Gedanken zu machen, ist gar nicht so ungewöhnlich. Eine gewisse Selbstreflexion ist ja bekanntlich sehr gesund. Es auf scheinbar unwichtigen Ebenen zu tun, ist da schon eher ungewöhnlich, manchmal sogar ungesund. Dabei könnte jede Entscheidung irgendwann, irgendwo ungeahnte Ausmaße annehmen. Einmal einem Kind ein entsprechendes Buch geschenkt, zack, dessen Laufbahn und damit das Leben vieler anderer Menschen einfach mal so vorbestimmt. Ich mein, was für eine riesen Verantwortung wir in jedem unserer Dialoge tragen. Wer weiß was daraus entsteht? Die Unvorhersehbarkeit langfristiger Auswirkungen, wissenschaftlich von Edward N. Lorenz als Butterfly Effect – oder zu Deutsch als Schmetterlingseffekt geprägt. Genau mit dem hatte schon Ashton Kutcher im gleichnamigen Film zu kämpfen, als er bemerkt, dass er kleine Dinge auf seiner Zeitlinie ändern kann. Die Ausmaße? Nun, nicht immer zu seiner Zufriedenheit – oder sollte ich besser sagen, nie?

Where the Heart Leads setzt ebenfalls genau hier an und lässt seinen Protagonisten Whit Anderson Abschnitte in seinem Leben noch einmal erleben. Nachdem ein Sturm ein Loch in das Land seiner Familienfarm gerissen hat und sein Hund bellend hineingelaufen ist, bleibt natürlich nur eines: Hund retten! Klar soweit, hätte ich auch gemacht. Doch dieser Versuch… sagen wir, er missglückt etwas, weswegen sich der gute Whit ganz tief im Loch wiederfindet. Komischerweise kommt ihm manch Szenerien sehr bekannt vor. Er hat sie schon einmal im Leben gesehen. Über surreale Areale gelangt er in ganze Abschnitte seines Lebens. Er ist in der Lage Entscheidungen anders oder erneut zu treffen. Für mich jedoch sind sie jedoch völlig neu. Anders als es Butterfly Effect gemacht hat, habe ich absolut keine Ahnung, wie sich Whit vorher entschieden hat. Ob er diese Szenen genauso schon einmal erlebt hat. Ich lebe Whits Leben einfach neu.

„Komm jetzt… ääääh… mach!“

Und ehrlich gesagt, Where the Heart Leads und ich, wir hatten einen äußerst holprigen Start. Ich liebe Spiele, die mich herausfordern, ich liebe es viel von den Charakteren und der Welt zu erfahren. Ich war schlicht einfach nicht vorbereitet. Hatte stets das hektische Hin und Her von Butterfly Effect im Kopf. Wollte die Auswirkungen meiner Entscheidungen sofort erleben und sie erneut ändern können, um dessen abermalige Auswirkungen sehen zu können. Aber das Leben ist eben kein hektischer Thriller. Es ist vor allem eines, langsam! Und hätte ich vorher genauer gelesen in was ich mich hinein begebe, ich hätte Armatures Narrative direkt die Zeit gegeben, die es offensichtlich benötigt. Ich hätte mir die Ruhe angetan und mich wie bei einem guten Buch mit einem heißen Kakao unter die Kuscheldecke verkrochen. Entscheidungen und Auswirkungen. Als würde mir Where the Heart Leads unvermittelt den Spiegel vorhalten.

Hab ich aber nicht getan, weswegen ich mich eines müden Nachmittags vor meine rauschende PS4 gesetzt habe und zu immer gleichen musikalischen Loops und ausladenden Dialogen einfach mal so weggeratzt bin. Ich bin so schnell eingeschlafen wie vermutlich schon lange nicht mehr. Und das nicht nur einmal. Ganze vier Schlafphasen konnte ich am Ende zusammenzählen. Langweilig sagen die einen, entspannend sage ich. Zwar dürften die Melodieschleifen auch in dieser, nahezu ohne sonstige Geräusche auskommenden, surrealen Atmosphäre durchaus etwas abwechslungsreicher gestaltet werden, aber im groben schaffen sie eine Basis für die Fokussierung auf das Wesentliche, Whits Andersons Leben. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich nur ganze acht Stunden gebraucht, um genau das anzuerkennen. Zwar wünschte ich mir nicht gerade selten, dass auch Whits Unterhaltungen mit den Menschen aus dem Umfeld jetzt langsam mal zum Punkt kommen könnten. Aber genau das wünsche ich mir in so vielen realen Dialogen auch.

Ein Spiel wie ein Buch

Von diesen Dialogen gibt es bei Armatures Narrative, das sich zu großen Teilen wie eine Visual Novel spielt, wahnsinnig viele, um allein schon alle Entscheidungswege abdecken zu können. Aber auch ohne diese wirst du wahnsinnig viel zu lesen haben. Ganze 600.000 Wörter hat das Team aus Austin, Texas, USA da in ihr Manuskript gekritzelt. Zum Vergleich: eine Normseite in einem Buch nach der VG Wort in Deutschland entspricht etwa 1.500 Zeichen, inklusive Leerzeichen. Das dürften im Durchschnitt so ca. 225 Wörter sein. Also ungefähr genauso lang wie meine Einleitung bis zur ersten Zwischenüberschrift. Ich visualisiere weiter: Wäre Where the Heart Leads also ein Buch, es hätte in etwa 2.667 Seiten. Alle werde ich davon nicht gelesen haben, denn dafür gibt es zu viele Entscheidungsmöglichkeiten, die sich zum Teil in grundverschiedene Richtungen bewegen. Aber, wäre das tatsächlich ein Buch, das du in einer freien Minute mal eben so anfangen würdest?

Lass es mal einen 1.800 Seiten Klopper sein. Wäre noch immer locker zwei Mal Frank Herberts DUNE oder ein gewöhnlicher Ken Follett Roman. Ich jedenfalls komme selten auf die Idee, die einfach mal so anzufangen. Dazu brauche ich Zeit. Und Zeit ist genau das, was auch du brauchst, um Where the Heart Leads zu genießen. Denn dann, ja dann entsteht vielleicht das richtige Gefühl, um dieses Narrative greifen zu können. Sich über die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, im Klaren zu sein. Denn auch, wenn manche eher beiläufig geschehen, sie werden dich im späteren Verlauf von Whits Leben verfolgen. Sei es offensichtlich oder im ganz Verborgenen. Dafür braucht es enorme Aufmerksamkeit. Die ist mir jedoch nicht nur abhandengekommen, weil mich die Sandmännchenmusik in einen entspannten, schläfrigen Zustand versetzt hat, sondern eben auch in diesen ausladenden Dialogen und vor allem in der sehr unausgewogenen Balance der einzelnen Lebensabschnitte.

Where the Heart Leads is where the reflection starts

Deine Hauptzeit verbringst du in drei verschiedenen Szenerien, in denen es nur gemächlich vorangeht. Allein deshalb habe ich es als schwierig empfunden, mich mit Where the Heart Leads zu arrangieren. Die Anfangsszenerie besitzt schon die Länge eines eigenen handelsüblichen Indie-Narratives. Zu viele Charaktere, die mit zu vielen Dialogen aus alltäglichem Gequatsche und geringer Information in mein Gehirn drängen. Ich brauche Stunden, bis ich weiß wer Gunnar oder Sophia ist. Dazu gibt es unglaublich viele Informationen aus Erinnerungen und Anekdoten zu lesen. Ganze Geschichten zu Ereignissen und Personen. All das drängt in meinen Kopf und erzeugt vor allem eines, ihn in die Senkrechte zu befördern. Der Schmetterlingsschlag, er wird sogar im ersten Abschnitt von Where the Heart Leads genannt. Doch er interessiert mich zu Anfang kaum. Zu fremd sind mir die Gestalten und damit zu belanglos die Auswirkungen meiner Entscheidungen. Vielleicht hätte mich ein kurzweiliger Einstieg eher abgeholt.

Den bieten solch pompös aufgebauten Welten in Büchern ebenfalls nicht. Du musst dich hineinfuchsen, damit die Reflexion beginnen kann. Nach diesen oben genannten acht Stunden wollte ich langsam wissen, wie sich Whits Leben mit all meinen Entscheidungen innerhalb des Zirkels seiner engsten Menschen entwickelt, wollte wissen wie es ausgeht. Der Weg dorthin, er war anstrengend und holprig, vor allem aber schläfrig. Ich habe mich auf Twitter gefragt, ob das an mir oder dem Spiel liegt. Oder ob das so sein muss. Ich weiß noch immer nicht, ob sich diese Anstrengung gelohnt hat. Ich sinniere jedoch innerlich regelmäßig darüber. Mein Leben erscheint mir in etwa genauso. Ich habe absolut keine Ahnung, ob ich die richtige Abzweigung genommen habe. Geschweige denn, wie ich überhaupt hierhingekommen bin. Ich kämpfe unentwegt. Aber die meiste Zeit bin ich doch recht zufrieden damit, es zumindest gesehen zu haben. Auch wenn ich einige Abschnitte gerne kürzen würde.

7/10 📚 🦋 🌱

Developer: Armature Studio
Publisher: Armature Studio (digital), Perp Games (physisch)
Genre: Narrative, Visual Novel
Veröffentlichung: 13. Juli 2021 (PS5, PS4)


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Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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