DiRT Rally 2.0 Review | Die matschige Schönheit der Konsequenz

Hey warte mal, Dirt Rally 2.0 ist doch gar kein Indie Game? Das ist doch eine ausgewachsene Triple-A Rennsimulation! Ja, gut beobachtet. Doch die Neuinterpretation der bekannten Rallyeserie qualifiziert sich durch andere brachiale Punkte.

DiRT Rally 2.0 hat mit Codemasters namensgebender Hauptserie in etwa so viel gemeinsam wie der Autoscooter auf dem örtlichen Heimatfest mit dem aktuellen Toyota Yaris WRC. Den Autoscooter kannst du ohne große Probleme ein paar unbeschadete Runden durch die bouncende Menge manövrieren, beim Yaris WRC wird das mitunter etwas holpriger.

Schnall dich besser an!

Dein kleines Team hat es mit biegen und brechen in das Starterfeld der untersten internationalen Rallyeklasse geschafft. Ihr habt Unternehmen genervt, Förderungen beantragt und euer erspartes zusammengekratzt. Von dem größten Teil des gesammelten Geldes habt ihr euch einen alten Fiat 131 Abarth gekauft. Für den Umbau des betagten Karrens auf FIA Standards wurden etliche schlaflose Nächte verbraten, um pünktlich zum ersten Rennen in Neuseeland fertig zu werden. Eine staubige, zumeist trockene Piste mit langen Geraden und unglaublich tückischen Abschnitten zwischen endloser Weite, tiefen Schluchten und engen Waldpassagen mit feuchten matschigen Ausläufern.

Eure nicht vorhandene Reputation setzt euer Auto im ersten Rennen an das Ende des Feldes. Die Reifen der vorausfahrenden Autos haben tiefe Furchen in den Schotter gefräst. Die Anspannung ist groß als du deinen frisch polierten Abarth mit den glänzenden Sponsorenaufklebern langsam zum Start rollen lässt. Die rechte Hand zum Lösen an der Handbremse, deine linke Hand umkrallt das griffige Lenkrad. Dein rechter Fuß zittert zwischen 3.000 und 4.000 Umdrehungen. Tief durchatmen. Deinem Beifahrer rollt eine Schweißperle über die Nasenspitze und tropft auf das blanke Bodenblech des Boliden. Noch einmal weist er dich in die ersten Verläufe der Strecke ein. Nur noch fünf Sekunden. Ein nervöses Zucken fährt in deine Gliedmaßen. Der Marshall zählt herunter bis zum Go. Fünf, vier, drei, zwei, eins… deine rechte Hand löst die Handbremse, dein rechter Fuß tritt das Gaspedal tief durch. Unglaubliche Gewalten treiben deinen alten Fiat nach vorn. „Scheiße, er hat nicht Go gesagt!“

Du bist zu früh gestartet. Das bedeutet Zeitstrafe. Unglaublicher Druck entfaltet seine fiese Macht. Zweiter, dritter, vierter Gang. „Verflucht, wieso habe ich die Handbremse zu früh gelöst!“ Gedanken kreisen durch deinen Kopf und vernebeln die Konzentration. Die Angaben deines Co-Piloten verlieren sich zwischen schreiendem Motor und dem Rauschen des Schotters. Erst als die erste Kurve auch in dein Blickfeld rückt, wird dir klar was er gesagt hat. Links zwei! Eine enge Kurve nach der Geraden zu Anfang. Du hast den Bremspunkt verpasst! Die tiefen Furchen hebeln deinen Wagen aus der Ideallinie. Ungebremst fliegt ihr in Richtung Waldstück, schrammt am ersten Baum vorbei, nur um den nächsten frontal treffen zu können. Die Scheibe splittert, die Aufhängung bricht. Die Motorhaube faltet sich zu einem Zelt ähnlichen Gebilde zusammen und nimmt dir die Sicht. „Bist du okay?“ fragt dein Mitfahrer. Ja, du bist okay. Die Hosenträgergurte haben dich lieblich umarmt und im Sitz gehalten. Euer erstes Rennen ist nach zehn Sekunden zu Ende, der Wagen schrott!

Konsequenz

Nach zehn Sekunden wurde dein Rennerlebnis wegen Unachtsamkeit beendet. Das Geschehene einfach zurückspulen wie es in der Hauptserie und so vielen anderen Rennspielen möglich ist? Vergiss es! Schon nach 10 Sekunden wurde die Ausrichtung von DiRT Rally 2.0 äußerst klar in den Matsch gestampft. Oder in deinem Fall als Profil eines Baumes in die Front des Autos gepresst. Das hier ist die High End Variante des virtuellen Motorsports, die Elite Akademie, die World Rally Championship. DiRT Rally 2.0 hält sich nicht mit seichter Fahrphysik, verzeihenden Spielmechaniken und kleinen Helferlein auf. Schon allein die Voreinstellungen des Spiels unterstreichen diesen Punkt. Hilfssysteme wie Traktionskontrolle oder ESP? Komplett ausgeschaltet! Die Rennsimulation von Codemasters schert sich nicht um Zugänglichkeit und Hilfsangebote. Es will die brachiale Urgewalt der Maschine ungefiltert in dein Wohnzimmer übertragen und dir den realistischsten Ansatz mit purer Konsequenz kredenzen.

 

Beschäftigst du dich mit DiRT Rally 2.0, beschäftigst du dich mit dir und deiner Lernkurve. Strecken und Autos bieten, gerade über den Xbox One Controller, dank der unermüdlich arbeitenden kleinen Rumblemotoren, unglaubliches Feedback. Die ständig wechselnden Verhältnisse des Bodenbelags werden ungefiltert an dich weiter getragen. Nur du kannst aus diesen Rückmeldungen die Schlüsse ziehen, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Unbedachte Kamikazeritte durch enge Waldalleen solltest du dir verkneifen. Die kleinste Bodenwelle, der kleinste Kieselstein und die geringste Furche können deine anvisierte Bestzeit am nächsten Felsen zerschellen lassen. Nur durch den Effekt des Lernens, inklusive einer stetigen Aufmerksamkeit und Umsicht, kannst du deine Leistung langsam steigern. Und hör verdammt noch mal auf deinen Beifahrer, auch wenn der dann und wann etwas seltsam und nicht ganz so präzise klingen mag. Streckenkenntnis sammelt Sekunden, nicht Hochmut. Beschädigst du deine Lichtanlage, musst du damit rechnen, dich in der nächsten nächtlichen Wertungsprüfung ohne ausreichendes Scheinwerferlicht in purer Dunkelheit durchzukämpfen. Überhaupt ist Konzentration einer der beeinflussendsten Faktoren in DiRT Rally 2.0. Nach einer kompletten Rallye oder eines Rallycross Wochenendes brennen nicht nur deine Augen, sondern auch deine Hände. Du fühlst dich ausgelaugt und strapaziert. Die Simulation beansprucht deinen ganzen Körper.

Understatement

DiRT Rally 2.0 teilt sich in zwei Bereiche. Die klassische Rallyemeisterschaft und die lizensierte Cross-Rally Weltmeisterschaft, in denen jeweils einzelne Rennen, ganze Serien oder Karrieren gestartet werden können. Zusätzlich gibt es tägliche, wöchentliche und monatliche Herausforderungen, in denen du gegen die große weite Welt der DiRT Rally 2.0 Pilot_innen antrittst. Insgesamt kannst du in 50 Wunderwerken der Technik auf Sekundenjagd gehen.

Klingt erst mal nicht viel wenn konkurierende Marken mit Zahlen jenseits der 700 um sich werfen. Doch Codemasters Rennsimulation lässt eigenwilliges Auftreten eines jeden Fahrzeugs zu. Die Entwickler_innen aus England integrieren Eigenheiten und unterschiedliches Fahrverhalten in die Fahrzeuge. So wirkt jedes Auto einzigartig und wenig beliebig. Hast du dich über einen Zeitraum endlich an ein Fahrzeug und seine Dynamiken gewöhnt und erzielst erste Erfolge innerhalb einer Meisterschaft, denkst du natürlich über ein Upgrade nach, nur um nach kurzer Zeit wieder einmal festzustellen, dass deine Lernkurve von vorne beginnt. Gerade wenn du von einem schwachen, älteren Auto auf ein neueres kräftiges umsteigst, ist der Unterschied gewaltig. Verschiedene Einstellungs- und Abstimmungsmöglichkeiten sollten dir jedoch entgegenkommen, um es auf deinen Fahrstil und die Gegebenheiten der Strecke abzustimmen. Vom Reifen, über Fahrwerk bis hin zur Bremsenabstimmung ist alles möglich. DiRT Rally 2.0 profitiert vom gering wirkenden Fuhrpark, um die Qualitäten einzelner Fahrzeuge besser herausstellen zu können.

Zudem zeigen klassische Rallyboliden andere Verhaltensweisen als World Rally oder Rally Cross Fahrzeuge. Allrad, Heck- oder Frontantrieb? Probier es aus und erlebe die faszinierende Welt der Fahrphysik innerhalb verschiedener Antriebskonzepte auf Schotter, Asphalt und Matsch. Nur richtiger Schnee wurde in das Grundspiel nicht integriert, folgt aber mit dem ersten DLC in Monte Carlo.

Realismus

Doch nicht nur die pure Konsequenz der fahrphysischen Eigenschaften macht DiRT Rally 2.0 so einzigartig. Es ist die komplette Umsetzung, die deine Äuglein glänzen lassen. Es ist der feine Staub, den das vorausfahrende Auto aufwirbelt und dir die Sicht nimmt. Es sind die unglaublichen Details, die in die Gestaltung der Fahrzeuge gesteckt wurden. Details, die ihre virtuellen Ableger zu exakten Fernsehklonen werden lassen. Sowohl außen, als auch im Interieur. Es sind die unterschiedlich kreischen und brummenden Motoren, die dich anschreien, antreiben und von kommenden Wehwehchen erzählen. Es sind die unglaublichen Geräuschkulissen, die vorbeirasenden Bäume und die auf der Motorhaube aufschlagenden Kieselsteine. Es ist das Gesamtgeräusch aus Motor, arbeitender Kupplung, absorbierender Federung, verdrängtem Matsch und aufgewirbeltem Staub. Die unglaublich realistische Optik nimmt das Sounddesign von DiRT Rally 2.0 an die Hand und geht auf eine wilde, kontrolliert unkontrollierte Fahrt durch Wälder, vorbei an Schluchten, Seen, Leitplanken, Zäunen, Toren und ekstatischen Zuschauern. Nur Millimeter entscheiden zwischen Totalschaden oder Sieg. Die pure brachiale Kraft der Maschine gepaart mit der enormen Geschwindigkeit innerhalb enger Passagen. Ein unglaublicher Adrenalinmix in perfekt inszenierter medialer Kraft, die ihren Höhepunkt in der schier nicht nachvollziehbaren unbändigen Art eines Weltmeisterschafts Rallyecross Wagen zelebriert.

Indie im Herzen

Codemasters scheißen auf alle gängigen Renngameplay Elemente und setzen ihre Vorstellung einer puren Rallyesimulation um. Sie schmeißen Systeme, die das Spiel zugänglich machen könnten raus, um in letzter Konsequenz ein stimmiges, eigenwilliges, realistischeres und besseres Spiel zu erhalten. Was in DiRT Rally 2015 seinen Anfang nahm, wird in DiRT Rally 2.0 gnadenlos weitergeführt und perfektioniert. Mit dieser Konsequenz werden Codemasters sehr vielen Menschen die Motorhaube und damit den Spielspaß zerknirschen. Denn der zweite Simulationsteil der DiRT Reihe ist absolut nichts für Heimatfest Autoscooterfahrer_innen. Genauso, wie du dich nicht gleich in ein World Rally Car setzen und die schnellste Zeit hinbrettern kannst und Weltmeister_in wirst, ist es nahezu unmöglich in DiRT Rally 2.0 auf Anhieb gute Ergebnisse zu erzielen.

2.0 braucht Zeit! Zeit, die der oder die ungeduldige Arcade-Zwischendurchfahrer_in nicht hat. Zeit, die sie einem Spiel nicht geben möchten. In dieser letzten Konsequenz, in der sich DiRT Rally 2.0 bewegt, schließt es bewusst Spieler_innen aus, um das sein zu können was es will. Die beste Rallyesimulation, die es zur Zeit gibt und zudem wahrscheinlich auch die beste Rennsimulation, die du zur Zeit genießen kannst.

Gute Spielkonzepte brauchen außergewöhnliche Konsequenz. Sie brauchen den Mut ganze Spielgruppen auszuschließen, um sich auf den Pfad des anvisierten Resultats zu begeben. Sie brauchen diese Konsequenz, um auf dem Weg zur Veröffentlichung nicht zu verwässern. Sie dürfen es nicht allen Recht machen. Sie müssen Spieler_innen die Motorhaube auf dem Kopf zerschlagen, um die eine kleine Gruppe zufriedenstellen zu können, die sie erreichen wollen. Codemasters können sich diesen Ausflug ins puristische Metier leisten, weil sie die Grundserie stets massentauglich auslegen und somit genügend Rücklagen für Herzensprojekte bilden. Nicht einmal die F1 Reihe kann diese enorme Konsequenz mitgehen.

Es werden nicht viele auf eine puristische Rallye-Rennsimulation gewartet haben, die vielen aufgrund ihrer Mechaniken den Zugang verwehrt. Aber DiRT Rally musste genau diesen Weg gehen, um als beste Rennsimulation ganz oben an der Spitze zu stehen. Und das ist dann am Ende genau das, was Indie Games bezwecken. Die Liebe zum anvisierten Spielkonzept nie aus den Augen zu verlieren. Auch wenn am Ende nicht viele leuchtende Augen zurückbleiben. Die Augen, die beim brachialen Anblick von DiRT Rally 2.0 fokussiert auf dem Bildschirm geblieben sind, leuchten um so kräftiger. Jetzt brauchst du nur noch ein Lenkrad und einen Racing Seat, um in der völligen Illusion des Rallyesports für Stunden versinken zu können, nur um dann Abends völlig entkräftet ins Bett fallen und von schlammigen Karosserien träumen zu können.

9/10 <3

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=5cQ9pF5Y1j0&w=560&h=315]

Developer: Codemasters
Publisher: Codemasters/Koch Media
Veröffentlichung: 26. Februar 2019 (PC, PS4, Xbox One)

Autorin: Benja Hiller
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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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