Tales of the Neon Sea hat eigentlich alles was dich im Point & Click Genre auch nur im entferntesten ansprechen kann. Eigentlich?
Rex lebt in einer dunklen, verwinkelten und völlig verbauten Stadt. Das einzige Licht, das hier in die Straßen dringt, scheint von den aneinandergereihten hell erleuchteten und blinkenden Werbetafeln zu kommen. Als Ex-Polizist verdient er sich als Privatdetektiv das Geld, das er zumeist zum Trinken am Abend wieder verpulvert. So auch nach einem mysteriösen Mordfall, den er zufällig mit seinem Kater William entdeckt. Die Ermittlungen wurden ihm jedoch untersagt und so sichert er im Suff einem Roboter zu seiner Vermisstenmeldung nachzugehen.
„A robot may not injure a human being or, through inaction, allow a human being to come to harm.“
Im klassischen Point & Click Adventure Tales of the Neon Sea leben im Jahre 2140 Menschen und Roboter zusammen in den Städten und doch irgendwie nebeneinander her. Immer wieder sind Spannungen Teil der Beziehung und doch gibt es für Roboter den implementierten Kodex niemals einem Menschen zu schaden. Die Grenzen zwischen Lebewesen und Maschinen verschwimmen zunehmend. Biomechanische „Ersatzteile“ für Menschen sind genauso Alltag wie Cyborg-Katzen. Palm Pioneers aus Chengdu, China haben eine unglaublich reichhaltige, wunderschön animierte 2D Pixelwelt erschaffen, in der vor allem die Details überragen. Eine in Neon getauchte Noir Atmosphäre durchschleicht den vorherrschenden Cyberpunk. Eine klassische Detektiv Geschichte inmitten der durchdachten retrofuturistischen Optik. Der Protagonist schreitet wehenden Mantels klassisch durchs Bild. Immerzu mysteriös verdeckt von seiner Augenbinde und dem Hut mit Kniff und Krempe. In kniffligen Situationen unterstützt von seinem Kater William. Tales of the Neon Sea wagt nicht nur eine optische Hommage an die Veteranen des Point & Click, es zelebriert eine Reinkarnation der Detailfreude. Es feiert höchste Pixelkunst.
Eine Stadt, so schön wie ihr Titelsong
Dabei wirft dich auch der Titeltrack des Adventures gleich zu Anfang in ein Bett aus sphärischen Klängen, die futuristische Bilder in dir erzeugen und irgendwie nach angesagter Keller Club Post-Rock-Formation klingen. Kein Wunder also, dass für die Komposition „The Last Sighs of the Wind“ verantwortlich sind und die Untermalung des Adventures immer auf hohem musikalischen Niveau stattfindet.
Die Zelebrierung des Retro bedeutet in Tales of the Neon Sea vor allem auch eines. Lesen, viel lesen. Eine Sprachunterstützung gibt es nicht. Unterhaltungen sind sehr ausführlich gestaltet und bieten bis in die kleinste Ecke der Stadt immer neue Möglichkeiten der Erkundung. Hier wurde nahezu jedem zumindest ein Satz auf den Leib geschrieben, auch wenn dieser mit der Geschichte nicht wirklich etwas zu tun hat.
Mensch, Katze
Als klassisches Point & Click Adventure platziert Tales of the Neon Sea seine Aufgaben äußerst organisch und plausibel. Um Beispielsweise einen Roboter zu reparieren musst du nicht erst endlose Kombinationsorgien durchleben. Du identifizierst die fehlenden Teile und suchst im Haus nach Alternativen. Ein alter Prozessor aus einem Elektrogerät wäre für ein älteres Robotermodell doch ziemlich passend? Für Dinge außerhalb deiner Reichweite baust du keinen mechanischen Angelausfahrantennenarm sondern fragst deinen Kater, ob er das gewünschte Teil mal eben vom Schrank schubst. Palm Pioneers verstehen es kleinere Rätsel und Aufgaben in die Mechaniken des Adventures einzufügen. Aus Hacken, Aufbrechen, Reparieren und Zusammenfügen werden kleine Logikpuzzle in Minigame Format. Zumeist offensichtlich, können sie sich jedoch auch als schwach erklärt oder ziemlich saftig herausstellen. Hier fehlt ein wenig Balance, die auch den Spielspaß beeinträchtigt. Zudem ziehen sich Kombinationen aus Rätseln, Puzzlen und Aufgaben zunehmend in die Länge.
Hin und wieder wechselt Tales of the Neon Sea zwischen Protagonist Rex und Kater William. Ja, du kommst tatsächlich in den Genuss den schwarzen Kater zu steuern. In einzelnen Abschnitten erledigst du Aufgaben, die für einen Menschen unmöglich sind. Sie fügen sich nahtlos in den Spielablauf ein und bilden einen seichten Übergang. Zudem arbeitet das Adventure mit einer Rekonstruktionsfunktion, um alle Hinweise des Tatortes zusammenzufügen. Immer wieder sind dann kleine, hin und wieder vollkommen entsättigte stilvolle Cutscenes Teil der Gesamtinszenierung.
Tales of the Neon Sea: Wie ein Faultier
Genau hier liegt jedoch das Problem von Tales of the Neon Sea. Es will in allen Belangen perfekt sein und vergisst ganz nebenbei das Fortschreiten der Story zu forcieren. Tales of… reiht komplexe Rätsel an plausible Besorgungen, die immer wieder von Gefälligkeiten für andere Personen unterbrochen werden. Das Adventure überall etwas neues integrieren, dabei besteht Detektivarbeit zumeist auch aus der Wiederholung. Der ständigen Beschäftigung mit ein und dem selben Thema. Die Geschichte des Spiels gerät so völlig aus dem Fokus während sich Rätsel immer weiter ausdehnen, mutiplizieren und aufstauen. Am Ende fühlst du dich wie an den schlimmsten Tagen deiner Depression, an denen sich Aufstehen, Waschen, Frühstücken und mit dem Hund rausgehen zu einem unbezwingbaren riesigen Aufgabenklotz vor dir aufbauen, der am Ende sowieso zu nichts führt und sich in jeder Ausdehnung zieht wie Inspector Gadgets Arm.
Zuerst ist es die Ausdehnung, dann plötzlich die Quantität. Gerade zur Mitte des 2. Kapitels steht alle paar Meter ein Bewohner der Stadt und sagt dir, dass du dies machen sollst um das zu bekommen, du hier nicht durchkommst, da du das noch brauchst oder dort erst etwas umprogrammieren musst, um den Teil zu erschließen. Der Verlust der narrativen Ebene in Abschnitten des Spiels verleiht Tales of the Neon Sea eine nicht dringliche Note. Sie lässt dich vergessen, warum du eigentlich unterwegs bist und verliert den eigentlichen Auftrag völlig aus dem Blick.
Nach sechs Stunden Spielzeit wurdest du von einem Fall abgezogen und bist auf dem Weg zu einem neuen. Genau das ist auch der Stand, den du schon zu Anfang des Spiels mitgeliefert bekommst. Zu einem Zeitpunkt, an dem kompakte Spiele schon wieder mit Credits um sich schmeißen und dieses Adventure noch immer sieben bis neun Stunden Spielzeit vor sich hat. Der Begriff Abenteuer verkommt zur Hülle, denn aufregend gestaltet sich das nun wirklich nicht. Die sich wie ein Faultier bewegende Story beeinflusst den Spielspaß leider ungemein. In diesem einen Punkt hätten Palm Pioneers der puren Retroliebe gerne ein wenig mehr Moderne einhauchen dürfen.
Zwischen überragender Kunst und fehlender Dringlichkeit
So entsteht ein völlig ambivalentes Verhältnis zwischen herausragender Kunst, imposanter Inszenierung und meisterhafter Musik auf der einen und zähen Rätseln inklusive der vernachlässigten Fortführung der Story auf der anderen Seite. Dabei ist hier eigentlich alles für einen spannenden Faden vorbereitet. Ein zwielichtiger Detektiv als Protagonist, der Zwist zwischen Robotern und Menschen, ein Kater als Sidekick, ganz viel cyberpunkiger Neon und noiriger Retrofuturismus. Nur kann Palm Pioneers all das nicht für eine kompakte, spannende Erzählung nutzen.
Es ist durchaus möglich sich allein in dem Setting zu verlieren, die Atmosphäre aufzusaugen, sich an den Rätseln und Aufgaben mit Freude abzuarbeiten und sich dem Wechselspiel aus Menschen und Katzenwelt hinzugeben. Doch mir fehlt allein das Warum? Der kleine Happen Aufregung. Die Vorfreude darauf hinter jeder Ecke einen Donutkrümel Story zu entdecken.
Das finde zumindest ich in Tales of the Neon Sea leider nicht. Ein schniekes, mit viel Liebe aufgebautes Universum leidet an den fehlenden Grundkniffen für aufregend aufgebaute, sich langsam steigernde Erzählungen. Ich mag es sogar, wenn sich Geschichten Zeit nehmen, ein paar Haken schlagen und einem nicht gleich alles ungehalten vor die Füße kotzen. Tales of the Neon Sea bewegt sich jedoch über viele Teile des Geschehens überhaupt nicht. Und das obwohl der Mantel des Detektivprotagonisten Rex so dynamisch im Winde weht. Vielleicht liegt aber auch das ganze Problem in der wenig dringlichen Englischen Übersetzung aus dem Chinesischen?
Es fehlt die Hingabe eines Detektiven immerzu neue Erkenntnisse zu finden statt Gefälligkeiten zu arrangieren. Verknüpfen, Suchen, Schlussfolgern, Nachdenken. All das geht in Tales of the Neon Sea verloren und geschieht mit zunehmender Seltenheit in einer Welt, die so herausragend intensiv und spannend zu sein scheint. So kann der Funke einfach nicht zu dir herüberspringen. Eigentlich war doch alles vorbereitet. Eigentlich!
6/10 <3
[youtube https://www.youtube.com/watch?v=hh17WC6aq1c&w=560&h=315]
Developer: Palm Pioneers
Publisher: Zodiac Games
Auszeichnungen: Best Game Grand Price (IndiePlay 2018), Excellence in Narrative (IndiePlay 2018), Nominiert als: Excellence in Visual Art, Narrative und Audio (Indie Price Casual Connect 2018), Best Game und Excellence in Visual Art (Game Connection Europe 2018)
Veröffentlichung: 30. April 2019 (Steam)
Autorin: Benja Hiller
Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.