Night Call Review | Taxigeschichten

In Night Call rückt der Fall um die Aufklärung eines Serienmordes in den Hintergrund. Und das ist verdammt gut so!

Manchmal reicht es aus, etwas als übergreifendes Thema aufzunehmen, nur um das, was du eigentlich erzählen willst, ins Rollen zu bringen. Immer mal wieder taucht ein Funken dieser Storyline auf, lässt den Spannungsbogen, von Unsicherheiten gespickt, nach oben schnellen. Er treibt die Protagonist_innen an. Doch wirklich relevant ist dieser Plottriebwagen, dieses Ding oder diese Person nicht. Er ist alles und doch irgendwie nichts. Wie der begehrte Koffer in Pulp Fiction, von dem du nicht mal den Inhalt kennst oder die $40.000 in Psycho. In der Filmtheorie wird daher bei solch einer Form der Ausprägung von einem MacGuffin gesprochen. Begründer der Theorien um den MacGuffin und der Suspense, also dem oben angesprochenen „in Unsicherheit wiegen“, ist der Kriminal- und Thriller-Meister Alfred Hitchcock.

Die Studios Monkey Moon und BlackMuffin ließen sich für ihre eigene noirlastige Kriminalgeschichte nicht nur massiv von diesen Theorien inspirieren, sie widmen ihrem Begründer sogar eine eigene Erzählung innerhalb der Visual Novel. Doch für Menschen, die sich hier intensiv der Aufarbeitung eines Kriminalfalles widmen und einen Serienkiller zur Strecke bringen wollten, scheint die Freude eher getrübt. Warum?

Ein einfacher Taxifahrer in Paris

Eigentlich bist du nur ein Taxifahrer, der die Menschen durch die Straßen von Paris kutschiert. Doch nun bist du auch das einzige Opfer eines Serienmörders, das überlebt hat. Und da die Polizei seit geraumer Zeit bei ihren Ermittlungen im Dunkeln tappt, kommt sie auf dich zu – schließlich bist du ja der einzige Überlebende; komisch, nicht wahr? Doch da du dich an die Nacht des Vorfalls nicht wirklich erinnern kannst, und somit kaum hilfreich in den Ermittlungen zu sein scheinst, wälzt die zuständige Kriminalbeamtin ihre Detektivarbeit einfach auf dich ab. Ab jetzt hast du sieben Tage Zeit, um auf deinen nächtlichen Taxischichten Hinweise und Aussagen zum ungeklärten Fall zu sammeln. Ansonsten werden sie dich zum Serienmörder erklären. Passt ja auch ganz gut, wo du dich eh an nichts erinnern kannst und mysteriöserweise der einzige Überlebende bist.

Sieben Tage also, die dir zu der Auflösung eines Mordfalls gegeben werden. Dazu die Namen fünf Verdächtiger und eine Handvoll Hinweise. Doch schnell wird klar, wenn du dich zu intensiv um diesen Mordfall kümmern wirst, kannst du deine Miete und deine Lebenshaltungskosten nicht mehr stemmen. Du bist schließlich Taxifahrer. Auf jede Sekunde der Nacht angewiesen, um sie per gefahrenen Kilometer in Geld umzuwandeln. Und das Geld reicht schon so nur gerade eben, wenn du die ganze Nacht durch fährst. Wie sollst du da die intensive Detektivarbeit der Polizei übernehmen? Womöglich noch Zahlungen für zwielichtige Informant_innen in den schummrigsten Ecken von Paris locker machen. Ein voller Tank, ein Rubbellos und die Tageszeitung. Das ist alles was geht. Es hilft nichts, irgendwie musst du die perfekte Balance aus Geld verdienen und Spurensuche finden, um dein Ende im Knast zu verhindern. Du setzt dich in dein Taxi und sammelst den ersten Fahrgast ein.

MacGuffin und Suspense in Night Call

Night Call setzt den gezeichneten und traumatisierten Protagonisten zurück in sein Taxi. Zurück an den Ort, an dem er von dem Serienkiller attackiert wurde. Zurück auf die Straßen der so unvorhersehbaren Pariser Nacht. Nie kannst du dir wirklich sicher sein, welche Geschichte du als nächstes zu hören bekommst, welche Informationen eventuell dazu beitragen den Killer ausfindig zu machen. Schnell bemerkst du, ungefähr jede_r hat etwas zu den Serienmorden zu sagen und jede_r schleppt sein_ihr eigenes Päckchen durchs Leben. Die Developer interessieren sich nicht wirklich für das Verbrechen. Hinweise generieren sich automatisch und erscheinen nach Sichtung der Akten auf deiner Verdächtigentafel. Groß sinnieren, zusammenfügen, rekonstruieren, musst du nicht. Es ist zwar möglich das Verbrechen allumfänglich aufzuklären. Doch in dieser schwarz/weißen Visual Novel ist nicht der vorgeschobene Kriminalfall das große Thema, sondern die vielfältigen Geschichten deiner Fahrgäste.

Ob häusliche Gewalt, Rassismus, Homosexualität, Religion, Obdachlosigkeit oder gar Geister, ganz normale Superhelden und Geisterjäger. Night Call ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, das dir mit seinen Fahrgästen so viele Geschichten, so viele Hintergründe und Schicksale nahebringt, dass der Serienmörder und deine drohende Verurteilung zur absoluten Nebensache degradiert werden. Wenn du mit Ruhe und Empathie nachfragst, ob bei deinen Fahrgästen alles in Ordnung sei und sie sich in der sicheren Fahrgastzelle dir öffnen, ist allein das der Grund, warum du dein Taxi durch Paris beförderst. Egal ob über einen sexuellen Übergriff geredet oder vom klassischen Hitchcock Kinobesuch berichtet wird. Night Calls Fahrgäste sind das Thema. Nachhaltig und emotional geschriebene Dialoge der Sinn dieses Narratives. Selbst der bei mir selten zu Tage beförderte Bug, der mich innerhalb eines Falles bei allen genannten Verdächtigen immer selbst verurteilt erscheint in letzter Konsequenz äußerst plausibel. Der Ausgang der Kriminalgeschichte ist einfach egal.

The streets… the passengers… their faces… their problems

Immerzu begleitet dich der fast voyeuristische Blick hinein in die Privatsphäre der Taxe. Immer im rechten Blickfeld der Protagonist und Fahrer. Sein Blick wechselt stets von der Straße in den Rückspiegel. Fast treffen sich eure Blicke, wenn ihr versucht die Gesten und Mimiken der Gäste auf der Rückbank zu interpretieren. Es sind deine Fragen, die die Hintergrundgeschichten offenlegen können, die Reaktionen erzeugen, völliges Schweigen oder Ablehnung auslösen. Wirkst du vertrauenswürdig, öffnen dir die Menschen ihr Herz. Der Blick auf das Innere des Autos, immer wieder durchbrochen von den kontrastreichen Szenerien der Stadt. Eingeworfene Atmosphäre aus prasselndem Regen, dem Blick aus dem Seitenfenster, vorbeiziehende Laternen und dem Taxischild auf dem Dach. Perfekt inszenierte Licht und Schattenspiele in schwarz und weiß, hinterlegt von klassisch noirig intonierten Jazz-oder Elektro-Klängen.

Night Call ist das Werk, das seine Vorgeschichte als Ausgangspunkt und Druckmacher platziert. Dich immer wieder zum Stand deiner Ermittlungen quält und mit Verurteilung droht, nur um sie im nächsten Moment durch ein mitreißendes Erlebnis deines Fahrgasts vergessen zu machen. Monkey Moon und BlackMuffin nutzen das vorgeschobene Detektivspiel, um ganz viel Gesellschaft und Mensch unterzubringen. Dich mit Themen zu konfrontieren, die du gerne abschütteln würdest. Doch genauso wenig, wie sie der Taxifahrer ignorieren kann, kannst du sie einfach abschalten.
Und genau das wird gleichermaßen für einige zum Problem, als für die anderen zum großen narrativen Meisterstück. Denn wenn du eine Detektiv-Ermittlungsgeschichte erwartet hast, wirst du diese in Night Call nicht bekommen. Stattdessen aber ein Werk, das sich für seine über 90 Figuren und dessen Interaktionen untereinander mächtig ins Zeug legt. Figuren, die noch lange auf dem Rücksitz deines Kopfes mit dir durch die stilistischen Straßen von Paris fahren werden.

8/10 🚕

Developer: Monkey Moon, BlackMuffin
Publisher: Raw Fury
Genre: Visual Novel, Narrative
Auszeichnungen: Excellence in Narrative (Independent Game Festival), Best Indie Game 2020 (Pégases)
Veröffentlichung: 17. Juli 2019 (Steam), 24. Juni 2020 (Xbox One, Xbox GamePass, Switch)

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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