Das Spiel mit der Zeit kann unvergessliche Momente zaubern oder dem Medium das Genick brechen. The Great Perhaps findet einen weiteren Weg.
Die Zeitreise ist ein beliebtes Erzählelement. In Perfektion fesselt sie deine Aufmerksamkeit durch exzellente Spannungskurven, brotkrumenartige Enthüllungen und mit nachvollziehbarer Logik. Bei achtsamen Umgang kann es dann auch ruhig mal etwas komplexer werden. Im schlimmsten Fall jedoch verzetteln sich Storywriter in Logiklöchern, Absurditäten und viel zu abstrakten Denkvorgängen.
Eine durchweg fesselnde Balance zu finden gelingt nur wenigen. Viele verlieren sich in der Anfangs nicht geahnten Komplexität der Aufgabe. Um diesem Dilemma bereits zu Anfang aus dem Weg zu gehen, halten Caligari Games ihre Struktur äußerst simpel und finden so einen Weg, der in kein Extrem fällt und sich dabei geschickt beiläufig durch alle Kniffligkeiten wurschtelt. Doch hält dich das dann noch genauso angespannt bei Laune?
„Ich fliege hier in meiner Rakete. Wer weiß ob ich meine Heimat, die Erde, jemals wiedersehen werde.“
Bei Außenarbeiten an einer Raumstation nehmen die beteiligten Astronauten einen riesigen Knall auf der Erde wahr. Während einige dorthin aufbrechen, bleibt ein bestimmter Astronaut zurück und wird in eine Art Hyperschlaf versetzt. Ganze 100 Jahre später wacht er wieder auf. Doch die Funksignale der Erde scheinen erloschen. Also bricht auch er zur Erde auf, um herauszufinden, was dort geschehen ist.
Eine postapokalyptische, unbewohnt scheinende Welt wartet auf ihn. Zwischen Ruinen, Kratern und zurückeroberten Gebieten der Natur, findet er eine geheimnisvolle Laterne. Durch ihren Schein kann er Schatten der einstigen präapokalyptischen Welt erahnen und für kurze Zeit sogar in diese zurückreisen. Ein machtvolles Instrument, das ihm bei der Suche des Ursprungs der Katastrophe helfen könnte.
„Ich bin der melancholische Astronaut und meine KI singt ein Lied, ich bin so ein…“
The Great Perhaps‘ Protagonist im blauen Astronauten Anzug erscheint zu Anfang des Puzzle-Adventures als äußerst melancholischer, gebrochener Charakter. Gezeichnet von dem Ereignis und den Eindrücken auf der Erde. Caligari Games bauen einen durchaus spannenden Plot auf, der durch die großartige, bedrückende Optik der Gegenwart an Spannung und Eindruck gewinnt.
Gequält von den Fragen was der Welt, was seiner Familie wohl zugestoßen sein mag, kann er mit hängenden Schultern vor Schwermut kaum die Lampe tragen. Einblicke in die lebhafte, sozialistisch scheinende Welt vor dem Ereignis schüren die Neugier. Die schlichte Lampenzeitwechselmechanik verbreitet schnelle Vertrautheit.
Zu diesem frühen Zeitpunkt scheint The Great Perhaps auf einem guten Weg. Du vermutest mit fortschreitender Spielzeit stückweise Offenbarungen. Immer wieder erwischt du dich dabei, zwischen den Zeiten zu wechseln, um ja nicht eines der vielen versteckten Details der unbekannten Welt zu verpassen. In seinem Gespür für Atmosphäre in Verbindung mit der tristen, comichaften Kunst glänzt Caligaris Erstlingswerk. Immer wieder erinnern dich versteckte Hinweise an die Zeitreiseaushängeschilder des Genres. Ein Zurück in die Zukunft Poster auf der Raumstation oder ein Bad Wolf Graffiti an der Wand sind nette Hommagen an die großartigen Konstrukteur_innen der besten Zeitreisegeschichten.
„Ich bin so ein lustiger Astronaut und ich singe ein Lied. Lalalalalala…“
Und doch, lange halten kann sich die Anspannung nicht. Das liegt vor allem an dem wenig fordernden Gameplay und der flachen Charakter- und Weltentwicklung.
Um undurchsichtigen Aufgaben und Forderungen aus dem Weg zu gehen, werden in The Great Perhaps zumeist einfache Rätselaufgaben angewendet. Sie bestehen darin, in einer der zwei Zeitzonen etwas mitzunehmen, um es in der anderen Zeitzone anzuwenden. Oder durch das Switchen zwischen den Zeiten Barrieren aus dem Weg zu gehen.
Über knapp drei Stunden Spielzeit gibt es keine ansteigende Forderungskurve. Der verhaltene Umgang mit den Möglichkeiten der Zeit lässt das Puzzle Adventure mit jedem Fortschreiten unnötig beliebig und vorsichtig dastehen. Zudem bereitet die behäbige Steuerung immer wieder Probleme. Fehlende Präzision und Unvorhersehbarkeiten lassen manch Aufgabe zum Glücksspiel mutieren. Das spitzt sich vor allem zu, wenn du schnell mit der Funktion der Lampe reagieren und einen Zeitsprung vollziehen sollst. Die Mechanik der Laterne ist für Abschnitte, die diese Fähigkeiten verlangen mit ihrer behäbigen Anlage nicht ausgelegt. Immer wieder hörst du deine Begleiterin – die aus dem Raumschiff mitgeschleppte Künstliche Intelligenz – sagen: „Is this the end?“ Für deinen Geduldsfaden womöglich bald, ja! Einfache Elemente werden so zur unüberwindbaren Hürde.
Und auch die zu Anfang so schmackhaft eingeführte Welt, die so viel Potenzial birgt, erleidet das Schicksal der Gewöhnung. Denn durch den minimalen Kontakt mit den Menschen der früheren Umgebung und der unglaubwürdigen Charakterentwicklung des Astronauten, fehlt jegliche Bindung zur Welt. Der zuvor überaus depressive, melancholische und fast suizidale Astronaut steigt innerhalb von Sekunden zum motivierten Weltretter auf.
Der Anfangs spannende Sprung durch die Zeit etabliert sich als nötiges Übel, um voranzukommen. Details und Ideen bleiben gefangen in einem Käfig aus Vorsicht. Caligari Games wollen dich nicht überfordern. Zu viele schlechte Inkarnationen der Zeitreisegeschichte haben sie übervorsichtig werden lassen. Ein bisschen mehr Mut stünde The Great Perhaps jedoch sehr gut.
The Great Perhaps = The Great Perplex
Vom großen einschneidenden Ereignis, über Ungläubigkeit bis zur Entlüftung am Ende vergehen etwa drei bis vier Stunden Spielzeit. Eine Reise, in der deine Erwartungshaltung immer weiter abflaut, du jedoch trotzdem zumeist vergnügt mit deinem Astronauten durch die heile und zerstörte Welt umherhüpfst.
Durch seine überaus sensible Art besitzt Caligaris Puzzle-Adventure eine absurde Spannungskurve. Sie beginnt auf dem Gipfel des Matterhorns, saust mit jedem Schritt des Astronauten ins Tal und beschäftigt oder frustriert dich durch geforderte Aufgaben in ihrem Flachland. Abschließend ergibt sie sich ihrem Schicksal durch gemächliches Auslaufen dieser Kurve mit einem leichten Hügel in der Mitte und einer kurzen Kategorie 3 Erhebung zum Schlusssprint.
Caligari Games haben nach anfänglicher Euphorieverbreitung den Zeitpunkt verpasst, an dem sie The Great Perhaps mit Inhalt, mit Dramatik füllen müssen. Inhalt, der dich in die Welt hineinzieht, der dir den Durst nach Information stückchenweise löscht und dich nicht streckenweise verdursten lässt. Undurchsichtige Welten brauchen immer wieder Anhaltspunkte, die dich mitreißen wollen, um dich storytechnisch fesseln zu können.
Das Adventure ist keines dieser perfekten Erlebnisse. Aber es ist auch keines dieser absoluten Fehltritte. Dafür ist die aufopferungsvolle Gestaltung beider Zeitzonen inklusive der Einführung viel zu mächtig. Der Astronaut im blauen Anzug wandelt auf der sicheren Seite durch die Zeit. Nimmt sich hier mal einen Loli und dort ein Zahnrad. Am Ende kommt er ohne aufgeschürfte Knie ans Ziel, aber eben auch ohne Nennenswertes erlebt zu haben.
The Great Perhaps ist ein audiovisuelles Zuckerstückchen, angereichert mit Szenen und Konversationen zum wahlweise Schmunzeln oder betrübt dreinschauen. Ein Ereignis, das dich nicht zu sehr beanspruchen will. Es beschäftigt dich für die nötige Zeit mit logischen Aufgaben und nettem Lampengimmick, verfehlt am Ende aber das Ziel des aufreibenden Zeitreiseabenteuers.
Caligaris Puzzle Adventure geht den wenig strapaziösen Weg, der niemandem vor den Kopf stößt, aber am Ende auch wenig hinterlässt. Weder schlechtes, noch gutes. Es vermittelt eine flache Spannungskurve mit zu wenigen Offenbarungen. Es ist der nette Zeitsprung für zwischendurch. Weder zwingend, noch abartig verärgernd. Es ist die geschickte Vermeidungsstrategie, die am Ende zur Zufriedenheit verdammt aber nicht beglückt. Damit ist The Great Perhaps tatsächlich eine eigenwillige Ausdehnung innerhalb der Zeitreisegeschichten.
6/10 <3
Developer: Caligari Games
Publisher: Daedalic Entertainment
Veröffentlichung: 14. August 2019 (Steam)
Autorin: Benja Hiller
Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.