F1 2020 Review | Die perfekte Runde

Nur ein weiterer Teil einer Reihe? Von wegen! Codemasters zeigen mit F1 2020, was Leidenschaft und Herzblut anrichten können.

Monaco. Es war immer Monaco. Der erste Kurs eines neuen Formel 1 Spiels. Der erste Kurs eines jeden Rennspiels, das ich gestartet habe und dessen Line-Up den anspruchsvollen Stadtkurs in sich trug. Der ultimative Test für Fahrer_in, Auto und Technik des Spiels. Nur hier kannst du ziemlich schnell alle Stärken und Schwächen nach weniger als eineinhalb Minuten offenlegen. Doch in diesem Jahr ist etwas anders im Staate F1. Eine Strecke weckt meine Neugier wie keine andere zuvor. Eine Strecke, die vom Covid 19 beeinflussten realen Rennkalender 2020 hinten runtergefallen ist. Von der Formel 1 wurde sie gar 1985 zum letzten Mal besucht. Ein Kurs am Rande der Nordsee.

Natürlich führt in diesem Jahr der erste Weg unmittelbar auf die Dünenachterbahn von Zandvoort, Niederlande. 4,3 km ohne wirklich nennenswerte Geraden. Hier hat alles zumindest einen leichten Knick, um sich an die hügeligen Eigenschaften der Dünen anzupassen. Diesen Kurs habe ich, seitdem ich Ende der 1980er Jahre anfing Formel 1 Spiele zu genießen, nie besucht. Der erste Gummiabrieb wird also zum aller ersten Mal von Schumachers alten Arbeitsgerät, einem Benetton B194, auf dem überarbeiteten Circuit Zandvoort hinterlassen. Zwischen Meer, Sandkrümeln, Steilkurven und einem Hauch von Nostalgie.

Alles neu macht F1 2020

Doch das ist nicht die einzige Neuigkeit in F1 2020, dem neusten Ableger der digitalen F1-Rennserie. Fast scheint es so, als hätten Codemasters nahezu alle Social Media Kommentare gelesen, gefiltert und eine Hitliste der meistgenannten Wünsche erstellt, um sie in diesem Jahr im Spiel zu integrieren. Da sind die unumgänglichen neuen Strecken des diesjährigen Rennkalenders nur logische Konsequenz. Wie auch authentisch eine Rennserie nachspielen, wenn nicht alle Kurse verfügbar wären? Also bitte! Drum kramten die britischen Entwickler_innen weiter in der Wunschliste. „Wir wollen den Splitscreen zurück!“ Achso, ja kein Problem, hier biddeschön. „Ich will individuelle Rennkalender!“ Ja sag das doch gleich. 22, 16 oder 10 Rennen? Nur deine Lieblingsstrecken? Here you go! „Ziemlich doof, dass reale Fahrer verschwinden, wenn mein_e eigene_r Fahrer_in das Feld kapert!“ Achso ja, pass auf! Dann kombinieren wir das mit diesem Vorschlag. „Ich will mein eigenes Team!“ Aber natürlich, Team 11 in der Startaufstellung ist dein.

Nachdem ich also die obligatorische Umrundung des Kurses von Monaco an die zweite Stelle der To-Do Liste eingereiht habe, werde ich in der Folge gleichzeitig zur Fahrerin und Teambesitzerin. Das hält mir dann auch gleich mal der Moderator des Eröffnungsevents vor, wie ich das denn bitte managen will. Die Idee der Kombination aus Fahrer_in und Teameigentümer_in ist zwar nicht neu, hat es aber in der modernen F1 schon lange nicht mehr gegeben. Zu überwältigend die Aufgabenzettel beider Jobausschreibungen. Und doch, mit einem schelmischen Grinsen antworte ich: „Ich weiß was ich tue.“ Ich suche meine 10 Lieblingsstrecken aus dem aktuellen Kalender – angelehnt an die verkürzte aktuelle Saison – schnappe mir mit Anthoine Hubert (RIP) einen Teamkollegen, schaffe Sponsoren an Land und klebe deren Logos auf meinen weiß-minten Boliden. „Go Team Rocket Rocky!“

„Keep it Flatout!“

Überhaupt lässt dich F1 2020 so ziemlich alles noch detaillierter einstellen, als es die Vorgänger bereits zugelassen haben. Fahrhilfen sind noch differenzierter, aber auch übersichtlicher, Schwierigkeitsgrade individueller und der Anspruch der authentisch agierenden KI ohne große Sprünge in Einerschritten einstellbar. Von „auf Schienen fahren“ bis ungestümer Heckschleuder ist hier alles möglich. Dann richten es entweder deine Helferlein, wenn du den Finger mal wieder nicht von der Gas-Schultertaste lassen kannst oder deine Jedi-Reflexe. Wenn Codemasters mit der neusten Inkarnation nicht alle von Sonntagsfahrer_in bis Renncrack allein mit ihren Einstellungsmöglichkeiten einsammeln, dann wird es vermutlich das suchtfördernede Fahrgefühl richten. Denn das, was du da in den roheren Einstellungen von Codemasters F1-Welt zu erleben bekommst, ist verdammt anstrengend. Im positivsten aller Sinne. Was du da fährst ist die digitale Version der brutalsten Fahrzeuge der Welt. Auf den Boden gepresste Raketen, die so ziemlich alles sofort umsetzen, was du ihnen aufzutragen vermagst.

Und genau das spüre ich zu jeder Zeit in meinem Xbox One X Controller, der von meinen Daumen und Fingern immerzu hektisch maltretiert wird. (Ich wünsche mir einen Playseat herbei) Jede Bewegung im Minimalbereich auf deinem Controller hat direkte unumkehrbare Auswirkungen auf dem Bildschirm. Ein stoisches Stück High-Tech auf Rädern, das bei jedem unsensiblen Umgang seine tollkühnen Reiter_innen wahlweise über die Strecke trudeln lässt oder in die nahegelegene Barriere befördert. Die perfekte Balance ist hier dein Ziel. Das brutale Sportgerät und seine übermäßigen G-Kräfte so umsichtig um den Kurs zu lenken, dass am Ende die perfekte Runde steht. Und genau das bereitet eben erst so richtig Spaß, wenn genau du der_die Herrscher_in über die Urgewalten des im Fahrzeugbau möglichen bist. Und genau das gelingt Codemasters wieder einmal noch eindringlicher als jemals zuvor. Das Limit zu jeder Zeit spürend.

„Das einzige was mich in F1 2020 stört ist, dass Lewis Hamilton keine langen Haare hat.“

Die Präsentation von F1 2020 gibt das Gefühl mittendrin im reisenden Rudel zu stecken. Ob die dir übertragene Verantwortung von Finanzen, Upgrades von Aeropaketen oder Vertragsverhandlungen. Sei es das Umfeld an Rennwochenenden, die fernsehreife Inszenierung, die im Sonnenschein glänzenden Fahrzeuge oder der generelle Tiefgang in allen Bereichen. Von Arcade-Belustigung bis E-Sport Simulation. Bei all der Präzision, der Schönheit der Fahrzeuge und Strecken. Irgendwo schleicht sich dann doch die eine kleine Komponente ein, wegen der du den weiten Weg von deinem Zimmer zu dem deiner Mitbewohnerin antrittst. „Das einzige was mich stört ist, dass Lewis Hamilton keine langen Haare hat.“, wirfst du kurz in den Raum. Doch bei der Reflexion dieses Satzes ist es eben nicht nur die aktuelle Frisurenwahl des sechsmaligen Weltmeisters. Im Design verschiedener Charaktere schleicht sich eine minimale Beliebigkeit ein. Setzen wir den Fahrer_innen einfach den Sponsorenhut auf, dann brauchen wir uns um Frisuren keine Gedanken mehr machen!

Ja, ich muss zugeben, Codemasters Stärke sind weder individuelle Styles, noch groß angelegte Menschenaufläufe oder die Kreation von abwechslungsreichen journalistischen Fragen. Auch wenn letztere, gerade in My Team, eine brauchbare Überarbeitung erfahren haben. Seit Jahren wirken eben genau die Fahrer_innenmodelle gleich steif. Und genau das trifft jetzt auch mich, weil ich gerade im Begriff war meine erste 10 in diesem Jahr zu vergeben und ebenfalls einsehen musste, dass es tatsächlich noch etwas zu tun gibt, um die perfekte Illusion zu erbauen. Ein Patch, wie der, der alle Erscheinungen der Autos aktualisieren wird, ist auch für die Fahrer der aktuellen Saison nötig. Codemasters, schreibt das auf den auszuwertenden Wunschzettel fürs nächste Jahr. Inklusive der sichtbaren Abnutzung der Reifen und liegengebliebene Gummikügelchen auf der Strecke. Eine Anhebung der schon recht beeindruckenden visuellen Ebene, die mit der nächsten Konsolen-Generation eventuell möglich wird, das wünsche ich mir.

“Look out there. Out there is the perfect lap. No mistakes. Every gear change, every corner. Perfect. You see it?“

Für F1 2020 hätten sich Codemasters nach der Einführung der F2 im letzten Jahr zurücklehnen können, neue Strecken liefern, hier und da ein paar Anpassungen machen können und ein erneutes ziemlich gutes Racing-Game wäre das Ergebnis gewesen. Doch die unabhängigen Entwickler haben sich abermals dazu entscheiden, das gelebte Herzblut in die Serie zu pumpen und die Rennspielreihe nicht nur erneut mit wertvollen Inhalten anzureichern, sondern sich mit Spieler_innen, Techniker_innen und Fahrer_innen zusammenzusetzen, um das Optimum aus den vorhandenen Kapazitäten zu kitzeln. Der umfangreiche My Team Mode und der Splitscreen sind nur die offensichtlichen Vertreter einer Philosophie, die genau wie die Teams in der Formel 1, jedes Jahr die Besten sein wollen. Wenn mein Bolide in der Garage angeschmissen wird, knattert, hallt und bollert es famoser als jemals zuvor. Angestrengt drehe ich meine Runden über die verschiedensten, bis ins kleinste Detail ausgemessenen Kurse, während der hochgezüchtete Hybrid-Motor mich von einem Surren unterlegt anbrüllt.

Ich grinse wie ein kleines Kind zu Weihnachten, das gerade seine lang gewünschte Konsole in der Hand hält, während ich eigentlich voll konzentriert durch Spitzkurven und Schikanen jage. Kaum Kapazitäten frei, hängt mir der Techniker im Ohr und fragt, ob ich die Strategie anpassen will? „Ja, aber wann denn bitte?“ Selten, wirklich selten habe ich so viel Spaß, bin gleichzeitig hochkonzentriert und später so ausgelaugt. Und doch, das Grinsen bleibt. Egal ob auf einem von mir geliebten Kurs, einem neu gewonnenen Favoriten wie Zandvoort, beim Upgraden der einzelnen Bereiche meines eigenen F1-Teams, im Splitscreen, auf Schumachers Spuren oder auf meiner meistgehassten Strecke. Immerzu zaubert mir die Perfektion des Gameplays und das Herzblut für diesen Sport, das Codemasters einfließen lässt, ein markantes Schmunzeln ins Gesicht. Und genau dann weiß ich, F1 2020 wird mich noch lange begleiten. Auf der Suche nach dem einen Zehntel weniger. Auf der Jagd nach der perfekten Runde.

9/10 🏆

Developer/Publisher: Codemasters
Genre: Rennsimulation
Veröffentlichung: 10. Juli 2020 (Steam, PS4, Xbox One, Stadia)


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Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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