Mysteriöse Ereignisse entzünden nicht nur den Plot im Thriller Erica, sondern immer wieder auch ein Feuerzeug.
Wie unglaublich scharf ich als Kind darauf war, in einem Film Entscheidungen selbst treffen zu können. Wie cool es wäre, wenn es sowas als Videospiel geben würde, dachte ich immer, unwissend, dass gerade das SEGA CD mit Night Trap beispielsweise längst solche Spiele etabliert hatte. Im Club Nintendo Magazin, das ich ordnungsgemäß abonniert hatte, war davon natürlich nie die Rede. Demnach war mein Erstaunen groß, als ich zumindest erste Full Motion Videoschnipsel – also Szenen innerhalb eines Videospiels, die nicht berechnet wurden, sondern gedrehte Fimsequenzen zeigen – in Wing Commander oder Command & Conquer sah. Zugegeben, mit zehn Jahren war ich auch einfach nicht die Zielgruppe für Spiele wie Night Trap. Es war also möglich echte Schauspieler_innen in ein Videospiel zu bekommen, ich sollte aber viele weitere Jahre warten müssen, bis ich auf einen interaktiven Film traf.
„Erica, how are you looking so beautiful?”
Inzwischen durfte ich einige Vertreter des Genres erleben. Dabei stellt die Frage der eigentlichen Interaktivität für die Produzent_innen immer einen Eiertanz dar. Wie viel kann ich den Spielenden zutrauen, dass der Fluss der Story nicht leidet, wie wenig Interaktion kann ich wagen, bevor die Menschen doch wieder nur meinen, einen klassischen Film zu sehen? Organische Integration ist nötig. Die meisten Studios gehen den Weg der Entscheidungen. Der Film läuft, bis du Antworten zur Verfügung gestellt bekommst oder dich an einer Abzweigung in der Handlung befindest. Wenige trauen sich hier so konsequent zu agieren, dass an manchen Abzweigungen eben das abrupte Ende des Films wartet und die Herausforderung darin besteht, mit den gewonnenen Informationen den „richtigen“ Pfad zu finden. Eine Art lineare Handlung innerhalb der scheinbaren Entscheidungsfreiheit. Andere integrieren Point-and-Click Mechaniken, um Spielende ins Geschehen zu involvieren. Eines haben aber fast alle FMVs gemein, sie schwanken unglaublich in ihrer Qualität.
Die Menschen bei Flavourworks verbinden beide bekannten Mechaniken aus Point-and-Click Elementen und Entscheidungszweigsystem mit einem weiteren, weitaus mehr an Gestensteuerung erinnernden Touch. Im Live-Action Thriller Erica darfst du alltägliche Bewegungen mit der Maus nachahmen. Der PC hat bloß leider kein Touchpad oder eine PlayLink App, auf dem oder der du die Gesten mit dem Finger nachwischen kannst. Ein Laptop könnte helfen, sonst bleibt das umständliche nachzeichnen mit der Maus. Ein Umstand, der von der PS4 Exklusivität hin zum PC-Port angepasst werden musste. Und so schiebst du deine Maus lange Wege über den Schreibtisch, um Türknaufe zu drehen, Boxen und Koffer zu öffnen und Feuerzeuge zu zünden. Natürlich nicht, ohne es vorher aufgeklappt zu haben. Schließlich erzeugt nur das gute alte Sturmfeuerzeug das richtige Ambiente für einen Thriller.
„Erica, did you hear she said yes?”
Was mich überhaupt erst zu Erica getrieben hatte, weswegen es ebenfalls schon auf meiner PS4-Wunschliste landete (als es die noch gab), war der Production Value, der dem Thriller anzusehen ist und der Soundtrack von Austin Wintory. Flavourworks haben sich Filmproduzent_innen und Schauspieler_innen ins Team geholt, die verstehen wie ein Thriller auszusehen hat. Heißt, äußerst skurrile Cringe-Momente, wie sie zur Anfangszeit mit Laiendarsteller_innen-Niveau noch recht normal waren, konnte ich ausschließen. In Erica gibt es eine treibende mysteriöse Atmosphäre und tolle Kameraeinstellungen. Auch wenn der Cast in seiner Breite nicht komplett überzeugt, das Gros der Schauspieler_innenleistungen fühlt sich durchaus organisch an. Wenn du denn den Umstand betrachtest, mit was sie hier eigentlich hantieren. Im Mittelpunkt der Handlung steht die von Albträumen des Mordes an ihrem Vater geplagte titelgebende Erica. Doch Albträume bleiben hier nicht nur Albträume, weswegen sie von den traumatischen Ereignissen ihrer Kindheit schon bald in der Realität heimgesucht wird.
Was innerhalb der Produktion also durchaus Potenzial birgt, verfranzt sich in einer viel zu hastig erzählten Story. Erica versteift sich darauf unglaublich interaktiv zu sein, vergisst aber dabei, was ein Film braucht, damit er elegant erzählt an sein Ende gelangt. Und so wird dem Anzünden des Feuerzeugs, dem Paket auspacken oder der Türöffnung viel zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zeit, die für eine nachvollziehbare Geschichte am Ende fehlt. Jede interaktive Aktion, jede repetitive Handlung der erneuten Gestik reißt mich zunehmend aus dem gerade Erlebten heraus. Eckpunkte der Erzählung weichen der selbstauferlegten übertriebenen Interaktivität. Mit einem derartigen Gerüst hat die filmische Ebene bei zwei Stunden Spielzeit überhaupt gar keine Chance adäquat zu erzählen, was für den Thriller aber wichtig wäre. Ich sehe Szenen, die sich mühsam aber unglaublich hastig zur Spitze hieven, ohne mich auch nur ansatzweise abholen zu können. Ihnen fehlt Zeit.
„Erica, I don’t have time to be charmed today.”
Zeit, um Motivationen von Charakteren herauszuarbeiten. Zeit, um die psychiatrische Einrichtung als absolutes Mysterium zu etablieren. Und vor allem Zeit, eine plausible Struktur und Handlungsweisen zu verfestigen. Ich habe absolut keine Anhaltspunkte wie ich für Erica entscheiden soll, wie ich den Ermittler oder den Leiter der Einrichtung einzuschätzen habe. Wenn etwas Exposition verwendet wird oder Zusammenhänge den Anschein eines Auftauchens andeuten, genau dann darf ich alle Schnallen vom Koffer öffnen, die Sicht raus zum Fenster freiwischen oder mein Feuerzeug zünden. Und das funktioniert so gut, dass ich schon nach drei Versuchen keine Lust mehr habe noch einen weiteren Versuch zu starten. Interaktivität macht aus einem mäßigen, viel zu verwaschen und unvollständig erzählten Film eben auch keinen guten. Eher streicht genau diese Fehler auf Seiten der Basis noch heraus. Am Ende wirkt die erzählte Story einfach nur wirr. An meine Handlungen kann ich mich schon Sekunden später nicht mehr erinnern.
Selbst wenn ich gewollt hätte. Zur Zeit meines Playthroughs hätte Erica mich nicht aussteigen lassen. Denn jedem Klick auf Exit folgte das Einfrieren des Spiels. „Du bleibst so lange hier, bis du das zu Ende gespielt hast.“ Ein Thriller, der vor allem vom Spannungsbogen und dem Halten der Spannung lebt, ist so zum Scheitern verurteilt. Durch das immense Integrieren von alltäglichen Situationen bricht Erica immer wieder mit diesem Bogen. Es erzeugt einfach keine Spannung an einer Schleife zu ziehen, die Tür zu öffnen oder das Feuerzeug zu entzünden. Und schon gar nicht 50 Mal innerhalb von zwei Stunden. Da ist es egal, ob der eigentliche Film ein guter oder ein schlechter ist. Selbst Hitchcock hätte mit seiner Suspense nichts mehr richten können und wäre vor Langeweile vom Glockenturm gefallen. Alles was in meinem Kopf übrig bleibt, ist ein zu oft gezündetes Feuerzeug und Mr. Peanutbutter, der pausenlos nach „Erica“ ruft.
4/10 😒 🔥
Developer/ Publisher: Flavourworks
Genre: FMV, Thriller, Interaktiver Film
Musik: Austin Wintory
Veröffentlichung: 19. August 2019 (PS4), 15. Januar 2021 (iOS), 25. Mai 2021 (Steam)
Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.