Ein Sci-Fi-Archäologieabenteuer, das mit der Übersetzung von Hieroglyphen wächst. Jon Ingold von inkle im Interview zu Heaven’s Vault.
Das antike Sci-Fi Archäologieadventure Heaven’s Vault benutzt ein einzigartiges Übersetzungssystem sowohl als narratives, als auch als treibendes Puzzleelement im Spiel. Schon in meiner Review zum Release war ich fasziniert davon, wie unglaublich intensiv und natürlich Archäologische Arbeit und Übersetzungen funktionieren. Wie damit deine Neugier angetrieben wird, auch die letzten Hieroglyphen einer antiken Ära der Welt Nebula zu übersetzen. Doch es ist nicht nur das losgelöste puzzeln. Developer inkle formt aus deinen Übersetzungen eine Geschichte, die mit deinen Entdeckungen individuell wächst, ohne auf vorgefertigte Abzweige zurückzugreifen. Du entscheidest in welche Richtung es geht, was du als nächstes tust und wie du es tust. Und am Ende ist dabei sogar noch eine Schrift entstanden, die dir die Opening Lyrics von Daft Punks „Get Lucky“ in antiker Gestalt darstellen kann.
Wie all das überhaupt möglich ist und wie viel Arbeit und Recherche allein in der Entwicklung des Übersetzungssystems und der daraus entstehenden Welt steckt, darüber konnte ich im Sommer 2019 mit dem Narrative Director von inkle, Jon Ingold, sprechen. Herausgekommen ist ein so umfangreicher und tiefer Einblick, der mich ständig hat über dem Dokument sitzen lassen, bis ich endlich doch beschloss: all das ist zu interessant, als dass ich es nicht ungefiltert und komplett weitergeben möchte. Pünktlich zum Erscheinen von Heaven’s Vault am 28. Januar 2021 auf der Switch also hier, das Interview mit Jon Ingold über das so außergewöhnliche Hieroglyphen-Übersetzungssystem und dessen Einfluss auf die Spielwelt und die Narrative in Heaven’s Vault.
Benja Hiller: Wie ist die Idee entstanden, in Heaven’s Vault ein Übersetzungssystem für Hieroglyphen als vorherrschendes Puzzleelement zu kreieren?
Jon Ingold: Heaven’s Vault startete genau mit einer Idee: Weltall Archäologie. Wir wollten ein Science-Fiction Spiel machen, in dem die Spieler_innen einmal nicht nur Space Marine oder Raumschiff-Pilot sein sollten, sondern etwas anderes. Etwas, das uns erlauben würde all unsere Stärken des World-Buildings und unsere narrativen Skills auszuspielen. Die Archäologie schien wie ein guter Wegbereiter dazu.
Wir hatten also einen guten Anfang, aber was macht so ein Archäologe eigentlich? Wir versuchten uns an vielen verschiedenen Mechaniken, aber die Übersetzung war es, die herausstach. Es ist ein Puzzle, aber anders als bei gewöhnlichen Puzzle, ist es nicht willkürlich – Jede Inschrift wurde von jemandem geschrieben – aus einem bestimmten Grund. Jede Lösung kann einen Teil der Geschichte der Welt formen. Und die Sprache selber erscheint ebenfalls äußerst reichhaltig: Jeder einzelne der Hieroglyphen erzählt seine eigene Geschichte, die Art, wie Wörter aufgebaut sind können die Kultur beschreiben.
Die Übersetzung fühlte sich nach einem unglaublich kreativen Weg an, der Gameplay, World-Building und Storytelling zusammen brachte.
Benja: Gibt es eine Sprache oder existierende Hieroglyphen, die das System und die Struktur in Heaven’s Vault inspiriert haben?
Jon: Die Sprache in Heaven’s Vault zieht seine Inspirationen aus vielen verschiedenen Sprachen und Schriftsystemen. Keilschrift und Hieroglyphen inspirierten die Grundformen der Zeichen und die Kernmechanik, Formulierungen in Wörter zu unterteilen, da beide üblicherweise ohne Leerzeichen geschrieben wurden. Wir ließen uns ebenfalls von der Art, wie Chinesische Piktogramme aufgebaut und zusammengesetzt sind inspirieren, sodass ein Symbol das andere in Aufbau und Bedeutung unterstützen kann.
Die Idee einer Sprache, die aus Assemblierungskonzepten aufgebaut ist, hat ihre Wurzeln im Deutschen (obwohl Englisch dies auch sehr oft tut). Andere Ideen borgten wir uns aus dem Finnischen oder dem Lateinischen.
Aber vor allem waren wir uns bewusst, dass das Gameplay an erster Stelle steht – es sollte Spaß machen die Sprache entziffern zu wollen. Wir haben hart daran gearbeitet unsere Sprache auf ein sehr logisches Maß herunterzubrechen, was echte Sprachen oft nicht besitzen. Um sicherzustellen, dass das Spielen auch wirklich Spaß machen würde.
Benja: Waren Archäologen am Entwicklungsprozess beteiligt und gab es einen Austausch mit Menschen, die als Historiker_innen arbeiten?
Oder habt ihr im inkle Developer Team Menschen, die sich für Archäologie und Geschichte interessieren? Was genau habt ihr unternommen, um alle nötigen Informationen zu erhalten, die es für euch ersichtlich machen, wie solch ein Übersetzungsprozess funktioniert, der am Ende dann das authentische und natürliche Gefühl beim Spielen transportiert?
Jon: Mein Mitbegründer des Studios (Joseph Humfrey) und ich kommen beide aus akademischen Familien: Joe’s Vater ist Kunst-Historiker, seine Frau Sozialwissenschaftlerin; mein Vater ist Anthropologe und meine Frau besitzt ebenfalls einen Abschluss in Anthropologie. Die Welt der Wissenschaft und der Geisteswissenschaften ist uns demnach nicht fremd! In gewisser Weise haben wir also unser ganzes Leben lang Gespräche geführt, die zu diesem Spiel geführt haben und die Liste von Menschen, die die Entwicklung der Geschichte beeinflusst haben ist ziemlich lang.
Eine unserer wichtigsten Inspirationen war die Arbeit von Dr. Monica Hanna, eine Ägyptologin, die die archäologische und politische Lage des modernen Ägyptens zusammenbringt und darüber spricht, wie wichtig die Historie für gegenwärtige Kulturen ist. Die Entdeckung ihrer Arbeit war ein Schlüsselmoment in der Entwicklung des Spiels, der mir half zu verstehen, worum es in der Geschichte gehen könnte. Wir haben sie über Twitter kontaktiert und sie hat das Spiel sogar gespielt, was und sehr glücklich gemacht hat.
In der Archäologie der Fiktion geht es so oft darum, antike außerirdische Superwaffen zu entdecken, aber die Archäologie in der realen Welt ist ebenso wichtig: Sie prägt unsere politischen Überzeugungen, unser Gefühl dafür, was richtig und falsch ist, was möglich und was nicht akzeptabel ist.
Benja: Wie funktioniert das ganze Übersetzungssystem und wie habt ihr letztendlich aus dem Wortstamm gängige Wörter wie Haus, Zuhause oder Tempel entwickelt?
Jon: Die Entwicklung der Sprache war ähnlich wie die aller Designarbeiten, ein Prozess des Vor und Zurück, um Dinge auszuprobieren. Wir begannen mit einigen Ideen wie Kernelemente der Sprache aussehen könnten – so zum Beispiel ein Bausteinsymbol für eine „Person“ oder für eine „Emotion“. Dann haben wir uns angeschaut, wie viel wir aus dem, was wir hatten, kreieren können, um der Sprache nach Bedarf die neuen Symbole, die wir benötigten, hinzufügen zu können
Und so mussten wir in manchen Fällen aus narrativen Gründen einige Symbole wieder herausnehmen. Denn selbst die Liste der Kernhieroglyphen, die wir haben, sagt etwas über die Welt aus! Wenn die alte Sprache von Robotern entworfen worden wäre, hätte sie möglicherweise keine Kernzeichen für Emotionen. Aber vielleicht hätte sie ein Kernzeichen für Roboter?
Für längere Worte war die Narrative der Konstrukteur. Das Wort für „Gott“ – das sehr früh im Spiel eingeführt wird – enthält eine große Offenbarung über die Welt der Nebula, sobald du verstehst was die Kernsymbole im Wort bedeuten.
Mein Lieblingsbeispiel ist der Titel des Spiels. Während unserer Marketingkampagne haben wir überall die antike Übersetzung von „Heaven’s Vault“ integriert und gezeigt. Diese antike Übersetzung enthält einen enormen Spoiler… aber nur, wenn du die Sprache auch lesen kannst. Es war eine Freude Spielenden bei dieser Entdeckung zuzusehen.
Benja: Wie lange habt ihr an Heaven’s Vaults Übersetzungssystem gearbeitet, bevor ihr sicher wart, dass es mit all den Ähnlichkeiten und Vergleichsmöglichkeiten zu verwandten Wörtern funktionieren würde?
Jon: Das Übersetzungssystem war das erste, das wir vollständig entwickelt haben. Die ersten Prototypen benötigten ungefähr ein Jahr, auch um sich auf etwas zu einigen, das wirklich funktionierte. Dann bauten wir die Benutzeroberfläche für das Spiel und zeigten es Anfang 2017 der Presse (Anmerkung der Redaktion: Heaven’s Vaults Erstveröffentlichung war der 16. April 2019). Danach änderte sich nicht viel: Wir mochten was wir geschaffen hatten und haben bis zu diesem Punkt viele Alternativen ausprobiert, die bei weitem nicht so gut funktionierten. Also wollten wir unsere Arbeit auf keinen Fall zerstören! Aber seitdem haben wir das Wörterbuch konstant erweitert, mehr Wörter hinzugefügt und die Art und Weise, wie die Wörter aufgebaut wurden, verfeinert.
Benja: Im Spiel bekommen wir bei unserer Übersetzung viel Hilfe von anderen Charakteren. Ähnlich wie im richtigen Leben, wo Diskussionen und Perspektivenaustausch den Weg weisen. Können diese Charaktere als eine Art Ingame-Hinweissystem gesehen werden, um uns einen Weg aufzuzeigen, der tatsächlich funktioniert?
Jon: Das ist richtig. Wenn du deinem Freund an der Universität Übersetzungen zeigst, kann er dir helfen, die Wörter zu finden, die du nicht identifizieren konntest, Übersetzungen vorschlagen und sogar diskutieren, was einzelne Hieroglyphen bedeuten könnten. Aber er hat nicht immer Recht – und wenn du gemein zu ihm bist, möchte er möglicherweise nicht helfen.
Es ist also teilweise ein Hinweissystem, aber es ist auch die Realität der Welt. Diese Inschriften sind wichtig und interessant. Aliya macht das jeden Tag. Natürlich tauscht sie sich darüber aus, sie soll darüber reden und genauso sollten es die anderen Charaktere im Spiel. Wir wollten diese seltsame Trennung nicht, die es manchmal in Spielen gibt, wo du den ganzen Tag damit verbringst Leute zu erschießen und jeder redet mit dir als wärst du eine unglaublich nette Person.
Benja: Die Aussage eures Press Kit ist, dass sich niemand wirklich sicher sein kann, ob es sich bei der im Spielverlauf gewählten um die richtige Übersetzung handelt. Habt ihr überhaupt eine einzig gültige Übersetzung und die, die die Spielenden für sich herausfinden sind Möglichkeiten und Varianten dieser. Genau die, die eine persönliche Geschichte erst ermöglichen?
Jon: Jede Übersetzung besitzt eine „wahre“ Bedeutung: Irgendwer in der Welt der Nebula hat sie geschrieben und damit auch etwas auszusagen. Du als Spieler kannst diese wahre Bedeutung entweder erkennen oder auch nicht. Aber ist das wichtig? In der letzten Zeit haben wir es so ausgedrückt – es ist nicht möglich eine falsche Übersetzung zu erhalten, sondern eher eine „annähernd richtige“.
Wenn du im Spiel einen Satz oder eine Phrase übersetzt, wirst du oft nicht die komplett richtige Übersetzung erhalten, aber du bekommst ein Gespür davon, in welche Richtung es geht und das ist ausreichend für Aliya, um daraus ihre Schlüsse über die Welt zu ziehen. Und genau das ist exakt dieselbe Erfahrung, die bei realen Übersetzungen von antiken Schriften gemacht wird!
Benja: Wie viele Möglichkeiten für Übersetzungen und Story-Varianten gibt es in Heaven’s Vault? Ist es überhaupt möglich eine exakte Zahl zu nennen, wie in anderen narrativen Spielen mit ihrer zweigartigen Struktur?
Jon: Das Spiel ist nicht wie ein Baum mit seinen ganzen Zweigen gebaut. Es ist eher wie ein großer Eimer mit Story-Ereignissen, die herausgezogen werden, wenn sie relevant und angemessen sind, basierend auf den Entscheidungen, die du getroffen hast, wo du dich gerade befindest und was du tust. Winzige Entscheidungen können zu enormen erzählerischen Auswirkungen führen. Die Übersetzung eines einzelnen Wortes kann dein gesamtes Verständnis der antiken Stätte verändern oder deinen Freund in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.
Den möglichen Spieleenden das zu vermitteln, dass es sich hier nicht um eine zweigartige narrative Struktur handelt, dass es kein „korrektes“ Durchspielen gibt, dass das Fehlen von etwas bedeutet, etwas anderes zu finden, genau das war eine echte Herausforderung. Einige erleben das Spiel extrem angespannt, weil sie sich ständig fragen: „Habe ich das Richtige getan?“ Darauf sind wir wirklich stolz.
Heaven’s Vault ist ein Spiel mit einer starken Narrative, das dir nicht einfach nur sagt, was du tun sollst und dann darauf wartet, dass du es tust. Wenn dir jemand eine „Quest“ anbietet und du nein sagst, heißt das nicht „vielleicht später“. Und wenn du etwas findest – ein Geheimnis, einen Witz, einen sehr schönen Moment – bedeutet dies nicht, dass es jemals jemand in dieser Welt ebenfalls gesehen hat. Wir lieben das.
Benja: Es gibt ja eine Trophäe für die Übersetzung von 50 Wörtern, aber nach dem ersten Spieldurchgang sind noch immer unglaublich viele nicht übersetzt. Wie viele Wörter gibt es insgesamt im Spiel?
Jon: Etwa 3.000, wenn alle Synonyme mitgezählt werden. Wir haben es aber irgendwann aufgegeben weiterzuzählen und fügen immer wieder weitere hinzu, wenn wir das Spiel aktualisieren. In den letzten Wochen vor der [Erst]Veröffentlichung haben wir einen Punkt erreicht, an dem wir plötzlich genug Worte hatten, um so ziemlich alles zu übersetzen. Für einen Vortrag über das Sprachdesign übersetzte ich den Eröffnungssatz von „Pride and Prejudice“ von Jane Austen und die Opening Lyrics von Daft Punks „Get Lucky“.
Das Interview wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Heaven’s Vault kannst du auf Steam, PS4 und Switch erleben. Unser Dank geht noch einmal an Jon Ingold. Für die Zeit, die er sich genommen hat und den spannenden Einblick in inkles Arbeit. Das digitale Zuhause vom britischen Developer Team findest du hier.
Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.