The Hong Kong Massacre Review | Neo-Noires Aquarell-Gemetzel

Asiatische Action Filme: Wahnsinnig schnell, dunkel und durchchoreographiert bis in die Unterhose. Kampfszenen von endlos wirkender Länge und Schönheit ohne Schnitt! In The Hong Kong Massacre wirst du selber zum Protagonisten dieser Szenen.

Hong Kong, 1992

Hong Kong gehört dem Untergrund. Den bekannten Banden der Stadt. Jeder, der ihnen zu nahe kommt wird auf schnellstem Wege entfernt. Blöd, dass dein Partner und du gerade einer heißen Spur ihrer kriminellen Machenschaften folgen. Bei einem Einsatz wird dein Partner brutal ermordet, doch du kommst schwerverletzt aber lebend aus der Sache raus.

Es ist 1992 und vor vier Tagen begann dein Rachefeldzug, dein blutiges Gemetzel, deine Vergeltung für den Tod deines langjährigen Partners. Doch da ist jemand, der zu verstehen versucht, warum du das Risiko eingehst, dir eventuell helfen kann den Chef des Rings ausfindig zu machen. Vorher möchte er deine Aktionen und Züge der letzten Tage nachvollziehen. Das „Hong Kong Massaker“ verstehen.

Es ist ein stylisches Blutbad, in das dich The Hong Kong Massacre da ohne Vorwarnung hinein wirft. Über düstere, verwaschene Close-Up Neo-Noir Szenerien gelangst du direkt in die einzelnen Abschnitte der Top-Down Level. Kurz die Waffe ausgewählt und schon stehst du im Eingang der ersten Wohnung, um die Untermänner auszuschalten. Du öffnest die erste Tür und versuchst dich anzuschleichen. Doch der erste Untermann ist gleich der erste zu viel! Zack, tot. Ein Schuss, Massaker vorbei! Moment Massaker?

Massaker: Das Hinmorden einer großen Anzahl [unschuldiger, wehrloser] Menschen

Danke Duden! Unschuldig sind die Gangster Hong Kongs aus diversen Blickwinkeln sicher nicht, an dem Tod deines Partners? Vielleicht, aber wehrlos? Du öffnest die Tür und wirst erschossen? Netter Willkommensgruß. Wahrscheinlich wurdest du erwartet. Die Klammer entfällt. Ab sofort ermordest du Menschen ohne Attribute.

Achja wirklich? Die nächsten dreißig Male könnte eine Endlosschleife deiner ersten Aktion bilden. Dreißig Tode brauchst du, um mal durch die andere Tür zu gehen und wieder zu sterben. Und wieder und wieder und wieder. Es ist das erste Level des ersten Abschnitts. Du hast bei deinem Massaker noch niemanden massakriert, bist unzählige Tode gestorben und freust dich trotzdem wie damals zu Weihnachten, als du den Atari 2600 zum ersten Mal in den Arm nehmen durftest. Motivationslevel 1000. Du wirst es doch zumindest schaffen einen dieser Verbrecher zu killen. Der Protagonist bewegt sich forsch, dein linker Daumen lenkt ihn elegant in Richtung Tür, dein rechter Daumen justiert das Fadenkreuz. Das Adrenalin steigt durch deine Finger in den Schädel. Pure Anspannung. Ein Schuss… und der Anfang des Blutbads ist gemacht, ein zweiter Schuss und… das wiederholte Abwenden einer grausigen Tat wurde umgesetzt. Erneut fliegt dein Protagonist mit aquarellpinselstrich Blutspritzern in Zeitlupe zu Boden. DEAD! Du grinst wie du schon lange nicht mehr gegrinst hast.

Es ist deine Inszenierung

Nach weiteren zwanzig Versuchen beschleicht dich das Gefühl, doch einmal den Blick in die Controller-Belegungen zu wagen. Zeitlupe, natürlich, das war es was du im Trailer so abgefeiert hast. Du kannst die Zeit ausdehnen und so deinen übermächtig erscheinenden Gegnern einen Vorteil stibitzen, die unglaubliche Reaktionsfähigkeit. Ohne Zeitlupe verwandelt sich The Hong Kong Massacre in einen hektischen, unmenschlichen, hyperschwierigen Bastard. Aber mit dieser Zeitlupe bist du im Vorteil. Zumindest zum Teil,  denn Bewegungsmuster der Gangmitglieder variieren. Jeder Versuch ist somit neu zu planen und sollte akribisch geplant sein, denn Slow-Motion ist nur begrenzt nutzbar und muss immer wieder regeneriert werden. Doch sie hilft dir dabei, filmreife choreografien unterzubringen. Du kannst dich deinem Neo-Noir-Fable völlig hingeben. Lasse Fenster zerbersten, zertrümmere Wände und trete dir Tür ein. Ein blutiges Ballet zwischen Gaußscher Weichzeichner, Kontrasten, Pinselstrich und Cyberpunkoptik im Actiongeflimmer der asiatischen 90er Jahre.

Und dann kommt der Moment, den du für kaum möglich gehalten hattest. Den du feierst wie den Skiflug auf über 250m. Du erledigst den letzten Gegner des Levels. Nicht du gehst zu Boden in einer atemberaubenden Superzeitlupe sondern der letzte Typ des Hauses. Deine Arme strecken sich gen Himmel empor, du ballst die Faust. 

Der Typ, der dir helfen will, kehrt zurück. Er trifft dich eigentlich erst in vier Tagen. Deine Rückblende hast du wundervoll inszeniert und dargelegt. Doch was geschah im nächsten Gebäude? Das Blutbad hat begonnen, es ist noch kein Massaker, aber ein vielversprechender, roter Anfang. Du wirst deinen Partner rächen, hoffentlich, vermutlich, irgendwie.

In Abschnitt zwei findest du dann endlich auch die Ausweich- und Hechtmechanik. In Kombination mit der Superzeitlupe kommst du dir jetzt vor wie in Oldboy. Wunderschöne aneinandergereihte Nahkampfszenen mit Schusswaffengebrauch. Hätte Tonya Harding diese Fähigkeit besessen, sie hätte wahrlich keinen Auftragsschläger engagieren brauchen und wäre grazil gen Nancy Kerrigan geglitten, um ihr selber die Stange vors Knie zu pöhlen. Leichtfüßig drehst du Pirouetten, rutscht unterm Kugelhagel her, drehst dich im Flug um 180° und ermordest den hinter dir Erscheinenden. Es läuft!

Der Spaß des Scheiterns

The Hong Kong Massacre ist ein absolut fordernder, schwerer Top-Down Shooter. Doch genau das macht das Spiel in dieser Form so belohnend. Du weißt es ist möglich. Allein der Erfolg der Lernkurve ist entscheidend. The Hong Kong Massacre ist bis auf winzige Ausnahmen absolut fair. Kannst du deine Fehler reflektieren, in den richtigen Momenten die richtige Mechanik anwenden und hast du die Umgebung komplett im Schädel untergebracht? Dann wird das Erstlingswerk des schwedischen Indie Studios Vreski erst richtig interessant und absolut überwältigend. Was du mit den simplen Mechaniken der Manipulation der Zeit und des Ausweichens für Szenen aufs Parkett legst ist atemberaubend. Der eigenwillige Style verschmilzt mit deinen eigens inszenierten Aktionen zu einem surrealen Gangstermassaker.

The Hong Kong Massacre fördert das Scheitern. Durch Fehler lernst du verstehen. Jeder Tod facht deine Motivation an, jede eingesteckte Kugel stichelt deinen Ehrgeiz. Du willst mehr von der Geschichte und von der coolen Musik, die sich mit ihren Synthi-Sounds erhaben auf die lässig gestaltete Kunst legt. In diesem Rahmen bist du der oder die Regisseur_in. Du hast die Finger an der Filmklappe. Du bist der Protagonist. Es ist dein Massaker! Ein Massaker ist eben keine Shoppingtour. Es verlangt vollste Konzentration. Die stetige Kontrolle über jede kleinste Aktion. Sonst ist dein Massaker schneller vorbei als dein Hund neben dir steht wenn du mit der Leine klimperst. Sei einfach ein bisschen wie Marv und plane deinen Höllenritt gut voraus. Du musst mit allem rechnen und für alle Eventualitäten gerüstet sein.

Die beiden Menschen von Vreski haben ein in sich stimmiges und absolut wahnwitziges Script geliefert. Es liegt an dir es mit Kugelhagel, Gangstergeschichten und Blut zu füllen. The Hong Kong Massacre ist ein neo-noires Gemetzel mit aquarellpinselstrich und übertriebener Coolness. Für ein Massaker musst du halt auch einfach der richtige Typ sein. Ein Typ, der Herausforderungen liebt, unvorhergesehene Aktionen zum Frühstück verspeist und in absoluter Hektik und Schnelligkeit stets weiß was zu tun ist. Auch wenn dir ein paar Adrenalinpfützen auf dem Weg folgen. Es ist ein völlig majestätischer Weg, dessen Strapazen sich an der Größe deiner Daumenblasen messen lassen. Das unnachahmliche Aufbauprogramm des Scheiterns nah an der künstlerischen und technischen Perfektion.

9/10 <3

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=yP6AVsQ1NjE&w=560&h=315]

Developer/Publisher: VRESKI
Team: A und H
Veröffentlichung: 22. Februar 2019 (PS4 (16,99€) und Steam (16,79€))

Autorin: Benja Hiller
Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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