Gleitend und bouncend geht es im Floating-Platformer Ynglet auf einen geschmeidig meditativen Städtetrip.
Wenn ich an Platformer denke, bereitet das zumeist ein wohlig warmes Gefühl in meinem Bauch, bescherten sie mir doch einige wundervolle Momente auf meinem von Videospielen gepflasterten Lebensweg. Momente, an die ich gerne zurückdenke, dessen Erlebnisse ich in meinem Schädel konserviert habe. Ob nun fast bis zur Perfektion trainiert oder bloß einmal durchgehüpft. Sie alle eint ein Fakt: immer hatten meine Platformer-Erlebnisse mindestens einen Part, der mich vor Frust und Verzweiflung fast das Gamepad in den Fernseher hätte donnern lassen. Und ich spreche bewusst von hätte, denn ich bin nicht nur äußerst sensibel im Umgang mit meinen technischen Gerätschaften, sondern immer wenn das passiert, sagt der kleine Motivationstrainer in meinem Kopf: „Benja, das gehört alles zur Lernkurve. Du wirst es irgendwann schaffen. Scheitere und lerne draus!“
Auch wenn diese Aussage tatsächlich nicht auf alle Platformer zutrifft, aufgrund ungenauer Spielsysteme, die Contenance siegte immer. Zur Not legte ich das Spiel halt einfach beiseite und kramte es nie wieder aus dem Regal. Ynglet aber hat genau dieses Gefühl in mir niemals hervorgerufen. Kein Grund sich abreagieren zu müssen, den Wutanfall durch jahrelanges Stresstraining wieder in gelassenere Bahnen zu lenken. Und das obwohl ich Nifflas Platformer direkt auf Challenging gespielt habe. Das liegt zum einen daran, dass es mir in dieser so abstrakten Welt absolut nichts ausgemacht hat einen Part zu wiederholen, zum anderen an der meditativ entspannenden musikalischen Begleitung, die den kleinen Motivationstrainer in meinem Kopf nahezu überflüssig haben werden lassen. Vor allem aber, liegt es an etwas nicht sichtbarem. Dem fairen Spielsystem hinter dem Präzisionsplatformer, das clever antizipiert und dich nicht wie andere Vertreter noch ohne Schirm rausschickt, wenn es in Strömen regnet.
Ynglet, der abstrakte Kopenhagen Städtetrip
Und so braucht es nicht mal Worte, um mich überhaupt motiviert losziehen zu lassen. Ich sehe wie das quallenartige Ynglet mit seinen Freund_innen innerhalb ihrer Sicherheitsblase dem Treiben auf Elk zusehen. Plötzlich unterbricht eine Liveschalte das Programm. Ein Komet! Die Freund_innen schauen noch kurz verdutzt, bevor das angekündigte „Unheil“ auch ihre Bubble erreicht. Schluss mit gemütlicher Fernsehrunde. Alle wurden im Universum verteilt, doch Ynglet will seine Wohlfühlblase plus Freund_innen zurück. Fortan schwebt es durch das spartanische Universum aus gesprengten Blasen auf der Suche nach seinen Liebsten.
Moment, habe ich Universum gesagt? Die Karte, auf der ich mich befinde, erinnert stark an eine Metropole im Öresund. Dort wo sie zwei Länder mit der weltweit längsten Schrägseilbrücke für kombinierten Straßen- und Schienenverkehr einfach so über die Ostsee miteinander verbunden haben.
Für ein Ynglet ist es ein unfassbar weitläufiges Universum, für die anderen eine Stadt, die in unseren Sprachgefilden den Namen Kopenhagen trägt. Vom Botanischen Garten durch das historische Vorstadtviertel Vesterbro bis zum grünen Grün des Nørrebroparken. Nicht nur optisch wurde die Karte in Ynglet an die Verläufe des dänischen Vorbildes angepasst, auch die einzelnen Level tragen Namen von Stadtteilen, Parks und Vierteln. Botanisk Have, Valby, Christiania, Vesterbro, Kastrup, Tårnby und Nørrebroparken heißen das Ynglet auf seiner Suche willkommen. Und in diesen einzelnen Leveln warten weitere Hinweise auf eventuelle Schauplätze wie Bahnstationen, in die das Protagonist_innenwesen einsteigt und flux zum nächsten Abschnitt braust. Nifflas und Publisher Triple Toppings Zuhause, es ist auch das des quirlig eleganten Ynglets.
Hast du Plattformen gesagt?
Aber Plattformen? Die nutzt es nicht einmal. Warum auch, quallenartige Wesen besitzen ja nicht mal handelsübliche Beine. Säh auch reichlich komisch aus. Nein, das Ynglet braucht keine Plattformen, um sich fortzubewegen. Vielmehr schwebt es elegant von Bubble zu Bubble, bounct an Wänden entlang und katapultiert sich wie beim Billard im exakt kalkulierten Winkel von links nach rechts, von oben nach unten und quer durch die Landstriche des Vogelperspektivenkopenhagens. Und auch wenn du jetzt zweifelst, ob du das jemals so gut hinbekommen wirst wie es im Trailer den Anschein macht. Du wirst! Dafür sorgt zum einen Nifflas Barrierefreiheit in Form der Schwierigkeitsstufen, die so wenig degradierende Namen wie Chill/Tricky/Challenging tragen und versichern, das Spielende mit unterschiedlichen Skills Spaß am meditativen Treiben haben. Zum anderen aber auch eine Reihe an Hilfsmöglichkeiten, die je nach Bedarf wieder abgeschaltet werden können.
So sorgt das clevere System beim Dash dafür, dass es sich in der Hektik des Spielverlaufs anschaut, welche Richtung du am Wahrscheinlichsten vorm ausführen anvisiert hast, um ein mögliches abrutschen gegen Ende deines Zielvorgangs auszugleichen. Ähnliches veranstaltet das unsichtbare Werk, wenn du von der einen zur nächsten Bubble gleitest. Ganze drei Möglichkeiten suchen in diesem Fall nach der anvisierten Bubble und wählen den Weg des Treffers. Frustvermeidung innerhalb eines reaktionsschnellen Präzisionsvorgangs. Nie war Zugänglichkeit so sehr durchdacht, wie im Floating-Platformer Ynglet. Ernsthaft, klick dich gleich durch zu Twitter und folge Nifflas. Der Mensch hat nicht nur einiges an Innovation in den abstrakten Kopenhagentrip gesteckt, er erzählt auch sehr gerne bebildert, wie all das funktioniert. Gut ausbalancierte Schwierigkeitsgrade und Hilfeeinstellungen, sind ein oft genug übersehenes Feature in der Entwicklung. Hier wird extra herausgestellt, dass es absolut okay ist, ein Spiel auf leicht durchzuspielen. Nicht nur durch Worte, sondern durch Integration.
Dieses Ynglet tut verdammt gut!
Und so gleitet das Ynglet durch eine für alle perfekt bereitete Welt, die sich mit samt deinen Taten entwickelt. Wo das Wesen auch hinspringt, aufprallt oder sich abstößt, sprühen Farben aus dem zunächst trist scheinenden Hintergrund, als hättest du weit ausgeholt und die Sprinkler deines Pinsels in allen Himmelsrichtungen auf deinem Blatt Papier verteilt. Vom Tagestreiben ins Nachtleben. Wie ein musikalisches Feuerwerk durchzieht die Welt von Ynglet im Zuge deiner Bewegung ein prachtvolles Farbenspektakel. Wo du auch hingehst, ist es bunt. Was für eine wundervolle Metaebene. Ein positives Gefühl, das du hier einfach so in Frischhaltefolie einpacken und auf deinen nächsten Trip in die Stadt mitnehmen kannst. Nur um deine Freunde zum Fernsehabend wieder vereinen zu können.
Komplett und organisch unterstützt vom eigens erschaffenen Musikalgorithmus, der jede noch so kleine Einlage des Ynglet passend vertont. Natürlich angepasst an dein Spieltempo, deine Aktionen und dein Bewegungsmuster. Hatte ich nicht noch vor kurzem über fehlende Musikintegration innerhalb des Gameplays gesprochen? Besser als mit diesem vorzüglich trainierten Algorithmus geht es nicht! Ein Soundtrack, geschrieben nur für dich! Egal was auch immer du gedenkst zu tun, das Soundgewölbe aus Blubbs, Blobbs und fantastischen Sphären begleitet dich wohin du auch gehst. Wie deine Noise-Cancelling Kopfhörer bilden sie einen wohlig warmen Schutzschirm um dich und dein Ynglet. Ein Spiel, wie ein eigenes Instrument. Ein herausforderndes Erlebnis ohne Frustfaktor. Vom eigenen Lebensraum inspiriert, zum einzigartigen interaktiven Kunstwerk abstrahiert. Mit der Ruhe zur Perfektion! Nifflas Ynglet ist wahrlich ein sonderbares Stück Platformer-Geschichte. Dabei besitzt es nicht einmal Plattformen.
10/10 🎆 🎶
Developer: Nifflas
Publisher: Triple Topping
Genre: Floating-Platformer
Team: Nicklas “Nifflas” Nygren (Game Designer), Astrid Refstrup (Producer), Sara Sandberg (2D Artist), Simon Stålhandske (Helpful Friend)
Musik: Musikalgorithmus produziert und komponiert von Nifflas
Auszeichnungen: Best Abstract (WTLW-gamescom Award 2020), Most Wanted Indie Games 2021 Selection (WTLW 2021)
Veröffentlichung: 5. Juni 2021 (Steam, itch.io)
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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.