Kosmokrats Review | Kommunismus, Kapitalismus und Kartoffeln

Halte deine Kartoffeln zusammen! Der Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus findet in Kosmokrats seinen Höhepunkt im Weltall.

Weißt du noch, was passierte, wenn du bei Tetris auf dem Game Boy die 100.000 Punkte Marke überschritten oder den anspruchsvollen B-Mode auf 9-5 durchgespielt hattest? Wenn jetzt dein altes Gedächtnis streikt oder dir dieses Erlebnis verwehrt blieb, helfe ich dir gerne auf die Sprünge. Zur Feier deines Erfolgs startete eine Rakete in Richtung… ja, wohin eigentlich? Um das genau sagen zu können, war der kleine Game Boy Bildschirm einfach zu klein. Vermutlich aber ist es ein historisches Zeitdokument aus dem ursprünglichen Herkunftsland von Tetris, der Sowjetunion, in dem einfach gezeigt wird, was zum Ausbruch des großen Atomkrieges 1980 zur Zeit des Kalten Krieges geschehen ist. Zumindest, wenn du den Ausführungen von Pixel Delusion dein Ohr schenkst. Denn hier war nur noch eines zu machen. Jegliche Kartoffeln zu verstauen und den Planeten Erde so schnell wie möglich per Rakete zu verlassen, um einen neuen Mutterplaneten zu finden.

Alles nicht so schlimm!

Kurz vor diesem Ereignis warst du auf der sowjetischen Raumstation zum Kartoffeln schälen abgestellt, doch da der eigentliche Drohnenpilot einen Unfall hatte und der neue noch nicht eingetroffen ist, seine Arbeitskraft jedoch dringend gebraucht wird, wirst du unmittelbar auf diesen Posten befördert. Natürlich nur so lange, bis der richtige Pilot eintrifft. Aber keine Angst, Raumschiffe, Portale und Stationen per Drohne zusammenzufügen ist wie Tetris spielen. Und Tetris kennst du ja sicher, nicht wahr? Du bist doch ein vorbildlicher Genosse. Wenn nicht, müsste wieder so eine Meldung verfasst werden und diese Mehrarbeit will nun wirklich niemand verantworten. Und schließlich gibt es ja diese kleine Simulation auf der Я-Box, in der du in fast realistischer Optik noch einmal kurz deinen Einsatz trainieren kannst. Das schaffst du schon!

Arbeitskraft kann ersetzt werden, also mach dir um die umherschwebenden Kosmonauten erstmal keine Gedanken. Pass mir aber bitte auf Beschädigungen der Raumschiffteile und die Kartoffellager auf. Die sind unbezahlbar! Schließlich wollen wir weder neue Teile produzieren müssen, noch unsere Wochenration kürzen. Also reiß dich zusammen! Und jetzt schnell den Bums in der Schwerelosigkeit zusammengesetzt, bevor die ganzen wertvollen Teile in die Planetenatmosphäre eindringen und verloren sind, damit wir uns wieder wichtigeren Sachen widmen können, wie Wodka trinken zum Beispiel. Also, lass dich nicht stressen, du machst das schon! Oh und wie ich gerade höre, hat es der richtige Pilot doch nicht mehr geschafft einzutreffen, bevor der ganze Planet von Atomraketen zerstört wurde. Herzlichen Glückwunsch zu deiner offiziellen Beförderung zum Sowjetischen Drohnenpiloten (m/f/d).

Kosmokrats und der Space-Kommunismus

Ein wenig wirkt Kosmokrats tatsächlich wie die logische Weiterentwicklung von Tetris. Während das Original von Alexei Paschitnow dem Grundspielprinzip treu bleibend, aber mit wirren Hintergründen und Multiplayer-Optionen experimentiert, denken Pixel Delusion aus Polen einen Parsec weiter. Sie schießen das Spielprinzip mit der vom Spiel eingeworfenen Rakete ins All. Als Teileschieber ohne direkten Einfluss auf die zusammenzufügenden Teile selbst. Puzzeln unter Schwerelosigkeit und Zeitdruck, inmitten des kalten Krieges, im Kommunismus – genau zu der Zeit, als der Puzzler entstanden ist. Vielleicht sogar ebenfalls aus Langeweile bei der Arbeit im Computerzentrum. Der Grund, weswegen du zwischen den Missionen hier öfter mal die Я-Box anwirfst oder dein sozialistisches Motivationsposter ansiehst.
Verabschiede dich schon mal vom 90 Grad Dreher per Knopfdruck. In Kosmokrats sorgst du per Drohne für Rotation und Antrieb, während ein Zeitbalken vor dem Eintritt in die Umlaufbahn warnt und mit einem abrupten Ende deiner Arbeit droht.

Zusätzlich hängt dir dein Vorgesetzter im Ohr, bloß auf die Kartoffellager und die Sonnensegel zu achten, aber ja schneller zu machen. Also schubst du die Teile in der Art zusammen, wie du es für richtig hälst. Lackierung, Formen und Farben weisen Anfangs den Weg für einen erfolgreichen Zusammenbau. Der starke Magnetismus hilft beim endgültigen andocken, die saftig aufgeladene Drohne kommt dir zu gute. Doch läuft mal etwas schief oder du erwischt das ein oder andere Kartoffellager, wird es zunehmend schwieriger auf dem Weg der Kosmokrats zum neuen Mutterplaneten. Die Drohne steuert sich zwar locker flockig, doch zunehmende Einschränkungen erschweren dir deine Arbeit. Der Kommunismus tut, was der Kommunismus tun muss! Essensrationen einteilen, Sanktionen aussprechen, Umverteilungen vorantreiben und vor allem Einsparungen hinnehmen. Und so wird Hunger gefördert, Druck erhöht und Arbeit erschwert. Farben, Magnetismus, Lackierung, Zeit, alles gekürzt. Viel Erfolg!

Lorbeer macht nicht satt, besser wer Kartoffeln hat!

Zusätzlich entscheiden Erfolg und Misserfolg deiner Arbeit oder spezielle Wege und Anforderungen innerhalb der Ausführung über die Reise deiner Genoss_innen. Kosmokrats webt ein breites Netz an Möglichkeiten, wie deine Raummission verläuft und wo sie Enden wird. Schließlich bist du nicht allein auf der Suche nach neuem Lebensraum. Der kapitalistische Feind ist dicht auf den Fersen. Das Aufplustern der Gesellschaftssysteme, das Rennen zum nächsten Planeten, das Wettrüsten, es geht auf höchst humoristische und satirische Art und Weise im Weltall weiter. Mit veralteter Technik, Überläufern, Meutereien und Kartoffeln – vor allem Kartoffeln. Lass dich also nicht verwirren, hast du stets Kartoffeln an Bord, wird deine Reise eine angenehmere sein. Der Weg zum Kannibalismus ist nicht weit. Glaube mir!

Storyverläufe, aktuelle Ereignisse und Unerwartetes. All das fügt sich in eine angenehm entertainende Geschichte ein, die pointiert von den Eigenheiten der gegensätzlichen Systeme erzählt. Da kommt es den Figuren zugute, dass sie auch abseits des Erzählers in Gestalt von Bill Nighy durchweg prächtige Synchronisationsarbeit liefern. Einzig die Variation im Puzzlegameplay kann bei über 40 Zusammensetzungen von Raumstationen, Raumschiffen und Kartoffellagern das ein oder andere Mal dann doch etwas repetitiv wirken. Auch wenn die Developer mit etwaigen Sanktionen und neuen Herausforderungen, wie Asteroiden, härteren Auswirkungen beim Eintritt in die Atmosphäre und Weltraumschleim, entgegensteuern. Doch ein ausgetüfteltes Puzzlesystem lebt ja auch davon, vorhersehbar zu sein, so dass du deine Skills trainieren kannst. Das Gefühl legt sich auch wieder sehr schnell, wenn die äußeren Umstände es von dir verlangen, dich auf deine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Und die ist eben als ehemaliger Kartoffelschäler eine Drohne zu steuern. Deal with it!

Sonderbar, witzig, außergewöhnlich und liebevoll

Pixel Delusion fügen Puzzle und Storyebene dermaßen clever zusammen, dass mein erster Spieldurchgang wie eine Rakete vorbeiflog. Der charmante Sowjetstil mit all seinen aufregenden Details, das 1980er Jahre Feeling, die Musik vom schwedischen Künstler Andreas Saag, die vielschichtigen Charaktere und die stetig wachsende Geschichte. All das ließ mich am Bildschirm kleben wie das perfekt angedockte Teil meines neu entstehenden Portals. Die flüssige Mechanik beim Puzzeln, der Zeitdruck, die ausgefuchst eingeworfenen Einschränkungen und all die Wendungen. Repetitivität hin oder her. Auch Tetris ist repetitiv. Und das seit fast 40 Jahren. Wenn ein Spielsystem so perfekt funktioniert wie in Kosmokrats, dann darf das gerne auch millionenfach wiederholt werden.

Und nicht nur das, Kosmokrats wagt es, die Tetris Philosophie weiterzudenken, sie mit weiteren Elementen zu füttern und in andere Sphären zu versetzen und es profitiert von diesem Wagnis. Es ist nicht nur ein perfekter, innovativer Puzzler, sondern entfaltet ein starkes, pointiertes und sozialkritisches Narrativ. Es entführt dich in eine Welt, die du in ihren unterschiedlichen Auswirkungen und Wegen erleben kannst. Ein neuerlicher Durchgang lohnt sich aber ebenfalls, weil nach dem ersten der Schwierigkeitsgrad mit wirklich echten physischen Gegebenheiten im All frei geschaltet wird. So wie es die Entwickler_innen eigentlich haben wollten. Ohne dass Teile jemals aufhören, sich nach dem Anstupsen in eine Richtung zu bewegen, wenn du nicht entgegenwirkst. Ein zusätzlicher Ansporn, den ich nicht mal gebraucht hätte. Kosmokrats hat bei mir das Gefühl erzeugt, es unverzüglich erneut erleben zu wollen. Was könnte ein Spiel besseres in mir auslösen?

9/10 ✊ 🚀

Developer: Pixel Delusion
Publisher: Modern Wolf
Genre: Puzzler, Narrative
Musik: Andreas Saag
Auszeichnungen: Most innovative Game (WTLW gamescom Award 2020)
Veröffentlichung: 5. November 2020 (Steam)

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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