art of rally Review | …wie einst Michèle Mouton

Funselektor basteln dir in art of rally ein stilisiertes Rallye-Diorama der goldenen Ära des Rallyesports.

Es muss in etwa 1986 gewesen sein, als meine Augen auf der örtlichen Autoshow inmitten der tristen Kleinstadtidylle einen überdimensionalen Spoiler auf dem Dach und weit ausladende hintere Radkästen entdeckten. Ein brachiales Erscheinungsbild, das weder auf den zentralen Parkplatz, noch in die angebotene Fahrzeugpalette des Herstellers oder das vorherrschende eckige 1980er Jahre Autodesign passen wollte. Es war ein Auto, das ich aus meiner Spielzeugkiste kannte. Das einzige, bei dem sich das halbe hintere Auto öffnete, wenn ich die Heckklappe aufstellen wollte. Nun stand er da, zwischen all den biederen Familienkutschen. Aus meiner Autokiste direkt auf den nahegelegenen Parkplatz. Ein brutales Sportgerät – der Peugeot 205 Turbo 16. Von den knapp 350 bis je nach Evolutionsstufe in etwa 520 PS brauchte mir da niemand mehr etwas erzählen. Wenn meine Faszination für Autos und Motorsport noch irgendeinen kleinen Festigungsmoment gebraucht hatte, hier war er.

art of rally und das konservierte Nostalgiegefühl

Doch dieses Auto wollte nicht auf einem beliebigen Parkplatz in einer belanglosen Kleinstadt stehen. Seine Schrammen im reichlich beklebten Karosseriekleid erzählten von Tannenwaldbegegnungen in Schweden. Seine diversen Dellen von Rutschpartien in Monaco und die monströsen Lufteinlässe von der Jagd nach Sekunden im Pulk seiner hochgezüchteten Kollegen. Dieses Auto wollte vor allem eines: Schnell von A nach B kommen. Auf viel zu engen Straßen, die viele wohl nicht mehr als Straßen bezeichnen würden. Es wollte sich austoben. Auf Schotter, Matsch, Schnee und zerbröckelten Straßenabschnitten. Es wollte quer durch Serpentinen driften. Sein brutales Design schiebt eine Faszination vor sich her, die viele Zuschauende an etwaige Streckenabschnitte der Welt reisen ließ. Die mitten auf den Kursen stundenlang auf eine Sekunde Lieblingsauto in Aktion warteten, nur um dann unter Lebensgefahr in die nahe Böschung zu springen. art of rally konserviert diese vergangene Faszination einer Motorsportära innerhalb eines zeitlosen Rallyespiels.

Und ein bisschen ist es in diesem Rennspiel tatsächlich so, als hätte ich noch einmal in meiner Autokiste gewühlt. Den alten Peugeot und seine Haudegen aus Audi Sportquattro S1, Lancia Delta S4 und Renault 5 Turbo herausgekramt, um sie auf eigens erdachte Dioramenstrecken durch Bauklötzchenzuschaueransammlungen rasen zu lassen. Wie damals schaue ich von oben auf die lieblich inszenierte Szenerie und schicke meine kastigen Spielzeugautos durch die Welt. Nur mit dem Unterschied, dass Developer Funselektor wesentlich mehr Zeit auf die Recherche von physikalischen Gegebenheiten der Fahrzeuge und dessen Umgebungen verwendet hat, als mein vierjähriges Ich. So verspielt artsyfartsy art of rally mit seinem verträumten Low-Poly Design auch aussehen mag, ich habe es hier mit einer nahezu ausgewachsenen Rally-Simulation in künstlerischem Gewand zu tun.

In art of rally ist jedes einzelne Bild ein Gemälde

Ein Spiel, nur dazu auserkoren die goldene Ära des Rallyesports zu ehren. Dessen faszinierende Bilder stilisiert zu reproduzieren und dir dabei die beste Zeit in einem Rallyespiel zu bereiten. Über 50 ikonische Fahrzeuge stehen dazu bereit, die zwar nicht die echten Namen besitzen, aber dafür sehr charmante Synonyme. Aber mal ehrlich, wer braucht schon Namen, wenn schon an der einzigartigen Silhouette zu erkennen ist, um welches designtechnische Kunstwerk es sich handelt. art of rally schickt dich durch die gemächlichen Rallyesporttage der 1960er Jahre und 1970er, über die die lebensgefährlichen Leistungsschlachten in Gruppe B und S der 1980er Jahre, bis in die moderneren Gefilde der 1990er Jahre. In der Karriere kannst du jede Epoche gesondert genießen, dich in täglichen und wöchentlichen Herausforderungen online messen, selber Rallyes zusammenstellen oder dich dem Müßiggang im Free Roam hingeben.

Und genauso ikonisch wie die Fahrzeuge, entwerfen Funselektor Strecken in den Ländern der Welt, die alle ihre markanten Eigenheiten mitbringen. Von den sich unter blühenden Kirschen hinauf schlängelnden Straßen in den Bergen von Japan, durch die zuschauergesäumten engen Wälder Finnlands, bis zu den schlaglochüberzogenen Straßen in Deutschland. Dune Casu und sein Team haben alle Inspirationen, die sie vor Ort und bei Recherchen finden konnten, aufgesogen und in minimalistischer Manier auf das Spiel losgelassen. Jeder noch so kleinste Abschnitt, jedes Detail auf den einzelnen Stages, erzählt subtil von den Eigenheiten des Sports, des Landes und der Natur. Elche, Zelte, Fußballplätze, Meeresbuchten, Leuchttürme, enge Häuserzeilen oder malerische Küstenstädte. Dichte oder kahle Wälder. art of rally beherrscht den Blick für Ästhetik im Zusammenspiel mit der Urgewalt der Maschine. Der Faktor, der das Idyll zu einem absurden Kunstwerk werden lässt. Zu jeder Zeit im Foto-Modus einzurahmen und an die Wand zu hängen.

Um zu gewinnen, musst du zuallererst ankommen

Und so lieblich das auch alles gestaltet ist, so ernsthaft geht es auf der Wertungsprüfung zur Sache. Denn selbst mit einhundertprozentiger Unterstützung der Fahrhilfen braucht es ein gewisses Maß an Kenntnis und /oder Eingewöhnung, bis die unbändigen Boliden genauso reagieren, wie ich das gerne hätte. Dabei kommt es nicht nur zu unterschiedlichen Auswirkungen zwischen den einzelnen Fahrzeugkonzepten aus Front-, Heck- oder Allradgetriebenen Fahrzeugen, sondern ebenfalls zur Berücksichtigung aus Front-, Heck- und Mittelmotor und den unterschiedlichen Eigenheiten der speziellen Fahrzeuge. Ob der feine Schotter in Finnland, der glatte Asphalt in Japan und Portugal, Schnee und Eis in Norwegen oder Strecken unter Regen. Die zu schnelle Anfahrt auf eine Kurve oder die Landung nach dem übermäßigen Sprung. Alles in art of rally besitzt Einfluss auf das Fahrverhalten und damit auch auf meine Einwirkungen auf das Auto.

Zunehmend finde ich mich mit im Mundwinkel eingeklemmter Zunge wieder, wie ich in Ayrton Senna Stoßgasmanier und linker Walter Röhrl Gedächtnisbremse um die engen Kurven fliege. Ständig damit beschäftigt, eine Balance aus brachialem Vortrieb, bremsen, lenken und äußerlichen Einwirkungen zu finden. Rallyfahren ist keine Kunst, sondern harte Arbeit. Das entstehende Bild jedoch, ein wahres Kunstwerk. Funselektor finden diesen klitzekleinen Grat zwischen Frustration und Ansporn. Sie heizen schwankend auf Messers Schneide dem finalen Wertungsprüfungstor entgegen. Sie geben dir die Freiheit, die Kamera in der Vogelperspektive zu belassen oder wahlweise über viele kleine Stufen die Verfolgung von hinten aufzunehmen. Letzteres erschwert zunehmend das so nötige Einsehen in die kommenden Kurvenkombinationen, gerade ohne Beifahrer_innenanweisungen. Es erleichtert jedoch enorm die Kontrolle zu behalten. Wobei Rallye vom Gefühl her sowieso nur Kontrolle im Unkontollierbaren suggeriert. Oder wie ist noch mal jemand auf die Idee gekommen, mit einem 500PS Gefährt durch den örtlichen Wanderweg zu donnern?  

„Sie haben uns ein Denkmal gebaut“

Wie im Motorsport üblich, braucht es dann zumeist ein Auto, das zu deinem Fahrstil passt. Oder du musst wahlweise deinen Fahrstil auf die verfügbaren Modelle anpassen. Doch was passt zu deinem Fahrstil? Nun, wenn du es nicht ausprobiert hast, erzählt dir art of rally nicht nur zu den einzelnen Epochen und Jahren der goldenen Zeit des Rallyesports etwas, sondern auch Wissenswertes zu den einzelnen Fahrzeugen und Strecken. Am Ende hilft aber nur ausprobieren und eingewöhnen. Rallyewagenfahren lernst du schließlich nicht in der Fahrschule, sondern nur durch geduldiges Trainieren und stetiges Wiederholen. Und das führt, der wundervollen Optik zum Trotz, manchmal eben auch in Funselektors Rallyeansatz zu etwas Frust hinter dem Steuer. Bäume am Straßenrand sind keine Freunde! Diese monströsen Auswüchse der 1980er Jahre Ingenieurskunst passen eben eigentlich so gar nicht in dieses Landschaftsidyll. Sie müssen von dir passend gemacht werden. Der Faszination wegen. Der Kunst wegen.  

Und so gibt es anstatt eventuell nötigen Beifahrer_inneninstruktionen reichlich Motorengeheule, tolle Naturatmosphäre und applaudierende, lebensmüde Bauklotzzuschauer_innen. Dazu einen Paint-Radierer und unglaublich stimmungsvolle, begleitende elektronische Klänge von Tatreal. Nur das Motorengeräusch hätte ruhig prägnanter auf die Fahrzeuge abgestimmt werden können. art of rally verbindet einen konsequent verfolgten künstlerischen Ansatz mit einer gelungenen Rallyesimulation und erschafft so ein völlig zeitloses Rennspiel. Auch wenn die Detailverliebtheit in einigen Fällen dem Stottern der Bilder übergeben wird oder Blümchenwiesen erst während des Vorbeifahrens blühen. Funselektor fangen die Faszination der goldenen Ära des Rallyesports mit denselben glänzenden Augen ein, mit denen ich damals dieses so brutal dastehende Auto betrachtet habe. art of rally vereint all die Eigenheiten und Skurrilitäten einer längst vergangenen Ära in einem bewegten modernen Kunstwerk. Funselektor setzt seinen Vorbildern ein nostalgiegeladenes, romantisierendes Denkmal.  

9/10 🏕️ 🚘

Developer/Publisher: Funselektor
Genre: Rennspiel, Rennsimulation
Team: Dune Casu (Creator), Jamie Churchman (Vehicle and Environment Artist), Bohdan Morykon (Vehicle Artist), Ignacio Velasco (Environment Artist), Slava Korystov (SFX), Adrian Tosello (Developer), Perren Spence-Pearse (Developer), Jacob Vincent (Developer), Jair McBain & Zea Slosar (Producers), Tetiana Stopkevych (Localization Manager), Luke Dodds (QA)
Musik: Tatreal (Slava Korystov)
Veröffentlichung: 23. September 2020 (Steam)

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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