Stela Review | Stelas Gespür für Atmosphäre

In Stela liegt eine antike Welt im Sterben. Auf der Suche nach Hoffnung hilft nur die Flucht nach vorn.

Manchmal hilft nur noch laufen. So schnell du kannst. Einfach weg. Weg vom Erlebten. Raus aus der bedrückenden Enge. Weg von akuten Bedrohungen. All den Gedanken in deinem Kopf die Reinheit der Geschwindigkeit entgegensetzen. Einfach nur laufen. Nur laufen.

Die Flucht nach vorn

Erschöpft von all den Strapazen liegt sie da. Kaum Zeit zur Realisierung was hier vor sich gehen mag. Alles um sie herum liegt im Sterben. Menschen, Wälder, Landstriche, prunkvolle Bauten und sogar der Horizont. Sicherheit und Geborgenheit wird sie hier nicht mehr finden. Doch ist sie tatsächlich die letzte in dieser einst so prachtvollen Welt. Gibt es gar keine Hoffnung? Sie muss hier weg, einfach nur weg. Rasten heißt sterben. Sie ist eine Getriebene. Der letzte Funken Hoffnung treibt sie an. Sie muss laufen. Nur laufen.

Stela übergibt seine Protagonistin in eine stetige Gefahr. Die so pompöse zivile Gesellschaft dieser antiken Welt wurde restlos ausgerottet. Bauten, Waldabschnitte und endlose Weiten wurden von kaum zu definierenden Kreaturen erobert. Und genau durch diese Gefahrenzonen muss die namenlose Protagonistin auf der Suche nach Hoffnung und Sicherheit jetzt durch. Gehastet von kleinen Rattenähnlichen Wesen, von großen schlaksigen Waldbewohnern und wieselflinken Schneemaulwurfmonstern.

Die Macht des Unsichtbaren

Ein unwohles Gefühl begleitet sie auf ihrerer Reise. Verfolgungsangst und Unsicherheit sind zu jeder Zeit in Stela spürbar. Nur selten zeigen sich die aktuellen Bewohner der Szenerien in Gänze. Doch wenn sie es tun, wird es bedrohlich, hektisch und lebensgefährlich.

Ganz plötzlich wirft dich der Cinematic-Platformer in unterschiedlichste, akute Bedrohungslagen. Entkommen, verstecken, schleichen, verwirren oder austricksen. Stela verlangt die ganze Palette Überlebensskills von dir und variiert sie immer wieder auch untereinander. Puzzle und Mechaniken wurden schlau ins Spielgeschehen implementiert.

Developer SkyBox Labs aus Vancouver, Kanada entwerfen eine diverse Fluchterfahrung, die sich auch immer wieder den Eigenheiten der Welt zugewandt zeigt. Interaktionen in Puzzleparts geben Aufschluss über einstige pompöse, mysteriöse Eigenheiten im Prunkbau. Die Geschichte wird hier komplett ohne Worte erzählt. Allein Atmosphäre, Szenerie und Interaktion geben Aufschluss und Anhaltspunkte. Wenn auch vage und zumeist deiner freien Interpretation überlassen. Doch genau das macht Stela so intensiv und vielfältig. Der bewusste Verzicht auf jedes gesprochene Wort maximiert das Ausmaß deiner ganz eigenen Erfahrung.

Herausragende atmosphärische Arbeit in Stela

Dass dein Erlebnis so eindringlich gerät, liegt vor allem an der herausragenden atmosphärischen Gestaltung des SkyBox Labs Teams. In Zusammenarbeit mit dem mächtigen und sphärischen Soundtrack vom Studio A Shell in the Pit vertonen sie jedes kleinste Detail, jede Aktion und jede Szene mit erschreckend passender Präzision. Die Musik des Studios, das auch schon Wandersong und Rogue Legacy Soundtracks komponierte, schmiegt sich zu jeder Zeit der Situation an. Unterbreitet endlosen Flächen epische Klänge, forciert die Bedrohung oder untermalt das kurze zur Ruhe kommen.

Dazu jagt dir SkyBox Labs ein imposantes Sounddesign um die Ohren. Jeder Schritt im Schnee lässt deine Füße erfrieren. Jeder unruhige Atemausstoß der Protagonistin sorgt für noch mehr Gänsehaut. Das Grummeln der Slendermanartigen Wesen im Wald lässt dich erstarren. Jedes noch so unwichtig erscheinende Detail bekommt seinen ganz eigenen Platz in deiner Dolby Atmos Welt. Es ist deine tontechnisch intensivste Erfahrung seit Hellblade: Senua’s Sacrifice. Und das ganz ohne Worte. Faszinierend!

Stelas Gespür für Schnee

Fast überflüssig zu erwähnen, dass das Wort Cinematic hier nicht nur reine Plattitüde bedeutet. In Stela wachsen Kino und Videospiel zusammen. Immer wieder erwischt du dich dabei, wie du der gewaltigen Inszenierung deine Beachtung schenkst und deine Protagonistin für ein paar Sekunden außer acht lässt. Keine gute Idee, doch die Kniffe im Zusammenspiel von Perspektive und Blickwinkel sind einfach zu beeindruckend, um sie ungeachtet der sterbenden Welt zu überlassen.

Stela zoomt gemächlich zwischen ausschweifender Totale und spannungserregendem Fokus auf die Protagonistin und Aktion hin und her. Immerzu exakt und nah am Geschehen. Mit einem Funkeln in den Augen nimmst du wohltuende Ruhe in all der Hektik wahr. Die Landschaften der sterbenden Welt müssen wahre Naturkunstwerke gewesen sein. Ein Inszenatorisch perfektes Zusammenspiel aus Bild, Ton und Aktion. Nie war Schnee in einem Videospiel schöner.

Die Liebe zur großen Leinwand wird von SkyBox Labs – die zur Zeit als Co-Studio am kommenden Halo Infinite arbeiten – in jeder Sekunde Stela zelebriert. Sie picken sich effektvolle Einstellungen des Kinos heraus und implementieren sie in ihr interaktives Erlebnis. So selbstverständlich und bewusst, als hätten das Platformer niemals auch nur ansatzweise anders gemacht.

Stela ist eine der intensivsten Spielerfahrungen des Jahres

Doch dem ist nicht so. Platformer zeigen oft absolute Starrheit in ihren Bildern, immerzu auf das Spielgeschehen fokussiert. Stela verbindet dynamische eindrucksvolle Blickwinkel mit der Spielerfahrung und erschafft dadurch eine ganz einzigartige. Stela ist überwältigend in Bild und Ton. Im innovativen inszenatorischen Auftritt aufgegangen, im Gameplay traditionell gefestigt.

Spielerisch versucht SkyBox Labs nichts allzu Neues, was nicht schon aus überragenden Platformern bekannt ist. Doch ist eine Variation dessen so verwerflich?
Nein, absolut nicht! Vielmehr ist es zumindest eine bekannte Konstante in einer überaus mitreißenden und aufbrausenden Spielerfahrung. Wo Stela in Storytelling und Inszenierung sich zu Außergewöhnlichkeiten hinreißen lässt, findet es seine Bodenhaftung im Gameplay.

Die wortlose Erzählung macht Stela zu einer unbestimmten Erzählung. Eine, die du dir selber erarbeiten musst. Die sich womöglich frei der Interpretation unbezwingbar und vage vor dir aufbaut. Doch genau das macht Stela zu einer erlebbaren Erzählung. Nicht greifbar und doch so greifbar. Denn Bedrohlichkeiten finden sich nicht nur in einer sterbenden antiken Welt, sondern auch in vielen Variationen der Auslegung dieser Geschichte. Stela ist Nahe der Perfektion.
Der Funken Hoffnung stirbt zuletzt. Du musst nur laufen. Nur laufen.

9/10 <3

Developer/Publisher: SkyBox Labs
Musik: A Shell in the Pit
Auszeichnungen: Official Selection (ID@Xbox Open House 2019), Official Selection (ID@Xbox Showcase GDC 2019), Official Selection (The Mix Seattle 2019)
Veröffentlichung: 17. Oktober 2019 (Xbox One, Apple Arcade), Q1 2020 (Steam)

Autorin: Benja Hiller
Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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