American Fugitive Review | Wie einst GTA 2?

Du hast GTA 2 geliebt und nie verstanden warum Rockstar zur 3D-Variante wechseln musste? American Fugitive ist für dich da.

Wenn du dich jemals gefragt haben solltest wie GTA 2 in seiner Vogelperspektive heutzutage aussehen würde, bekommst du jetzt frisches Anschauungsmaterial. Fallen Tree Games aus Nottingham, UK haben sich vermutlich dieselbe Frage gestellt. Doch um zum Ergebnis zu kommen verfolgten sie einen anderen Weg. Anstatt auf einen Welcome To Last Week Artikel zu warten, haben sie einfach American Fugitive entwickelt.

Prison Break

Will Riley aus dem verschlafenen amerikanischen Örtchen Red Rock County hat so einiges in seinem Leben verbockt. Seinen eigenen Vater zu töten gehört jedoch nicht dazu. Trotzdem wird er dafür eingebuchtet, da er der einzige war, der zum Eintreffen der Polizei am Tatort vor Ort war und sich gerade niemand sonst fand. Ihm bleibt also nur die einzige logische Konsequenz aus dem Ganzen irgendwie wieder rauszukommen. Ausbrechen und den wahrhaftigen Täter finden. Getrieben von unendlicher Trauer und der Lust nach Vergeltung.

American Fugitive ist ein Open World Action-Adventure, das dir innerhalb seiner 1980er Jahre Welt nahezu alle Freiheiten gewähren möchte. Als Will Riley entkommst du dem Gefängnis und arbeitest dich durch die kriminelle Welt der kleinen Stadt bis hoch zu deinem ultimativen Ziel, der Konfrontation des Mörders deines Vaters. Damit das gelingt, solltest du die Aufmerksamkeit der Polizei möglichst vermeiden. Schwierig, wenn deine sogenannten Unterstützer ständig von dir fordern Autos zu klauen, Polizeiwagen zu verschrotten oder Häuser auszurauben. Das Leben eines Ausbrechers ist schon äußerst paradox.

Rezitation eines klassischen Genres

Dabei kann Fallen Tree Games Sandkasten Spiel vor allem über seine liebevoll gestaltete Perspektive strahlen. Ein moderner comicartiger Look, der auf den ersten Blick einen abwechslungsreichen Ausschnitt auf die 80er Jahre bietet. Vor allem im Wechsel zwischen Tag und Nacht entwickelt das Action-Adventure ein stilvolles, passendes Ambiente mit stimmiger Atmosphäre.

Konversationen zwischen den Protagonisten werden mittels  Panels über die aktuelle Karte gelegt und führen so den Story Verlauf inszenatorisch durchaus gewitzt fort. Es ist die tatsächlich konsequente Fortführung des einstigen Genre Stils in dreiviertel Perspektive. Denn anders als GTA damals, mag sich American Fugitive nicht ganz der Vogelperspektive hingeben, sondern rezitiert sie viel mehr in einer eigenen, leicht gekippten isometrischen Variante. Eine Hommage, eine Referenz, nicht mehr. Fallen Tree Games stützen sich auf ihre Vorfahren, wiederholen sie jedoch nicht.

Und so legt sich die optische Referenz auf knatternde Kisten, funkende Polizisten, hupende Züge und weitere ausgewählte Umgebungsgeräusche wie das Klingeln der Kasse, das Knacken eines Schlosses oder das Einschlagen der Tür. Und immer, wenn dann die Action in Verfolgungsszenen etwas an Fahrt aufnimmt oder du gerade noch in letzter Minute aus dem Haus entkommen konntest, werden deine Taten wie in Bandit oder Auf dem Highway ist die Hölle los musikalisch treibend unterlegt. Nicht immer Abwechslungsreich, bei weitem nicht bahnbrechend, aber zumindest effektiv. Gondelst du nur mal so in der Gegend rum, weiß American Fugitive auch das angemessen zu unterlegen.

Ein Sandkasten voller Möglichkeiten?

Neben den zu erledigenden Missionen, die oft an das „Hol’s Stöckchen Prinzip“ erinnern, kannst du auch einfach auf eigene Faust die Gegend erkunden. Dir gefällt dieses gelbe Muscle Car? Gut, nimm es! Zwischen den Möglichkeit in Häuser einzubrechen oder Kleidung von der Wäscheleine zu stehlen, kannst du auch einfach Shoppen oder Donuts essen gehen. Letzteres wäre sogar hilfreich, wenn dein Gesundheitsbalken mal wieder am unteren Ende der Skala balanciert. Dazu gibt es kleine Rennen auf Zeit und Sprungschanzen, die dein Erlebnis noch actionreicher gestalten wollen.

All deine Aktionen besitzen natürlich Konsequenzen. Außer das Donuts essen natürlich. Das beschert dir keinen dicken Bauch wie ihn einst CJ in GTA San Andreas noch ertragen musste. Viel mehr führen Autos klauen, Eigentum beschädigen oder in Häuser einbrechen zu der einzig konsequenten Schlussfolgerung. Der Verfolgung durch die Polizei. 

Ob in Missionen oder abseits dieser. Die Polizei ist dein stetiger Begleiter in American Fugitive. Ja, kennst du schon von GTA 2, ich weiß. Doch in Red Rock County zeigt sie sich eher in einem humoristischen Anstrich. Denn so ganz scheinen die Genossen nicht zu wissen, was sie da tun. Sie erscheinen zwar zu Anfang äußerst hartnäckig und die Integration der Meldung deines Wagens, der Farbe und deiner Klamotten die du trägst ist durchaus realistischer Natur, nur ob sie jemals einen Führerschein gemacht haben wagst du zu bezweifeln.

Auch mit steigender Fahndungsdringlichkeit behindern sie sich gegenseitig, landen je nach Fahrweise gleich im örtlichen See, crashen in Bäume oder verheddern sich im Gartenzaun. In aller Seelenruhe fährst du um die nächste Ecke, lässt deinen Wagen umlackieren und wechselst deine Kleidung. Die kannst du sogar noch genüsslich in der örtlichen Boutique auswählen. Dass du dort hinein gegangen bist haben die Red Rock Polizisten äußerst schnell vergessen. So entwickelt sich die absolute Dringlichkeit bei Verfolgung zur Realsatire.

Konsequenz

Der Sandkasten der ultimativen Möglichkeiten wird in American Fugitive zur Repetitive und mit der Zeit auch immer mehr zum wandelnden Widerspruch. Fallen Tree Games möchten dir alle Möglichkeiten geben, verzetteln sich jedoch in der schieren Menge der zu bedenkenden Konsequenzen. Du kannst Autos klauen, sie beim Autohändler jedoch nicht veräußern. Dein Brecheisen bricht nach einigen Nutzungen einfach so, nur damit du durch die Welt fahren musst, um ein neues zu suchen. Das war mit der Bezeichnung Brecheisen vermutlich nicht gemeint.

Jedes Haus, in jeder Form seiner unterschiedlichen, bautechnischen Variante besitzt offenbar ein „State of the art“-Alarmsystem, das sofort automatisch Meldung an die Polizei weitergibt. Alexa, bist du’s? Noch mal, American Fugitive spielt irgendwann um 1980!
Ich will hier gar keine ultra realistische Ausprägung herbeireden, aber etwas Plausibiltät wäre dann schon wünschenswert. Wenn selbst die letzte Bruchbude mit diesem System ausgestattet wurde, leidet am Ende auch das Spielerlebnis

Zudem scheinen die Bewohner der Häuser oft sehr mutig und couragiert. Das ist sehr löblich. Egal ob du bis unter die Zähne bewaffnet bist. In 50 % der Fälle kicken sie dich bei unverhofften antreffen in Jackie Chan Manier aus dem Haus. Von der Hausfrau über den alten Opi bis zu deiner Oma. Alle mit schwarzen Gürtel in Mixed Martial Arts. Sie melden jedes Touchieren des Gartenzaunes der Polizei, direkt aus dem Auto. 1980! Was für eine vorbildliche Stadtgemeinschaft mit der innovativsten technischen Ausstattung bis heute.

American Fugitive und die verpasste Chance

Die Entwickler_innen aus Nottingham wollen zu viel und integrieren zu wenig, vor allem Plausibles. Auch wenn die Basics von American Figitive durchaus Spaß bereiten, die Optik dir das Schmunzeln der Ende 90er Sandbox Action-Adventure Zeit in neuem Glanz zurück gibt und das Cruisen mit verschiedenen Vehikeln durchaus Spaß bereitet.

Die Häufung von Unstimmigkeiten auf der zu klein geratenen Karte mit zu unübersichtlichen Ausschnitt zerrt dich immer wieder in die Realität zurück. In dieser Realität ist American Fugitive nicht die eindringliche Fortführung eines längst vergessenen Genres, sondern ein nett gemeintes Spiel mit unglaublich guten, innovativen Ideen wie dem nötigen Wechsel der Kleidung, das sich irgendwo in der Entwicklung verzettelt hat und seinen eigenen Anspruch nicht wahrnehmen kann.

Dabei überschattet die Enttäuschung über das Könnte den aktuellen Istzustand. Denn American Fugitive ist durchaus ein locker zu genießendes Sandbox Spiel, das dir einige Stunden deiner Zeit gerne klaut.
Mit dem Unterschied, dass du in deinem Kopf wie Baby Driver vor der Polizei fliehen willst, dann aber nur die Slapstick Variante vorgesetzt bekommst.

Zwischen innovativer Einbruchsmechanik inklusive Observation und purer Enttäuschung über den Ausgang dieser ist nur eine Brechstange breit Platz.
Fallen Tree Games verfehlen die Möglichkeit ein geliebtes Genre vollends wiederzubeleben. Sie schaffen es nicht all die Strippen des Ausbruchscoup zielführend zusammenzuweben. Und so hängen lose Enden an guten Anfängen, die irgendwo in deiner Ablenkung enden, in der du mit deinem Muscle Car ohne Ziel durch Red Rock County fährst, ein paar Schanzen mitnimmst, hier mal einen Donut naschst, dort nen Ring klaust und am Ende fröhlich winkend an der Polizeiabsperrung vorbeirast, wissend, dass deine Karre gleich eh wieder im frischen rot strahlt und du dein weißes Hemd gegen ein rosa Kleid getauscht hast. Nur wirklich packen will dich all das nicht.

American Fugitive ist ein ambivalentes Erlebnis, das seine Möglichkeiten und seinen Plot bei weitem nicht im Stande ist auszuschöpfen. Aber immerhin schickt es dich in ein knuffiges Örtchen, in dem du für ein paar Stunden ohne Anspruch einfach mal machen kannst was du willst. Also fast alles, gemessen an den Gegebenheiten. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. American Fugitive 2 dann aber, ja Fallen Tree Games?

6/10 <3

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=lpxblfsXA90&w=560&h=315]

Developer: Fallen Tree Games
Publisher: Curve Digital
Veröffentlichung: 21. Mai 2019 (Steam, PS4, Xbox One, Switch)

Autorin: Benja Hiller
Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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