Scarf Review | Böser Schal! Böööööser Schal!

Kann ein weiterer Puzzle-Platformer uns noch überraschen? Uprising Studios und HandyGames denken in Scarf zumindest den Heldenbegriff neu.

In der Grundschule habe ich manchmal zögerliche Versuche gemacht, mich für Mitschüler_innen, die meiner Meinung nach ungerecht behandelt wurden, einzusetzen. Da ich schon immer überall die Kleinste war, war autoritäres Auftreten nicht unbedingt eine meiner natürlichen Stärken. Da mein Selbstbewusstsein erst nach dem Abitur langsam stärker wurde, war ich während der Schulzeit oft stille Beobachterin. Meine Mama war da anders. Wo Unrecht geschah, setzte sie sich für die vermeintlich Schwächeren ein – dabei war sie genauso ein kleiner Pimpf wie ich. Der Direktor, der sie eigentlich bestrafen sollte, wenn die Kleine mal wieder einen älteren Haudegen verdroschen hatte, schaffte es nicht immer, sich ein Grinsen zu verkneifen. Trotzdem musste sie sich zur Strafe hoch oben auf die gestapelten Milchkästen setzen und über ihre Missetat nachdenken. Das Gute siegt also doch nicht immer. Oder doch?

Das Scarf doch nicht wahr sein!

Ich bin es eigentlich gewohnt, in Videospielen Held_innen zu spielen, die ihren Titel auch verdient haben. Solche, die für Gerechtigkeit kämpfen und dafür vielleicht auch die eine oder andere Konsequenz in Kauf nehmen. Die ihre Freunde, ihr Volk oder vielleicht gleich die ganze Welt retten. Mit so einem glorreichen Helden rechne ich auch, als ich dem kleinen, blauen Wesen mit der ebenso blauen Schmalzlocke in Scarf begegne. Dass seine Brust von einem dunklen Loch durchbohrt ist, fällt mir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht auf. Das kann auch daran liegen, dass ich zu Beginn meines Abenteuers mit massiven technischen Problemen zu kämpfen habe. Ich dachte eigentlich, mein Gaming-Laptop wäre stark. Stellt sich raus: Scarf ist stärker. Nicht nur das Bild ruckelt wie verrückt, auch der Ton hakt und knarzt ohrenbetäubend. Nach unbeholfenem Herumdrehen an diversen Grafik-Schrauben kann es dann aber nahezu ruckelfrei losgehen.

Da der Puzzle-Platformer mir absolut gar keinen Hinweis gibt, wer, wo, oder was ich bin und was ich hier überhaupt treibe, renne ich erst einmal dem roten Drachen hinterher, der vor meiner Nase herumschlängelt. Ich erfahre, dass die Mutter des Drachens von Wesen umgebracht wurde, die aus ihren Überresten Portale in andere Welten gebaut haben. Wow, da wäre ich auch sauer. Trotzdem denke ich mir noch immer nichts Böses, als der Drache sich in einen Schal verwandelt und sich sanft um meinen Hals legt. Als ich mich vor den Portalen wiederfinde, die die bösen Wesen offensichtlich aus der Drachen-Mama erschaffen haben, mache ich das einzig logische: Ich gehe hinein. So dramatisch, wie der Einstieg in die Geschichte vermuten ließ, scheint es in der Welt hinter dem Portal überhaupt nicht zu sein. Um ehrlich zu sein ist es hier sogar richtig idyllisch.

Badass Mode – ON

Also stromere ich herum, der Schal flattert im Wind – das Leben ist schön! Ziemlich schnell beglückt Scarf mich auch noch mit meiner ersten Fähigkeit: Wenn ich einen Doppelsprung mache, verwandelt der flatternde Lappen an meinem Hals sich in praktische Flügel, mit denen ich entspannt auf höhere Plattformen springen kann. “Ach Schal, was bist du doch für ein lieber Freund”, denke ich noch, als ich plötzlich in der Ferne ein Wesen entdecke, das so ähnlich aussieht wie ich. Nur, dass er statt einer Schmalzlocke eine Holzmaske auf dem Kopf trägt.  Und was macht mein Schal aka Drache aka Flügel-Kumpel? Der saugt ihm einfach das Leben aus dem Leib. Und ich muss tatenlos zusehen! Und plötzlich bemerke ich das Loch in meiner Brust – da flutscht die Seele nämlich rein. Okay, wenn das so ist. Dann bin ich jetzt eben diese Art Held.

Mit der neu gewonnenen Erkenntnis, dass ich offenbar das Böse in Person bin, versuche ich, mich in den verschiedenen Welten zurechtzufinden. Teilweise etwas lost, weil ich mich wieder mal verlaufen habe, springe auf Plattformen, löse Rätsel und sammle allerhand Zeugs ein. Collectibles gibt es in Scarf nämlich mehr als genug. Da wären zum einen kleine Spielzeuge. Die bringen mir gar nichts, glänzen aber hübsch golden. Außerdem hätten wir noch eine Art leuchtender Mini-Schals, die am Anfang jeder Welt überall verstreut werden und an die ich nur herankommen kann, in dem ich diverse Rätsel löse. An versteckten Orten hängen zusätzlich Gemälde, mit denen ich kleine Story-Schnipsel freischalten kann. Die werden besonders gegen Ende noch einmal wichtig: Denn nur, wenn ich eine gewisse Anzahl an Gemälden gefunden habe, kann ich ein alternatives Ende freischalten und mein Schicksal in eine andere Richtung lenken.

Gut oder böse? Scarf hält uns allen den Spiegel vor

Die Puzzle, die sich über die Meeres-, Wüsten- und Wald-Level erstrecken, sind nicht besonders innovativ. Das heißt nicht, dass sie mir keinen Spaß gemacht hätten, allerdings bieten sie Puzzle-Fans keine große Herausforderung. Die größte Schwierigkeit liegt meist darin, die langen Strecken zwischen den einzelnen Rätseln zu überwinden. Aber auch das wird im Laufe des Spiels komfortabler, da mein Schal immer coolere Dinge lernt. Irgendwann dient er mir als Liane, mit der ich über riesige Schluchten schwingen kann. Meine Flügel spannen sich zu einem Gleitschirm auf, mit dem ich über größere Distanzen fliegen kann. An einigen Stellen dient der Schal mir als Katapult, um auf weit entfernte Plattformen zu gelangen. Das Katapult bedient mein Held leider komplett eigenständig. Hier hätte ich mir gewünscht, dass ich selbst noch Einfluss darauf gehabt hätte, wie stark ich den Schal spanne und wie weit ich nach vorne geschossen werden möchte.

Auf verschiedenste Weisen erkunde ich also die magischen Welten, die Scarf zu bieten hat. Auf einem relativ hohen Niveau muss ich aber leider sagen, dass der Puzzle-Platformer mich grafisch nicht vom Hocker gerissen hat. Während des Spielens habe ich immer wieder das Gefühl, das alles schon einmal gesehen zu haben. Vielleicht wird meine Wahrnehmung von den diversen Bugs getrübt, die mich das ganze Spielerlebnis hinweg begleitet haben. Mal stecke ich zwischen zwei Felsen fest, mal muss ich meinen Spielstand komplett neu laden, weil mein Charakter eine bestimmte Aktion einfach nicht mehr ausführen kann. Das alles ist ein bisschen schade, denn die Geschichte, die Scarf erzählt, ist trotz aller Fantasie und Magie nah am echten Leben. Und ich bin mir am Ende nicht ganz sicher, ob mein Ende gut oder böse ist, ob mein Held gut oder böse ist – und auf welcher Seite ich in all dem eigentlich stehen will. 

6/10 🧣🐲

Developer: Uprising Studios
Publisher: HandyGames
Genre: Puzzle Platformer
Team: David Iglesias Martínez, Celer Guitérrez Dávila (Design, Narrative), Manu Ciborro López (3D Art), Carlos Alberto García González (Programming Lead), Medry Veláz de Medrano Serrano (3D Animation Lead)
Musik: Celer Guitérrez Dávila
Veröffentlichung: 23. Dezember 2021 (Steam, Epic Games Store, GOG)


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Redakteurin | + posts

Der Noob von WTLW. Sie kennt sich in der Gaming-Welt nicht so gut aus wie ihre Kolleg_innen, lernt aber gerne dazu. Klassisch mit “Die Sims” in die Gaming-Szene eingestiegen, spielt sie heute am liebsten Adventures, Platformer und Puzzle-Games. RPGs sind auch okay – aber nur, wenn sie schön aussehen.

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