Lonely Mountains: Downhill Review | Pure Entspannung – und ein bisschen Stress

Meditative Radtour oder adrenalingeladene Talfahrt? Lonely Mountains: Downhill von Megagon Industries bietet beides.

Als ich klein war, hat mein Opa jede Tour de France gebannt am Fernseher verfolgt. Sehnige, schwitzende Männer, die einfach nur stundenlang durch die Gegend fuhren – ich fand das damals immer todlangweilig. Ob er mir genauso gespannt zugesehen hätte, wie ich in Lonely Mountains: Downhill kurvige Berglandschaften herunter drifte? Ich kann ihn leider nicht mehr fragen. Aber eines weiß ich sicher: Er hätte sich beömmelt vor Lachen, wenn ich zum x-ten Mal mit dem Gesicht im nächsten Felsen gebremst und mich dabei tierisch aufgeregt hätte. Kommentare wie „Oh, da bisse jetz aber ganz schön inne Bredullje, wa Klene“ oder „Dat kann der Armstrong aber besser!“ hätte ich dann vermutlich aus dem Off zu hören bekommen.

Der Tour de France habe ich nie wieder eine Chance gegeben, und eigentlich hat sie auch gar nicht so viel mit diesem Fahrrad-Rennspiel gemeinsam, denn hier gibt es niemanden, den ich überholen könnte. Aber die Erinnerung an meinen Opa vor dem Sportsender, das hat etwas Beruhigendes. Vielleicht habe ich deshalb sofort diese Assoziation, als ich meine ersten Versuche im virtuellen Downhill-Parcours auf der Nintendo Switch mache. Denn auch hier ist alles ruhig. Die Natur, die Berge und die Seen habe ich ganz für mich. Meine einzige Kontrahentin: Die Zeit. Naja, und die verdammt vielen Steine, Äste und Kurven, die mich immer wieder aus dem Sattel reißen.

Wie viele Stürze kann ein Mountainbiker verkraften? Alle.

Nachdem ich das Spiel gestartet habe und meinen ersten Berg runterfahre – oder eher halb runterfalle, halb versuche ganz viel zu bremsen, um nicht zu viel Speed aufzunehmen – da denke ich mir: Das wird nix. Keine Ahnung, wie oft ich innerhalb der ersten Minuten das Zeitliche gesegnet habe. Mein minimalistisch gestaltetes Fahrrad-Männchen hat jedenfalls ganz schön viel geblutet, gestöhnt und ganz komisch die Gliedmaßen verdreht. Sah nicht so gesund aus – und ich hatte ein bisschen Mitleid, aber ich war auch ein bisschen aggro, dass selbst das kleinste Steinchen zu, meiner Einschätzung nach, vollkommen übertriebenen Blutvergießen führt. Wofür hab ich schließlich ein Mountainbike unter dem Hintern?

Die Macher von Lonely Mountains: Downhill haben es allerdings geschafft, dass ich trotz anfänglicher Frustration am Ball bleibe. Nach jedem Sturz kann ich in Windeseile vom letzten Checkpoint aus neu starten. So gibt es zumindest schonmal keine Wartezeiten, die mir den Nerv rauben könnten. Plus: Meine erste Challenge bei jeder neuen Strecke besteht darin, das Ziel zu erreichen.
Das klingt selbst für mich erstaunlich realistisch und irgendwie machbar, denn nach ein paar Dutzend Stürzen nehme ich die Kurven auf einmal schon viel geschmeidiger. Außerdem kann ich die Strecke auf diese Weise ganz entspannt kennenlernen und traue mich hier und da sogar schon richtig mutig in die Pedale anstatt panisch auf die Bremse zu treten. Aus stumpfem Bremsen wird cool um die Kurve sliden, aus dämlich mit Vollspeed in den nächsten Felsen krachen wird…okay, das passiert mir immer noch ständig.

Ich will keine neuen Klamotten, ich will ein krasseres Bike!

Auf jeder ersten Erkundungstour kann ich also ganz entspannt und ohne Zeitdruck die Natur genießen. Habe ich das Zeltlager am Ziel dann tatsächlich irgendwann erreicht, schalte ich neue Challenges frei. Entweder muss ich den Berg innerhalb einer bestimmten Zeit herunter rasen oder darf eine gewisse Anzahl an Stürzen nicht überschreiten. Auch wenn ich die Strecke für die Bewältigung aller Aufgaben immer und immer wieder abfahren muss, Langeweile kommt dabei nicht auf. Denn mit jeder Herausforderung nehme ich die Landschaft anders wahr und kann mich auf die Suche nach den unzähligen Shortcuts machen, die mir bei der Bewältigung der Zeit-Challenges von Nutzen sind.

Nervig ist allerdings, dass ich relativ lange brauche, um neue Features freizuschalten. Dazu zählen zum einen neue Fahrradklamotten und Fahrrad-Designs, die mir bis auf einen höheren Style-Faktor beim Biken rein gar nichts bringen. Zum anderen wären da die viel wichtigeren Fahrradteile. Diese brauche ich, um neue Mountainbikes freizuschalten. Da ich für ein neues Bike mindestens vier, für die meisten Fahrräder sogar sechs Teile brauche, dümpele ich eine gefühlte Ewigkeit mit meinem ersten Rad herum. Habe ich endlich genug Teile zusammen, fällt die Entscheidung schwer, denn jedes Modell hat seine eigenen Stärken und Schwächen. Immerhin: Das Upgrade lohnt sich, denn der Unterschied zum Basis-Modell ist bereits in den ersten Kurven deutlich spürbar. Bis alle Fahrräder freigeschaltet sind, dauert es aber definitiv zu lange. Cool wären mehr Auswahlmöglichkeiten für bestandene Herausforderungen, die entweder die Optik oder die Beschaffenheit des Bikes anpassen.

Ein Rennspiel ganz ohne Musik – macht das Bock?

Während des Spielens fällt mir immer wieder auf, wie die bergige Umgebung mich fast unbemerkt in ihren Bann zieht: Ständig erwische ich mich, wie ich mit gekräuselter Stirn oder zusammengepressten Lippen die engen Kurven nehme. Eine Besonderheit, die diesen Effekt unterstützt: Es gibt keine Musik, nicht einmal optional. Das einzige, was ich während des Spiels zu hören bekomme, sind rauschende Bäche, ratternde Bremsen oder flatternde Vögel. Auch wenn der Soundtrack oft das Spielerlebnis ausmacht – hier führt die Abwesenheit der Musik dazu, dass ich noch tiefer ins Spiel eintauche. Falls mir das doch zu langweilig wird, kann ich einfach meinen Lieblings-Podcast nebenher laufen lassen, ohne auf den Sound des Spiels verzichten zu müssen. Denn was um mich herum passiert, nehme ich ähnlich intensiv war wie das Spiel selbst. Ein bisschen wie in der Schule, wo ich immer am meisten vom Stoff mitbekam, wenn ich scheinbar gedankenverloren in meinem Heft herumgekritzelt habe.

Bemerkenswert ist auch die Optik von Lonely Mountains: Downhill. Obwohl die Umgebung schlicht und etwas klobig gestaltet ist, wirkt sie erstaunlich realistisch und bietet viel Abwechslung. Insgesamt gibt es vier Berge mit je vier Strecken, die nach und nach freigeschaltet werden können. Jeder Berg ist anders – vom etwas kahlen Gebirge über idyllische Waldwege bis hin zur Wüstenlandschaft bietet jede Strecke ihre ganz eigenen Herausforderungen. Auf dem Weg entdecke ich zahlreiche Kleinigkeiten, die mein Gefühl des “echten” Fahrradfahrens verstärken: Zum Beispiel habe ich für kurze Streckenabschnitte eingeschränkte Sicht, weil ein paar Äste im Weg sind, ich gerade durch einen schattigen Tunnel fahre oder Sand aufgewirbelt wurde. Diese liebevollen Details haben mir richtig gut gefallen und das Spielerlebnis noch einmal deutlich aufgewertet.

Lonely Mountains: Downhill kann auch Fahrrad-Noobs begeistern

Fast wäre Lonely Mountains: Downhill des Berliner Studios Megagon Industries ein perfektes Spiel – fast. Wie bereits erwähnt, ist das Upgraden der Fahrräder ein Schwachpunkt, der den Spielspaß aber nicht allzu sehr einschränkt. Zwischendurch habe ich mir auch eine Multiplayer Option gewünscht, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das die entspannende Wirkung zunichtemachen würde.

Also alles Meckern auf hohem Niveau, denn insgesamt hat das Fahrrad-Game mich wirklich positiv überrascht. Obwohl ich mit Mountainbiken im echten Leben gar nichts am Hut habe, konnte ich hier das Gefühl bekommen, wie es wohl sein muss, wirklich die Berge runter zu heizen. Zwar sind 16 freischaltbare Strecken nicht wahnsinnig viel, sie bieten aber genug Abwechslung und werden dank verschiedener Challenges auch nicht so schnell öde. Vor allem deshalb, weil die Natur wunderschön ist und immer wieder zum Anhalten und Genießen einlädt. Das Beste daran: kurze Verschnaufpausen werden nicht bestraft, sondern sind sogar ausdrücklich erwünscht.

9/10 🌄

Developer: Megagon Industries
Publisher: Thunderful Publishing
Genre: Racing, Arcade, Funsport
Team: Daniel Helbig (Designer), Jan Bubenik (Designer)
Auszeichnungen: Best Innovation & Technology (Deutscher Computerspielpreis 2020), Best Indie Game (Deutscher Entwicklerpreis 2019), Best International Indie Game (PGA 2017), Winner Showcase Buzz Workshop (GIC 2017)
Veröffentlichung: 23. Oktober 2019 (Steam, PS4, Xbox One), 07. Mai 2020 (Switch)

Redakteurin | + posts

Der Noob von WTLW. Sie kennt sich in der Gaming-Welt nicht so gut aus wie ihre Kolleg_innen, lernt aber gerne dazu. Klassisch mit “Die Sims” in die Gaming-Szene eingestiegen, spielt sie heute am liebsten Adventures, Platformer und Puzzle-Games. RPGs sind auch okay – aber nur, wenn sie schön aussehen.

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