Unforeseen Incidents Review | Well…I actually saw that coming

Backwoods Entertainment und Application Systems Heidelberg kreieren mit Unforeseen Incidents eine Dystopie, die aktueller nicht sein könnte.

Die Ruhris der WTLW-Redaktion freuts besonders: Das Point-and-Click Adventure Unforeseen Incidents stammt nicht nur aus Deutschland, sondern auch noch aus dem Pott – genauer gesagt aus Essen. Dort ist das ehemals in Bochum ansässige Indie-Studio Backwoods Entertainment beheimatet. Eigentlich könnten Benja, Malte und ich da mal anklopfen und fragen, welche Hiobs-Botschaften uns in den kommenden Jahren noch erwarten. Denn von Unforeseen Incidents kann ich wirklich nicht sprechen, wenn ich den Plot des Adventures mit dem Plot von 2020 bis heute vergleiche. Mich würde mal interessieren, wie die Entwickler_innen reagiert haben, als das Ausmaß der Pandemie inklusive jeglichem Querdenker_innen-Geschwurbel absehbar war. Ich an ihrer Stelle hätte direkt ein Gewerbe als Wahrsagerin angemeldet. Hätte ich Unforeseen Incidents zu seinem Erscheinen im Jahr 2018 gespielt, hätte ich die Story für etwas übertrieben gehalten. “Sowas passiert ja im echten Leben nicht”, hätte ich gesagt und eine abwinkende Handbewegung gemacht. “Aber die Rätsel waren ganz gut.” 

Symptome: Kopfschmerzen, Übelkeit, Tod

Ich habe Unforeseen Incidents jedoch im Jahr 2022 gespielt, was meine Sicht auf die Dinge eeeetwas verschoben hat. Aber von Anfang: Ich befinde mich in Yelltown. Stellt es euch entweder als die kleinste Stadt der Welt oder die größte Müllhalde der Welt vor. Ich glaube, beides beschreibt den Ort recht passend. Nicht nur der Stadt, sondern auch der Wohnung, in der mein Protagonist Harper Pendrell lebt, ist der Verfall deutlich anzusehen. In Yelltown wohnt nur, wer hier geboren wurde. Niemand würde auf die Idee kommen, freiwillig dorthin zu ziehen. Die Gebäude sind oll, die Leute irgendwie auch. Selbst Harper sehe ich seine Müffeligkeit an, bevor ich durch andere Charaktere im Spiel auf seinen strengen Körpergeruch hingewiesen werde. Als wäre dieser Ort nicht schon gebeutelt genug, ist ausgerechnet hier ein gefährliches Virus ausgebrochen – das Yelltown Fieber. 

Wer sich damit ansteckt, kann innerhalb von Minuten mit Symptomen wie Kopfschmerzen, Fieber, Übelkeit und Blutungen aus diversen Körperöffnungen rechnen. Wenige Stunden nach der Ansteckung führt das Fieber in den meisten Fällen zum Tod. Als Harper eine blutende Frau in der Nähe seiner Wohnung entdeckt, kommt er in einen Zwiespalt: Er möchte die RHC rufen, eine Organisation, die sich um die erkrankten Personen kümmert. Die geschwächte Frau scheint zwar dem Tod nahe zu sein und jede Hilfe gut gebrauchen zu können. Trotzdem versucht sie mit letzter Kraft, sich gegen einen Einsatz der RHC zu wehren. Die Angst vor den Männern in den seltsamen, gelben Gummianzügen ist ihr deutlich anzumerken. Aber wieso? Ein Brief, den die Sterbende an Harper übergibt, soll Licht ins Dunkel bringen. In einem Hotel soll er eine Person treffen, die ihm angeblich wichtige Infos zu dem Fieber geben kann.

Komma schön auf meinen Schrottplatz, du olle Flitzpiepe

Erst einmal möchte Harper aber mit Professor Macbride sprechen, einem langjährigen Freund, der bereits nach einem Impfstoff gegen das gefährliche Virus forscht. Macbride war definitiv Virologe, bevor es cool war. Die Angst der infizierten Frau vor ihren vermeintlichen Rettern der RHC macht die beiden stutzig. Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. So beginnt meine Suche nach dem Ursprung des Virus. Dabei grase ich zunächst das trostlose Yelltown ab. Ich inspiziere das Hotel, das es locker in die RTL Doku-Soap “Wir retten ihren Urlaub” geschafft hätte, oder den Schrottplatz, der erstaunlicherweise noch schrottiger aussieht als der Rest von Yelltown. Den Schrottplatzbetreiber Leeroy schließe ich dank seiner authentischen Ruhrpott-Schnauze sofort in mein Herz. Seitdem ich von dem Bochumer Ursprung des Adventures weiß, überrascht mich diese Präzision natürlich nicht mehr. Insgesamt ist die Synchronisierung absolut glaubwürdig und nicht so überzeichnet, wie das in klassischen Point-and-Click Adventures gerne mal der Fall ist.

Aber kommen wir zu den Rätseln. Ein Point-and-Click kommt ja selten mit einer Portion Aggression aus. Für mich bildet Unforeseen Incidents hier eine Ausnahme. In jedem Bildschirm kann ich mir die Gegenstände, mit denen ich interagieren kann, anzeigen lassen. Obwohl es ansonsten keinerlei Hinweissystem gibt, komme ich erstaunlich gut durch alle Rätsel hindurch. Die Problemchen, mit denen ich hier und da zu kämpfen habe, sind eher technischer Natur. Mal finde ich einen Weg nicht wieder, weil Vorder- und Hintergrund der Kulisse nicht sauber voneinander getrennt sind. Mal muss ich meinen Spielstand neu laden, weil meine Aktion nicht das gewünschte Verhalten der Charaktere im Spiel triggert. Das alles frustriert mich aber weniger als so manches Adventure, das ich nach der tausendsten Wiederholung des immer gleichen Satzes am liebsten gegen die Wand geklatscht hätte. Wer in guter alter Point-and-Click Manier quatscht, inspiziert und kombiniert, wird hier fast immer selbstständig ans Ziel kommen.

Unforeseen Incidents: Klassisches Point-and-Click, aber in modern

Genauso positiv überrascht wie von der Synchronisation bin ich vom Humor in Unforeseen Incidents. Obwohl das Thema ernst ist, hat hier fast jeder einen lapidaren Spruch auf den Lippen. Auch hier bilde ich mir ein, im Nachhinein die Handschrift des Ruhrpott-Teams zu erkennen, denn manch derber Spruch hat mich schon überrascht. Wahrscheinlich denkt ihr, mein Wahrsager_innen-Vergleich am Anfang wäre etwas übertrieben gewesen. Ein tödliches Virus zu thematisieren ist jetzt erst einmal nichts total Ungewöhnliches. Einige Dialoge und Details haben mich aber doch eiskalt erwischt. Als ein älterer Herr, den ich vor einem geschlossenen Restaurant (klar, Lockdown) antreffe, anfängt zu schwadronieren, bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich noch spiele oder aus Versehen die Nachrichten eingeschaltet habe. Da fallen Sätze wie “Ist dir klar, dass die Ärzte diejenigen sind, die uns krank machen?” Auch vor Schlagwörtern wie Impfzwang und Lügenpresse macht der Mecker-Opa nicht Halt. 

Es mag der Aktualität des Themas geschuldet sein, dass Unforeseen Incidents mich von Beginn an gefesselt hat. Ich mutmaße aber jetzt einfach mal, dass mir das Point-and-Click Adventure wegen seiner Zugänglichkeit und der charmanten Charaktere auch im Jahr 2018 schon gefallen hätte. Mit seinen vier umfangreichen Kapiteln habe ich Unforeseen Incidents als relativ lang empfunden, langweilig wurde mir aber so gut wie nie. Ich mag das Genre, finde aber auch, dass die platten Witze, aberwitzige Kombinationen aus obskuren Gegenständen und total abwegige Lösungsansätze den Spielspaß schnell verderben können. Das alles finde ich hier auch, aber irgendwie in einer viel angenehmeren Version, die modern und erfrischend ist. Wer Unforeseen Incidents noch nicht gespielt hat – jetzt gerade ist die beste Zeit dafür. Und wer es schon gespielt hat, wird in einem zweiten Durchgang bestimmt überrascht sein, wie anders es sich nur vier Jahre später anfühlt.

8/10 🦠😷

Developer: Backwoods Entertainment, Application Systems Heidelberg
Publisher: Application Systems Heidelberg
Genre: Point-and-Click Adventure
Team: Marcus Bäumer (Game Designer, Writer, Programmer), Matthias Nikutta (2D Artist, Animator), Alasdair Beckett-King (Co-Writer), Sebastian Werner (Animator)
Musik: Tristan Berger
Auszeichnungen: Bestes Deutsches Jugendspiel (Deutscher Computerspielpreis 2019)
Veröffentlichung: 24. Mai 2018 (Steam, GOG), 27.01.2022 (Switch)


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Redakteurin | + posts

Der Noob von WTLW. Sie kennt sich in der Gaming-Welt nicht so gut aus wie ihre Kolleg_innen, lernt aber gerne dazu. Klassisch mit “Die Sims” in die Gaming-Szene eingestiegen, spielt sie heute am liebsten Adventures, Platformer und Puzzle-Games. RPGs sind auch okay – aber nur, wenn sie schön aussehen.

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