El Hijo: A Wild West Tale Review | So schön war Versteckenspielen noch nie

Den Titel „Best Indie Game“ hat die gamescom El Hijo: A Wild West Tale schon im Jahr 2019 verliehen. Aber konnte es sich auch in unsere Herzen schleichen?

Als meine Mutter noch ein kleines Mädchen war, hat meine Oma einmal stundenlang im ganzen Haus nach ihr gesucht. Nachdem gefühlt jeder Winkel beleuchtet und Oma schon am Rande der Verzweiflung war, fand sie ihre kleine Tochter plötzlich gemütlich eingekuschelt im Katzenkörbchen – gemeinsam mit den frisch geborenen Katzenbabys. Wer seine Ruhe vor Müttern, ätzenden Geschwistern oder nervtötenden Mitbewohner_innen haben will, muss also bei der Suche nach dem perfekten Versteck kreativ werden. Ich selbst war das langweiligste Kind der Welt, habe nie Mist gebaut und wäre nie auf die Idee gekommen, mich zu verstecken. Dafür war meine Angst, irgendetwas Spannendes zu verpassen, viel zu groß. FoMO before it was cool. Umso aufregender war es für mich, jetzt mit Ende 20 in  El Hijo: A Wild West Tale in die Rolle eines kleinen, schelmischen Jungen zu schlüpfen und den Erwachsenen endlich mal auf der Nase herumzutanzen. 

Versteckspiel unter erschwerten Bedingungen

Langweiliges Kind hin oder her – natürlich habe auch ich früher ab und zu mit meinen Freund_innen Verstecken gespielt. Unser Lieblingsspiel war „Verstecken im Dunkeln“, was für uns sowohl den Schwierigkeitsgrad als auch den Thrill ins schier Unendliche gesteigert hat. Trotzdem: Verglichen mit dem, was El Hijo auf seinem Abenteuer im Wilden Westen erlebt, war das natürlich maximal unspektakulär. Bei dem kleinen Jungen steht nämlich einiges auf dem Spiel und entdeckt zu werden hat sehr viel weitreichendere Konsequenzen, als einfach nur ein Kinderspiel zu verlieren. Nicht nur musste er in seinen jungen Jahren bereits seinen Vater begraben, auch sein Zuhause ist von Banditen komplett abgefackelt worden. Um ihn vor noch Schlimmerem zu bewahren, bringt seine Mutter ihn schweren Herzens in einem Kloster in Sicherheit und reitet davon. El Hijo aber will sich seinem Schicksal nicht kampflos ergeben und beschließt, aus dem Kloster zu fliehen und seine Mutter zu suchen.

In der Rolle des „El Hijo“ besteht unsere Aufgabe also darin, unentdeckt an Mönchen, Banditen und Wachen vorbeizukommen und uns geschickt von Level zu Level zu schleichen. Hierbei spielen vor allem Licht und Schatten eine bedeutende Rolle, denn nur im Licht können wir von den Erwachsenen gesehen werden. Im Schatten sind wir zumindest solange sicher, bis uns einer der Wächter zu nahe kommt. In den ersten Leveln schleichen wir uns durch die düsteren Gänge des Klosters und können uns sogar das Sichtfeld der Mönche anzeigen lassen, um den besten Fluchtweg zu finden. Trotz minderwertiger Versteckspiel-Erfahrung war ich anfangs noch ziemlich selbstbewusst und dachte: Das wird easy. Als ich es aus dem Kloster herausgeschafft hatte und mich im Freien davonschleichen musste, wurde mir klar: Das ist überhaupt nicht easy. Denn draußen gibt es naturgemäß viel mehr Licht (guckt mal aus dem Fenster, ist echt krass), zum anderen bieten die freien Flächen der Prärie viel weniger Versteckmöglichkeiten.

Stealth Abenteuer für alle, denen abmurksen zu Mainstream ist

Ehrlich gesagt war ich froh, dass es mir nicht so leicht gemacht wurde, wie anfangs gedacht. Ich war ziemlich schnell ziemlich gefesselt und habe mich sogar des Öfteren dabei erwischt, wie ich mit zusammengekniffenem Mund vor dem Bildschirm saß. Manchmal habe ich auf der Suche nach neuen Verstecken sogar ein bisschen angefangen zu schwitzen. Als El Hijo konnte ich in große Tonkrüge klettern, mich hinter Kisten ducken oder unter Tische krabbeln. Sind all diese Versteckmöglichkeiten mal nicht gegeben, ist Präzision gefragt. Dann muss ich genau darauf achten, bis wohin das Sichtfeld der Wachleute reicht und wann ich unentdeckt lossprinten oder mich leise vorbeischleichen kann. Hindernisse gibt es dabei genug: Sei es, dass die Wachen umherlaufen und sich dabei in alle Richtungen drehen, sei es ein wankender Kronleuchter, der mich aus dem schützenden Schatten plötzlich ins Rampenlicht rückt oder seien es ein paar umherlaufender Hühner, die mich plötzlich mit wildem Gegacker verraten.

Das Besondere an El Hijo: A Wild West Tale ist, dass das Schleichspiel vollkommen ohne Gewalt auskommt. Das ist bei vielen anderen Games dieses Genres anders. Das heißt aber auch, dass ich mich nicht wehren kann, wenn ich entdeckt werde. Ganz ohne Gadgets muss ich mich aber doch nicht durchschlagen: Auf meinem Weg finde ich zum Beispiel eine nützliche Zwille, mit der ich Glühbirnen kaputtschießen oder Banditen ablenken kann. Oder ich nutze Raketen, die mir nicht nur den Weg freibomben, sondern auch zur kurzzeitigen Orientierungslosigkeit der Wächter führen. Je weiter ich komme, desto mehr Werkzeuge muss ich nutzen und auch kombinieren, um es ans Ende des Levels zu schaffen. Dadurch kommt zusätzlich zum Schleichen noch eine Puzzle-Komponente ins Spiel, die die Schwierigkeit erhöht und für Abwechslung sorgt. Gegner mit einem aufziehbaren Spielzeugmännchen abzulenken ist doch viel charmanter, als sie in einer Gefahrensituation einfach abzumurksen, oder?

El Hijo: A Wild West Tale besticht mit viel Grafik und wenig Ton

Die Welt des Wilden Westens in El Hijo ist auffallend schön. Jedes Level steckt voller liebevoller Details und eröffnet eine neue, atmosphärische Welt. Durch den Comic-Style wirkt das ganze Setting sehr kindlich und niedlich. Umso überraschter war ich, als ich plötzlich andere Kinder entdeckte, die für die Banditen arbeiteten und an Ketten oder in Käfigen gefangen gehalten wurden. Anders als El Hijo, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, schienen diese Kinder aufgegeben zu haben. Auf meinem Weg in die Freiheit kann ich sie inspirieren und ihnen neuen Mut schenken. Als Dank schenken sie mir dafür manchmal ein Werkzeug. Aber auch ohne Gegenleistung hat mir diese zusätzliche Komponente so viel Freude bereitet, dass ich in jedem Level immer alle Kinder inspirieren wollte. Dadurch bin ich nicht durch jedes Level hindurchgerannt, sondern habe mir die Zeit genommen, alle Kinder zu finden und ihnen zu neuem Mut zu verhelfen.

Anders als die Grafik ist das Sounddesign des Stealth Games sehr reduziert und zurückhaltend. Für mich, die von Videospielmusik schnell überfordert und genervt ist, ist das ein ganz klarer Pluspunkt. Es gibt keine Dialoge, dafür wurde sich bei den Geräuschen, die die Charaktere von sich geben, umso mehr Mühe gegeben. Die Mönche summen oder schnaufen und die Banditen klingen mit ihrem Spanisch-Kauderwelsch ein bisschen wie Minions, die mal einen VHS-Kurs besucht haben. Die Satzfetzen und Geräusche, die die Erwachsenen und Kinder von sich geben, konnten mir oft ein Lächeln ins Gesicht zaubern. An den richtigen Stellen wird die Musik schneller und unterstreicht damit spannende und brenzlige Situationen. Trotz oder gerade wegen dieser reduzierten Sounds bin ich teilweise vollkommen in der Welt versunken. Das passiert mir als Smombie, deren Aufmerksamkeitsspanne dank Social Media und Co. In den letzten Jahren auf ein Minimum gesunken ist, sonst eher selten.

Bestes Indie Game 2020-Gewinner bei den Nina Awards

Das außergewöhnliche Schleichspiel mit der schönen Grafik wurde schon 2018 angekündigt war bereits vor Release preisgekrönt. Genug Gelegenheit, um hohe Erwartungen zu wecken. Ich selbst war mal wieder late to the Party und habe erst recht spät Wind von dem Spiel bekommen. Seit meiner News zu El Hijo habe aber auch ich richtig auf den Release hingefiebert. Und ich wurde nicht enttäuscht. Von liebevoller Grafik kann ich mich ja immer schnell begeistern lassen. Aber schon lange bin ich nicht mehr so tief in eine Welt abgetaucht, dass ich für einen kurzen Moment alle anderen äußeren Reize vergessen konnte. Und ich habe ein neues Genre für mich entdeckt – aber nur, wenn wir in Zukunft noch mehr gewaltfreie Stealth Abenteuer bekommen. Falls die Entwickler_innen von Honig Studios das lesen: Ich würde mich freuen, wenn wir uns in Zukunft noch durch andere eurer Welten schleichen dürfen.

10/10 🏜️

Developer: Honig Studios, Quantumfrog
Publisher: HandyGames
Genre: Stealth Adventure
Team: Juan Useche (Artist), Seth van Heijster, Vincent van Heerden (Game Designers), René Rother, Yaron Zimmermann (3D Artists), Jade Wu, Ali Matar (3D Animators), Jaroslaw Kaschtalinski (Cut Scenes 2D Animation), Maria Grau Stenzel (Creative Producer), Jiannis Sotiropoulos (Technical Producer), Stephan Schüritz, Lukas Reuter (Programming)
Musik: Phivos-Angelos Kollias
Auszeichnungen: Best Indie Game (gamescom 2019)
Veröffentlichung: 3. Dezember 2020 (Steam, Stadia)

Redakteurin | + posts

Der Noob von WTLW. Sie kennt sich in der Gaming-Welt nicht so gut aus wie ihre Kolleg_innen, lernt aber gerne dazu. Klassisch mit “Die Sims” in die Gaming-Szene eingestiegen, spielt sie heute am liebsten Adventures, Platformer und Puzzle-Games. RPGs sind auch okay – aber nur, wenn sie schön aussehen.

2 Gedanken zu “El Hijo: A Wild West Tale Review | So schön war Versteckenspielen noch nie

  1. Hallo Nina,
    vielen dank für die schöne Review.
    Könntest du das Team wie folgt ergänzen?

    Creative Producer
    Maria Grau Stenzel

    Technical Producer
    Jiannis Sotiropoulos

    Programming
    Stephan Schüritz
    Lukas Reuter

    Artist
    Juan Useche

    Game Design
    Seth van Heijster
    Vincent van Heerden

    3D Artist
    René Rother

    3D Animation
    Jade Wu
    Ali Matar

    Cut Scenes 2D Animation
    Jaroslaw Kaschtalinski

    Interactive Music Composition
    Phivos-Angelos Kollias

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