Last Stop Review | Über den letzten Halt entscheide ich

Das Narrative Last Stop von Variable State entführt uns in eine Welt, die irgendwo zwischen ganz normal und völlig abgefahren pendelt.

„Vom Mond aus betrachtet spielt das Ganze gar keine so große Rolle.” Ja, das ist ein kitschiger Kalenderspruch. Aber einer, über den ich mir in abgewandelter Form ziemlich oft Gedanken mache. Ich stelle mir gerne vor, was die knapp acht Milliarden Menschen, die sich mit mir diese Erde teilen, wohl gerade machen. Wenn ich nach einem nervigen Arbeitstag abgehetzt noch schnell einkaufen fahre und auf dem Weg eine Familie sehe, die gerade voller Vorfreude ihre Urlaubskoffer ins Auto räumt, dann denke ich, wie unterschiedlich unsere Lebenswelten doch gerade sind. Und das nur im ganz Kleinen. Größer gedacht leiden gerade irgendwo Menschen, hungern, werden geboren und sterben, während ich mir überlege, ob ich eher Lust auf Pizza oder Burger habe. Wenn dann so eine globale Pandemie um die Ecke kommt, merke ich plötzlich, dass unsere Welten doch irgendwie zusammenhängen. Und ich ertappe mich dabei, dass ich diesen Gedanken irgendwie tröstlich finde.

Sag mal, kennen wir uns?

Auf der Erde gibt es – Stand jetzt – 195 Länder.  Zwischen ihnen gibt es oft Unstimmigkeiten, Streitereien, im schlimmsten Fall Kriege. Und mit einem Schlag haben sich all unsere Realitäten und Prioritäten, die sonst unterschiedlicher nicht sein könnten, um ein und dasselbe Thema gedreht: das Virus. Ist das nicht irgendwie irre? Warum treffe ich, wenn ich durch meinen kleinen Heimat Stadtteil in Essen gehe, original keine Person, die ich kenne, während mein Vater nach Mallorca fliegt und da völlig random beim Strandspaziergang einer Bekannten in die Arme läuft? Vielleicht sind es Zufälle, vielleicht ist alles vorbestimmt. Keine Ahnung. Ich jedenfalls glaube eher an Ersteres. So oder so sollten wir uns öfter darüber Gedanken machen, wie unser Handeln andere Menschen beeinflussen kann – seien sie nebenan oder extrem weit weg.

Im Narrative Last Stop bekomme ich die Möglichkeit, parallel in drei Menschenleben einzutauchen und hautnah zu erleben, wie ich mit meinen Entscheidungen die Realität meiner Mitmenschen direkt oder indirekt beeinflusse. Ich spiele abwechselnd die Geschichten von John, Meena und Donna. John ist alleinerziehender Vater eines achtjährigen Mädchens und hatte erst kürzlich einen Herzinfarkt. Meena ist eine Karrierefrau, die mehr Zeit auf der Arbeit als mit ihrer Familie verbringt und deren Projekte streng geheim sind. Und Donna ist eine Jugendliche, die gerne gegen ihre überkorrekte Schwester rebelliert und mit ihren Freunden immer auf der Suche nach dem nächsten Nervenkitzel ist. Auf den ersten Blick scheinen diese drei Personen absolut nichts miteinander zu tun zu haben. Außer, dass sie nebeneinander in der U-Bahn sitzen vielleicht. Doch wer genau hinsieht, wird schnell feststellen, dass sich ihre Wege kreuzen und ihre Geschichten sich immer stärker verzweigen. Bis sie irgendwann alle im gleichen Schlamassel sitzen.

Last Stop – Was bisher geschah

In genau dieser U-Bahn, die ich gerade erwähnt habe, beginnt und endet jeder Abschnitt. In jedem Kapitel kann ich die Reihenfolge, in der ich die Charaktere spielen möchte, frei wählen. Jeder der etwa 20-minütigen Story-Schnipsel knüpft genau da an, wo der letzte aufgehört hat. Zum Glück gibt es zu Beginn jeden Abschnitts ein kurzes „Was bisher geschah”, wie wir es aus Serien kennen. Da ich Last Stop relativ zügig in zwei Sessions durchgespielt habe, dachte ich anfangs, dass ich diese Rückblicke nicht brauchen würde. Ich bin aber jedes Mal so in Johns, Meenas und Donnas Dramen abgetaucht, dass ich dann doch froh war, zu den aktuellen Geschehnissen des jeweiligen Charakters abgeholt zu werden. Dass ich das Narrative Adventure so schnell durchgespielt habe, lag aber nicht nur daran, dass die unterschiedlichen Stories mich von Anfang an gefesselt haben. Auch das simple Gameplay hat es mir recht einfach gemacht.

Wie beim Joggen, wo ich auch dann noch ganz automatisch einen Fuß vor den anderen setze, wenn ich schon längst nicht mehr kann, laufe und laufe ich durch das moderne London in Last Stop. Dadurch, dass ich zwangsläufig von einer zur anderen Story wechsle, wird mir dabei nie langweilig. Auch kleinere Gameplay-Elemente sorgen zwischendurch für Abwechslung. So muss ich zum Beispiel eine bestimmte Tastenkombination drücken, um zu rennen. Oder ich drehe den Analog-Stick, um Johns Müsli zu mampfen, das er in Zeitnot zu sich nehmen muss, weil er wieder einmal verschlafen hat. Die meiste Zeit muss ich aber einfach laufen. Wohin, ist mir nicht immer ganz klar. Vor allem, wenn hinter einer Straßenecke plötzlich die Perspektive wechselt und ich mich erst einmal neu orientieren muss. Verlaufen kann ich mich glücklicherweise nicht. Gehe ich in die falsche Richtung, renne ich einfach gegen eine unsichtbare Wand und kann eine neue Route einschlagen.

Drei Charaktere, drei Leben, unzählige Geschichten

Natürlich geht es in Last Stop nicht nur darum, herumzulaufen und Müsli zu futtern. Meine Hauptaufgabe besteht darin, Entscheidungen zu treffen. In jedem Dialog bekomme ich drei Möglichkeiten auf mein Gegenüber zu reagieren. Auf eine provozierende Aussage ihres Mannes kann Meena entweder aggressiv kontern, ihn beschwichtigend um Verzeihung bitten, oder ihn einfach komplett ignorieren. Was die Karrierefrau auf jeden Fall bei keiner ihrer Antworten ablegen wird, ist ihr Resting Bitch Face. Ich fühle den Schlafzimmerblick dieser Frau, der irgendwo zwischen ultra gechillt und absolut desinteressiert schwankt, so sehr. Auch ihre „Spezialfähigkeit” gefällt mir: In brenzligen Situationen bleibt die Szene kurz stehen und Meena nimmt sich Zeit, ihr Gegenüber ganz genau zu analysieren, um die Situation dann nüchtern einzuschätzen und ihre Reaktion darauf abzustimmen. 

Im Gegensatz zu der kühlen Karrierefrau ist der Single-Papa John ein herzerwärmender Charakter, der im Zusammenspiel mit seinem jüngeren und attraktiven Nachbarn Jack zum erfrischenden Duo wird. Nach einem schicksalshaften Zusammentreffen in der U-Bahn wird den beiden klar, dass das regelmäßige Vertauschen ihrer Post ihre geringste Sorge ist. Nur mit Donnas rebellischer Art kann ich mich erst einmal nicht ganz identifizieren. Bei ihr brauche ich ein bisschen länger, um in die Geschichte reinzukommen. Vielleicht bin ich aber auch einfach irritiert von ihrer Schwester, die wirklich zu JEDER Gelegenheit ihre Polizei-Uniform inklusive Mütze trägt. Beim Kartenspielen, beim Essen – diese Frau ist allzeit einsatzbereit. Richtig interessant wird es, als sich die Stories der drei Protagonist_innen langsam vermischen. Während ich mit dem erschöpften John an der Bushaltestelle sitze, sehe ich plötzlich Meena im Hintergrund vorbeilaufen. Kurz darauf spiele ich exakt diese Szene aus ihrer Perspektive.

Last Stop oder neue Hoffnung?

Zwar habe ich in jedem Gespräch die Wahl, wie ich antworten möchte. Ganz sicher, ob ich damit wirklich den Lauf der Geschichte beeinflussen kann, bin ich mir allerdings nicht immer. An vielen Stellen habe ich den Eindruck, dass die Antwortmöglichkeiten sich nicht genug voneinander abheben, um wirklich einen Unterschied zu machen. Manchmal wird mir sogar gar keine Wahl gelassen und ich bekomme drei identische Antworten vorgegeben: „Wat? Wat? Wat?” Ok überzeugt, ich nehme „Wat”! Einzig bei der finalen Entscheidung bin ich mir sicher, direkten Einfluss auf Johns, Meenas und Donnas Schicksal zu nehmen. Zugegeben: Gegen Ende wird die Story ein bisschen abgefahren. Wo ich normalerweise entnervt abwinken würde, bin ich beim Narrative Adventure Last Stop allerdings drangeblieben. Weil ich so tief drin war in den Geschichten dieser drei Menschen, die so unterschiedlich sind, aber doch irgendwie zusammengefunden haben. Und ich hoffe, dass ihre persönliche Endstation ein neuer Anfang sein kann.

7/10 🚉🤔

Developer: Variable State
Publisher: Annapurna Interactive
Genre: Narrative Adventure
Team: Stephen Brown (2D, 3D Art), Jonathan Burroughs (Design, Writing), Ed Earl (Programming), Chelsea Hash (Rigging), Shayleen Hulbert (Character Art), Adam Douglas Jones (Sound), Terry Kenny (Art, Animation) uvm.
Musik: Lyndon Holland
Veröffentlichung: 22. Juli 2021 (Steam, PS5, PS4, Xbox Series X|S, Xbox One, Switch)


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Redakteurin | + posts

Der Noob von WTLW. Sie kennt sich in der Gaming-Welt nicht so gut aus wie ihre Kolleg_innen, lernt aber gerne dazu. Klassisch mit “Die Sims” in die Gaming-Szene eingestiegen, spielt sie heute am liebsten Adventures, Platformer und Puzzle-Games. RPGs sind auch okay – aber nur, wenn sie schön aussehen.

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