Necrobarista | Leben, Tod – und irgendwas dazwischen

Die Visual Novel Necrobarista konfrontiert uns mit schwierigen Themen wie Tod, Verlust und Schmerz. Und Roboterkämpfen.

Ich bin ein sehr ungläubiger Mensch. Manchmal behaupte ich, ich könne nicht in die Kirche gehen, weil ich dann sofort in Flammen aufgehen würde. Das stimmt nicht, ich hab’s trotz Ungläubigkeit schon ein paarmal ausprobiert. Manchen gibt der Glaube Halt, mir gibt er nichts. Falls mal jemand nachfragt, antworte ich meistens, der Glaube an eine höhere Macht sei mir zu irrational. Dabei gibt es etwas sehr Irrationales, an das ich selber glaube. An das ich zumindest glauben will: Ein Leben nach dem Tod.

Ich stelle mir oft vor, dass die Toten uns von oben beobachten, stolz sind, den Kopf schütteln oder bei anderen Familien stalken, wenn die eigenen Verbliebenen zu langweilig sind. Irrational, ja. Aber auch schön. Necrobarista spinnt diesen Gedanken weiter: Was, wenn es so etwas wie eine Zwischenebene gibt, in der Tote und Lebendige noch interagieren, sich unterhalten und sich lieben können? Wann ist wirklich Schluss, und was kommt nach dem zweiten Ende?

Och komm, nur noch fünf Minuten

Wenn du wach wirst und erfährst, dass du tot bist, ist das erst einmal kacke. Aber hey: Immerhin bist du wach und scheinst dich unterhalten zu können. Genauso ergeht es Kishan, als er völlig ahnungslos in Maddys Hipster-Café in Melbourne landet. Die meisten, die hier einen Kaffee trinken, sind mehr tot als lebendig. „Der Terminal“ ist der Ort, an dem Tote etwa 24 Stunden Zeit verbringen, bevor sie weiterziehen. Wohin? Das weiß niemand so genau. Wer länger bleibt, stört das Gleichgewicht – und das mag der Rat der Toten gar nicht. Dem ehemaligen Café-Besitzer Chay scheint das egal zu sein. Er lebt schon mehrere Jahrhunderte und sieht immer noch aus wie das blühende Leben. Dafür musste er nur das eine oder andere Experiment über sich ergehen lassen, was auch mal etwas schmerzhafter ausfallen kann. Aber dafür bekommt er die wichtigste Währung, die es auf der Ebene zwischen Leben und Tod gibt: Zeit.

Sogar Glücksspiel wird mit der Zeit betrieben, denn keiner mag das Ungewisse. Lieber ein bisschen länger tot in einem mystischen Café abhängen, als…ja, als was eigentlich? Das ist die große Frage, auf die in Necrobarista keiner eine wirkliche Antwort hat. Je länger man aber in der Zwischenwelt bleibt, desto schwieriger wird es, von dort Abschied zu nehmen und zur nächsten Ebene zu gehen. Natürlich vermissen die Toten ihre Freunde und ihre Familien. Aber auch hier im Terminal gibt es Menschen, die einem ans Herz wachsen, in schwierigen Situationen helfen oder auch mal mächtig auf den Zeiger gehen. Auf der Schwelle zum zweiten Tod wird jede Emotion intensiver, jede Erfahrung noch wichtiger und jeder Regentropfen auf der Haut ist wortwörtlich ein Geschenk des Himmels. Denn alles ist schließlich besser, als gar nichts mehr zu spüren.

Milchkarton vs. Weinkiste – Necrobarista macht’s möglich

Um Chays richtigen Tod hinauszuzögern, tun er, die Barista Maddy und ihre jugendliche Ziehtochter Ashley so einiges. Da das Geschäft mit dem Tod ein schwieriges ist, geht dabei auch so einiges schief. Wenn das Superhirn Ashley mal nicht an einer Maschine bastelt, die Lebenszeit konservieren und auf einen Menschen übertragen kann, dann baut sie Roboter, mit denen sie beim Robattle Royale antreten kann. Das ist so etwas wie Hahnenkampf mit Robotern, die sie auch die „Ashlinge“ nennt. Neben Kämpfen sind sie für einfache Aufgaben in der Bar programmiert. Im Grunde sind die Ashlinge Lebewesen, die als Gegenstände wiedergeboren und von Ashley zu neuem Leben erweckt wurden: Da hätten wir einen Milchkarton, eine Flasche und eine Weinkiste mit Beinen, einem losen Mundwerk und einem Verstand, der sie irgendwann auch an Ashleys Moralvorstellungen zweifeln lässt. Auch Roboter wollen in der Zwischenwelt ein selbstbestimmtes Leben führen und nicht zu Kampfmaschinen degradiert werden.

Necrobarista ist eine Visual Novel, da erwarte ich naturgemäß kein aufwändiges Gameplay. Trotzdem habe ich mich durch die fehlenden Möglichkeiten, ins Spielgeschehen einzugreifen, etwas passiv gefühlt. Der Großteil von Necrobarista besteht darin, dass wir uns durch die Story klicken. Dabei nehmen wir keine bestimmte Rolle ein, sondern beobachten einfach von außen, wie die Charaktere interagieren. Während der Gespräche sind einige Wörter farblich hervorgehoben, aus denen wir am Kapitelende sieben heraussuchen müssen. Jedes Wort steht für eine Erinnerung einer bestimmten Kategorie: zum Beispiel Tod, Magie, Speisen. Nach jeder Episode können wir uns in der First-Person-Perspektive im Café bewegen und mithilfe der gesammelten Erinnerungen weitere Nebenstories freischalten. Hier wird uns allerdings nur Text vorgesetzt, ohne jegliche Interaktion oder Bilder. Filmsequenzen gibt es in Necrobarista so gut wie gar nicht: Alle Dialoge finden in aneinandergereihten Standbildern statt, die zwar optisch wirklich schön sind, aber leider auch manchmal nach ein bisschen mehr Abwechslung schreien.

Story mit Tiefgang sucht Spielspaß mit langer Lebensdauer

Nehmen wir Necrobarista für das, was es sein will – eine klickbare Geschichte – können wir wenig bemängeln. Auch wenn ich nicht alle Charaktere mochte, konnte ich zu allen eine Bindung aufbauen. Hier wurde wirklich sehr großer Wert auf eine gute Story gelegt: Die Dialoge sind teilweise so frech, witzig und wirklich gut geschrieben, dass ich gerne auf die Interaktion verzichte. Ich habe es in der deutschen Übersetzung gespielt und war oft positiv überrascht, dass auch Wörter wie „verkackeiern“ ihren angemessen Platz gefunden haben. Gespräche wirkten nicht gestelzt, sondern sehr natürlich und angenehm zu lesen. Besonders Ashley konnte mit ihrer unbedarften und frechen Art bei mir punkten und hätte gerne eine größere Rolle spielen dürfen. Aber auch alle anderen Charaktere haben liebenswerte Eigenarten, die es mir leicht machten, mich in die Story hineinziehen zu lassen, mich mit ihnen zu freuen und auch mit ihnen zu trauern, wenn es sein musste.

Insgesamt löst Necrobarista bei mir gemischte Gefühle aus: Auf der einen Seite finde ich es optisch wunderschön und habe nach dem Spielen einige neue Screenshots in meiner Sammlung. Insgesamt ist die Story spannend und die Charaktere toll ausgearbeitet. Zwischenzeitlich habe ich mich aber trotzdem etwas verloren gefühlt, weil ich nur stumpf auf weiter klicken konnte – vielleicht bin ich aber auch einfach nicht der Visual-Novel-Typ. In den Sequenzen, in denen ich mich frei im Café bewegen konnte, musste ich aufgrund der Egoperspektive immer einen leichten Brechreiz unterdrücken. Auch wenn das persönliche Befindlichkeiten sind, für mich haben sie den Spielspaß getrübt. Trotzdem würde ich jedem, der die Muße für dieses Genre hat, Necrobarista ans Herz legen. Wer dann auch noch einen leichten Hang zur Nekromantie besitzt, wird das etwas schräge und mystisch angehauchte Setting lieben. Und vielleicht findet ihr ja sogar heraus, was auf der anderen Seite auf uns wartet.

6/10 🦾

Developer: Route 59
Publisher: Route 59, Coconut Island Games, PLAYISM
Genre: Visual Novel
Team: Kevin Hsun-Yu Chen (Lead Developer), Ngoc Vu (Lead Artist), Damon Reece (Lead Writer)
Musik: Jeremy Lim
Auszeichnungen: Winner ‚Excellence in Art‘ (Freeplay Independent Games Festival 2019), Indie Prize Nominee 4gamer TGS 2017 (Tokyo Game Show 2017), Winner ‚Best Narrative‘ – (Freeplay Independent Games Festival 2015)
Veröffentlichung: 22. Juli 2020 (Steam, Apple Arcade)

Redakteurin | + posts

Der Noob von WTLW. Sie kennt sich in der Gaming-Welt nicht so gut aus wie ihre Kolleg_innen, lernt aber gerne dazu. Klassisch mit “Die Sims” in die Gaming-Szene eingestiegen, spielt sie heute am liebsten Adventures, Platformer und Puzzle-Games. RPGs sind auch okay – aber nur, wenn sie schön aussehen.

Kommentar verfassen