Vögel sammeln, Eier legen und strategisches Geschick beweisen. Wingspan ist die digitale Variante des preisgekrönten Brettspiels Flügelschlag.
Wenn es früher im Freundeskreis hieß, „Wir machen einen Spieleabend“, hätte ich am liebsten im Strahl gekotzt. Das hab ich dann auch gemacht, wenn ich denn wirklich mal einem solchen Abend beigewohnt habe. Also, metaphorisch gesprochen, natürlich. Ich hatte die völlig unsympathische Gabe, gesamte Brettspiel-Treffen mit meiner miesen Laune zu ruinieren. Nicht, weil ich nicht verlieren konnte. Das Problem war eher, dass zu solchen Gelegenheiten meist Spiele ausgepackt wurden, die so kompliziert waren oder so lange gedauert haben, dass ich mich darauf weder einlassen konnte, noch wollte.
Irgendwann habe ich dann Brettspiele für mich entdeckt, die leicht zu erklären waren und deren Runden zackig von der Hand gingen. Davon habe ich jetzt ein ganzes Regal voll und ich liebe es. Das Spiel Flügelschlag, das zunächst als Brettspiel rauskam und bereits 2019 als Kennerspiel des Jahres ausgezeichnet wurde, hat mich wegen seiner Komplexität bisher immer abgeschreckt. Jetzt aber habe ich mich an die digitale Version herangetraut.
Brettspiel ohne nervige Spielanleitung: I’m in!
Das Brettspiel Flügelschlag hat mich wegen seiner schönen Aufmachung und aufgrund des Vogel-Themas schon immer angesprochen. Als ich dann aber die Fotos von den vielen Karten, Würfeln, Eier-Figürchen und was sonst noch alles zum Spielen gebraucht wird gesehen habe, habe ich die Hand immer wieder aus dem Regal gezogen und mich gegen den Kauf entschieden. Denn: Kein Mensch liest gerne Spielanleitungen. Ich kenne jedenfalls keinen. Deswegen fangen enthusiastische Brettspiel-Freund_innen meist einfach mal an, im naiven Glauben, die Unklarheiten werde man schon während des Spielens beseitigen können. Und dann kommt es zu der inakzeptablen Situation, dass der Spielflow permanent durch, „Oh, da muss ich nochmal eben in der Anleitung nachlesen“, zerstört wird. Zu viele Sonderregeln, zu viele Spezial-Fähigkeiten, die unter zu vielen ganz besonderen Bedingungen aktiviert werden. Mich macht das wahnsinnig – und Flügelschlag schien in diese Kategorie zu fallen. Als ich die digitale Version des Spiels entdeckte, war ich zunächst skeptisch.
Aber ich hatte auch Hoffnung: Videospiele kommen meist ohne Anleitung. Sie werfen dich entweder ins kalte Wasser, geben dir Tipps während des Spielens oder sind so intuitiv, dass du schon irgendwie zurechtkommst. Und siehe da: Wingspan kommt mit einem Anleitungs-Modus. Das ist zum Glück nicht einfach die geschriebene Spielanleitung in digitaler Form, sondern das, was ich mir auch in der analogen Welt oft wünsche: Ich spiele ein Probespiel und bekomme dabei die wichtigsten Regeln anhand praktischer Beispiele auf dem Silbertablett serviert. Nachdem ich diese Anleitung hinter mir hatte, fühlte ich mich zwar immer noch nicht perfekt vorbereitet, hatte aber immerhin eine grobe Ahnung, was ich bei meinem ersten „echten“ Spiel zu tun hatte.
Wer Wingspan versteht, hat großen Spaß daran
Ein Erklärungsversuch: In Wingspan spielt ihr Ornithologen. Ihr studiert also Vögel. Euch stehen drei Naturschutzgebiete zur Verfügung: der Wald, das Grasland und der Wasserlebensraum. Jedem Lebensraum ist eine bestimmte Fähigkeit zugewiesen. Im Wald könnt ihr Futter sammeln, im Grasland Eier legen und im Wassergebiet neue Vogelkarten ziehen. Diese Karten könnt ihr dann in den verschiedenen Gebieten ausspielen und so Punkte sammeln. Je mehr Vögel in einem Gebiet leben, desto stärker wird eure Fähigkeit in diesem Lebensraum. Habt ihr beispielsweise mehrere Vögel im Wald angesiedelt, könnt ihr dort mehr Futter einsammeln. Jede Vogelkarte hat spezielle Fähigkeiten, die zur Vogelart passen. Der Geier stiehlt Futter, der Reiher bringt Fische in euren Lebensmittelvorrat und die Ente – naja die kann eigentlich gar nichts. Quack! Das alles hat mich anfangs trotz Anleitung etwas überfordert. Der große Vorteil der digitalen Version ist aber, dass ihr euch jederzeit einblenden lassen könnt, was die vielen verschiedenen Karten und Symbole auf unserem Spielbrett bedeuten.
Nach meinem ersten Spiel gegen die KI habe ich noch einmal die Anleitung gespielt und ein paar Aha-Momente gehabt. Trotzdem hatte ich immer noch nicht so richtig raus, wofür ich jetzt eigentlich wie viele Punkte bekomme. Nachdem ich schon fast wieder resignieren wollte, fing es aber plötzlich an mir Spaß zu machen. Ich begriff langsam, wie ich die Fähigkeiten der Vögel für mich nutzen konnte und wie ich die Vögel strategisch am besten ansiedelte, um möglichst viele Punkte zu erhalten. Wenn ich gerade nicht am Zug bin, habe ich außerdem die Möglichkeit, zum Spielfeld meiner Gegner_innen zu wechseln und zu schauen, was die gerade so treiben. Auch die Punktetafel mit dem aktuellen Zwischenstand ist jederzeit zugänglich. Zusätzlich zur normalen Punktewertung gibt es auch noch Sonderziele, die in jeder Spielrunde erreicht werden können und Extra-Punkte geben. Diese Ziele werden für jedes Spiel zufällig generiert und sorgen dafür, dass kein Spiel dem vorherigen gleicht.
Spieleabend auf Distanz: Wingspan bietet viele Möglichkeiten
Was ebenfalls für Abwechslung sorgt, ist, dass Wingspan in verschiedenen Modi gespielt werden kann: Lokal mit bis zu fünf Spieler_innen gegen Freund_innen oder die KI oder online gegen zwei zufällig gewählte Spieler_innen. Hier könnt ihr in „Echtzeit“ spielen, dann hat jeder der Spieler_innen bis zu fünf Minuten Zeit pro Zug. Oder ihr spielt asynchron, das heißt, dass pro Zug 24 Stunden Zeit zur Verfügung stehen. Beim individuellen Online-Spiel könnt ihr Freund_innen einladen – die müssen Wingspan dann aber ebenfalls installiert haben. Da ich, vor allem während der momentanen Lockdown-Situation, gerne das Gefühl habe, mit echten Menschen zu interagieren, habe ich mich des Öfteren an der online Echtzeit-Variante probiert. Das hat bis auf seltene Verbindungsabbrüche auch super geklappt. Allerdings muss ich sagen, dass sich so ein Spiel trotz der 5-Minuten-Begrenzung extrem in die Länge zieht. Wenn ich nebenbei aber ferngesehen oder mich noch mit etwas anderem beschäftigt habe, fand ich das nicht besonders störend.
Eingangs habe ich ja schon erwähnt, dass mich das Brettspiel Flügelschlag vor allem wegen seiner Optik angesprochen hat. Die digitale Version kann da nicht nur mithalten, sondern bietet sogar noch ein paar nette Extras. Am Anfang könnt ihr wählen, wie euer Spielfeld aussehen soll. Ich habe mich gegen die Schneelandschaften und für saftig grüne Wiesen entschieden. Die Vogelkarten sind wunderschön illustriert. Habt ihr eine Karte ausgespielt, kommt sogar noch eine kleine Animation hinzu. Außerdem ist das Spiel untermalt von realistischem Vogelgezwitscher, was dem Ganzen zusätzlich eine beruhigende Note gibt. Alle Vogelkarten, die ihr freigespielt habt, könnt ihr euch in einer Übersicht noch einmal anschauen. Dort erhaltet ihr auch kurze Zusatzinformationen zur jeweiligen Art, deren Lebensraum und den lateinischen Namen der Gattung. Mein Favorit: Der Truthahngeier (Cathartes aura) kann zur Selbstverteidigung schwallartig erbrechen. Und so schließt sich der Kreis zum Beginn meiner Review.
Eine digitale Brettspiel-Adaption, die Sinn macht
Bin ich jetzt zur Liebhaberin komplizierter, verschwurbelter Brettspiele geworden? Nein. Wingspan ist für mich aber eine super Ergänzung zur analogen Version Flügelschlag, da ich an die Hand genommen, mir die Regeln praxisnah erklärt wurden und ich das Spielprinzip verstanden habe. Auch wenn das Ganze am Bildschirm natürlich ein ganz anderes Feeling hat, wurde der Brettspiel-Charakter größtenteils beibehalten. Dass ich, wie oben erwähnt, beim Online-Spiel etwas längere Wartezeiten hatte, macht das Ganze nur realistischer. Beim Spieleabend scharre ich schließlich auch irgendwann ungeduldig mit den Füßen, wenn mein Gegenüber nicht in die Pötte kommt. Einziger Vorteil: Im echten Leben kann ich meinem Gegner wenigstens unauffällig gegen das Schienbein treten, was sich beim Online-Spiel eher schwierig gestaltet. Auf jeden Fall kann ich jetzt voller Stolz behaupten, dass ich keine Angst vor dem Brettspiel-Monster Flügelschlag mehr habe. Und vielleicht werde ich beim nächsten Besuch im Spieleladen einfach zugreifen.
8/10 🐣
Developer: Monster Couch
Publisher: Monster Couch, Stonemaier Games, indienova
Genre: Brettspiel, Strategie
Team: Artur Krystek (Code), Marek Rutkowski (Art), Krzysztof Zarczynski (Code, Business)
Veröffentlichung: 17. September 2020 (Steam), 29. Dezember 2020 (Switch)
Der Noob von WTLW. Sie kennt sich in der Gaming-Welt nicht so gut aus wie ihre Kolleg_innen, lernt aber gerne dazu. Klassisch mit “Die Sims” in die Gaming-Szene eingestiegen, spielt sie heute am liebsten Adventures, Platformer und Puzzle-Games. RPGs sind auch okay – aber nur, wenn sie schön aussehen.