Lost Words: Beyond the Page Review | Liebes Tagebuch, heute rette ich mich selbst

Der 2D-Platformer Lost Words: Beyond the Page ist ein interaktives Märchen, irgendwo zwischen Fantasie und trauriger Realität.

In meinem bisherigen Leben musste ich mit meinem Opa zum Glück erst eine Person zu Grabe tragen, die mir wirklich nahestand. Damals war ich zehn Jahre alt und ich war es, die den Anruf des Arztes entgegennahm. Der hat mir zwar nicht direkt gesagt, dass Opa tot war, aber gewusst habe ich es in dem Moment trotzdem. Für mich war das Schwierigste die Endgültigkeit. Dass ich meinen Opa niemals wiedersehen würde, wollte nicht ganz in meinen Kopf. Noch heute, knapp 18 Jahre später, träume ich manchmal, dass er einfach von einem sehr ausgedehnten Kurbesuch zurückkommt. Trauer scheint weder älter, noch weiser oder reifer zu werden. Izzy, die Protagonistin im Puzzle-Platformer Lost Words: Beyond the Page ist ebenfalls noch ein Kind, als sie ihre geliebte Oma verliert. Um mit der Trauer klarzukommen, schreibt sie nicht nur Tagebuch, sondern erschafft auch ihre ganz eigene Welt.

Ein Notizbuch erwacht zum Leben

Wir beginnen die Geschichte in einem Tagebuch – Aufzeichnungen der ganz realen, ganz normalen Welt von Izzy. Sie liebt Wörter, da liegt es nahe, dass sie einmal Schriftstellerin werden möchte. Worüber sie schreiben soll, weiß sie aber noch nicht so richtig, deshalb erzählt Izzy uns erst einmal etwas aus ihrem Alltag, ihrem echten Leben. In ihrem bunten, mit Wasserfarben illustrierten, Tagebuch hüpfen wir zwischen Wörtern hin und her, malen durch unsere Sprünge farbenfrohe Kleckse ins Buch und rubbeln wie durch Zauberhand alte Erinnerungsfotos frei. Als Kind hätte ich gern so ein Tagebuch gehabt – und als Erwachsene wünsche ich es mir immer noch. Bis heute kann ich schwer an hübschen Notizbüchern vorbeigehen, immer mit der Konsequenz, dass sie leer ins Regal gestellt und irgendwann vergessen werden. Die Angst, dass meine Schrift nicht schön genug ist, ich mich verschreiben oder aus Versehen einen hässlichen Tintenklecks hinterlassen könnte, hemmt mich.

Diese Angst kennt Izzy nicht. Gemeinsam mit ihr schreiben, malen und klecksen wir und erwecken dabei ihr Tagebuch und ihre Erinnerungen zum Leben. Manche Wörter können wir nehmen, sie hin und herschieben, sie als Treppe benutzen oder neue Sätze aus ihnen formen. Als Izzy sich eines Tages doch endlich an eine Geschichte heranwagt, dürfen wir sogar mitbestimmen: Wie soll die Protagonistin heißen, was soll sie tragen, welche Eigenschaft zeichnet sie aus? Und ehe wir uns versehen, plumpsen wir aus dem Tagebuch heraus in ein Land namens Estoria, in dem unsere Heldin Robyn (in meiner Geschichte hieß sie jedenfalls so) die Kraft der Wörter erlangt und damit ihr Dorf vor einem zerstörerischen Drachen retten muss. Wir finden uns also in einer Fantasywelt wieder, einem Märchen, das zunächst losgelöst von Izzys realer Lebenswelt scheint. Als das Schicksal zuschlägt und Izzys Großmutter stirbt, bemerken wir jedoch immer mehr Parallelen zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Lost Words: Beyond the Page möchte verzaubern – schafft es aber oft nicht

In Lost Words: Beyond the Page wechseln wir zwischen der echten Welt in Izzys Tagebuch und der Fantasiewelt von Estoria. Viele der Tagebuchseiten sind eher schlicht, manche in dezenten Wasserfarben gehalten, andere in leuchtende Farben getränkte Kunstwerke. Die Erinnerungen an schöne Erlebnisse mit der Großmutter, von deprimierenden und hoffnungsvollen Krankenhausbesuchen bis hin zum Tod sind wunderschön erzählt und berührend. Obwohl es so simpel ist, macht es Spaß, im Tagebuch umherzuhüpfen, kleine Puzzles zu lösen oder Bilder wie mit Zaubertinte sichtbar zu machen. Umso mehr hat es mich geärgert, dass die deutsche Übersetzung an einigen Stellen fehlerhaft war und Sätze, die wir selbst aus einzelnen, losgelösten Wörtern zusammensetzen müssen, in einem seltsamen Kauderwelsch endeten. Besonders in einem Spiel, in dem es um die Liebe zu Wörtern geht, hätte ich mir hier ein wenig mehr Liebe zum Detail gewünscht. Eigentlich schöne Momente wurden so durch unnötige Fehler ihrer Magie beraubt.

Ähnliches gilt für den Part, den wir in Estoria verbringen. Auch hier ist die Grafik auf den ersten Blick hübsch und märchenhaft, schnell fallen hier und da jedoch unsaubere Stellen auf. Besonders, wenn wir uns schneller bewegen und durch die Welt rennen, ist alles irgendwie verwaschen und hakelig und erinnert an einigen Stellen fast schon an Pixel-Art, die definitiv nicht so gewollt ist. Auch die Art, wie wir mit Robyn auf Felsen oder über Kluften springen, ist etwas plump und wirkt irgendwie unfertig. Sicher steht bei Lost Words: Beyond the Page die Geschichte im Vordergrund. Von einem Spiel, das sich selbst als Jump‘n‘Run bezeichnet, erwarte ich aber einfach mehr. Und auch wenn die Welten abwechslungsreich sind – wir finden uns zum Beispiel in einer Wüste, einem Vulkan und einer Unterwasserwelt wieder – habe ich mich immer mehr auf die Sequenzen gefreut, in denen wir in Izzys Tagebuch versinken dürfen.

So viel Macht, aber warum eigentlich?

Auch wenn es mir schwerfällt, müssen wir zu einer weiteren Schwäche des Puzzle-Platformers kommen – und das ist das Wort „Puzzle“. Wie ihr vielleicht mittlerweile wisst, bin ich was Puzzle und ihren Schwierigkeitsgrad betrifft nicht allzu anspruchsvoll. Ich brauche keine stundenlangen Knobeleien, um ein Rätsel als würdig zu erachten. Aber nichts, was wir in Lost Words: Beyond the Page tun müssen, hat irgendetwas mit einem Puzzle zu tun. Während unseres Aufenthaltes in der Fantasiewelt haben wir die Möglichkeit, mittels Wörter aus einem magischen Buch Kräfte freizuschalten. Dass die Übersetzungen dieser Kräfte teils ein bisschen unrund sind („brechen“, „ignorieren“, „tauschen“) lasse ich jetzt einfach mal so stehen. Vielleicht ist das in der englischen Variante besser gelöst. Allerdings sind wir quasi von Sekunde eins an komplett overpowered. Wir können einfach alles: Müssen wir nach oben, lassen wir Objekte schweben. Stehen wir vor einer kaputten Brücke, benutzen wir unsere „reparieren“-Kraft.

Neue Kräfte bekommen wir während des Spiels vollkommen random und meist völlig ohne unser Dazutun. Stehen wir einmal im Dunkeln, taucht in unserem magischen Buch plötzlich das Wort „brennen“ auf, mit dem wir Fackeln anzünden können. Die einzige Schwierigkeit besteht an einigen Stellen darin, herauszufinden, welche unserer unzähligen Mächte wir denn jetzt einsetzen müssen, um weiterzukommen. Das haben wir aber durch Ausprobieren innerhalb von drei Sekunden bewältigt. Wie gesagt: Solange ich kein Adventure vor mir habe, das von Rätseln lebt, kann ich auch mit einem niedrigen Schwierigkeitsgrad leben. Hier fühlte es sich aber eher an, als würde ich mit minimalsten Hürden durch die Geschichte rennen und dabei Kräfte einsetzen, die ich irgendwie gar nicht verdient habe. An vielen Stellen habe ich den Einsatz dieser Kräfte durch ihre etwas eigenwillige Steuerung nicht als willkommene Abwechslung, sondern sogar als störend empfunden und hätte am liebsten komplett auf sie verzichtet.

Lost Words: Beyond the Page muss sich entscheiden, was es sein will

Ich glaube, so kritisch wie in dieser Review war ich bisher selten. Und irgendwie fühlt sich das blöd an. Ich wollte Lost Words: Beyond the Page lieben, weil ich Wörter liebe und Sprache und Geschichten. Weil ich Notizbücher liebe, auch wenn ich nie etwas reinschreibe. Und die Idee, in Izzys Notizbuch abzutauchen, mit ihrer berührenden Geschichte über ihre verstorbene Oma, das hat mich auch wirklich gepackt. Die Fantasy-Story, das Märchen rund um Robyn oder wie sie in eurem Abenteuer auch heißen mag, hätte ich überhaupt nicht gebraucht. Zwar hat sich Izzys Wut, ihre Trauer und ihre Hoffnung in ihrer erfundenen Welt wiedergefunden – und ganz offensichtlich hat sie das gebraucht, um über den Tod ihrer Großmutter hinwegzukommen. Spielerisch hat es mich aufgrund der vielen Hakeleien und der etwas lieblosen Umsetzung aber enttäuscht. Vielleicht hätten sowohl das Tagebuch als auch das Fantasy-Abenteuer davon profitiert, wenn es eines ohne das andere gegeben hätte.

6/10 📖 ✍🏻

Developer: Sketchbook Games, Fourth State
Publisher: Modus Games
Genre: 2-D Jump‘n’Run, Puzzle-Plattformer
Team: Mark Backler (Founder „Sketchbook Games“) Rhianna Pratchett (Writer), Dan Collier, Beck Lavender, Karen Reynolds, Callum Thompson (Programmer), Luke Peek (Technical Artist), Rudi Kolenc, Alex Tavener (Artist & Animator), Emily Zhao (2D Artist), u.a.
Auszeichnungen: Bestes Indie-Spiel (Game Connection Paris 2017), Originellste Geschichte (Game Connection Paris 2017), Beste Geschichte (Game Connection USA 2016),
Veröffentlichung: 06. April 2021 (Steam, PS4, Xbox One, Switch), 27. März 2020 (Stadia)

Redakteurin | + posts

Der Noob von WTLW. Sie kennt sich in der Gaming-Welt nicht so gut aus wie ihre Kolleg_innen, lernt aber gerne dazu. Klassisch mit “Die Sims” in die Gaming-Szene eingestiegen, spielt sie heute am liebsten Adventures, Platformer und Puzzle-Games. RPGs sind auch okay – aber nur, wenn sie schön aussehen.

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