SoundSelf A Technodelic Review | Meditation oder Drogentrip?

SoundSelf verspricht entspannende Meditation bis zur Bewusstseinserweiterung. Kann funktionieren, muss es aber nicht.

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit Achtsamkeitsübungen, Selbstfürsorge und Meditation. Nicht nur weil ich dieses Themen interessant finde, sondern vor allem, um Depression und Angstzuständen etwas Kraftvolles entgegenzusetzen. All diese Arten der langsamen und bedachten Näherung zu Körper und Geist sollen das Stresslevel senken, entspannen und Möglichkeiten zur Bewusstseinserweiterung, zur Reflexion schaffen, um den Weg zu größeren Zusammenhängen im Hinblick auf mögliche Ursachen zu bereiten. Doch nicht immer stellt sich genau der gewünschte Effekt einer bestimmten Übung ein. Das individuelle Erleben von Meditation und Achtsamkeitstraining kann völlig unterschiedliche Auswirkungen verursachen. Eine ausgiebige Anleitung, gerade für Menschen in nicht immer stabiler Balance, scheint eine wichtige Stütze.
Ich beispielsweise kann nicht einmal mehr einordnen, welche neuen Übungen welche Auswirkungen zeigen, denn mein Geist reagiert in manchen Fällen völlig entgegen der eigentlich beabsichtigten Wirkung.

Als ich mit meinem langjährigen Therapeuten eine Entspannungs- und Stärkungsübung anging, erzeugte sie im Verlauf statt Entspannung ein ungeahntes Stresslevel und ein plötzlich hervorgerufenes Gefühl von Traurigkeit. Eine Auswirkung, die in dieser Form keiner von uns beiden erwartet hatte und erst sehr viel später ergründet werden konnte.
Inzwischen weiß ich, welche Achtsamkeitsübungen und Meditationen für mich funktionieren. Bevor ich also neue Varianten versuche, braucht es eine detaillierte Erklärung zu ihrer Funktionsweise und ihren Abläufen. Eine gefühlvolle Anleitung vor und während der eigentlichen Phase, die meine Zweifel und meine vorab geschürten Ängste besänftigen. Selbst mit professioneller Begleitung können eigentlich kraftschenkende Übungen Gegenteiliges bewirken. Umso wichtiger scheint eine konstruktive Instruktion. Und gerade deshalb habe ich unglaublich lange gebraucht, um den Mauszeiger überhaupt erst auf das „Starten“ von SoundSelf zu bewegen.

Bewusstseinserweiterung mit SoundSelf

SoundSelf A Technodelic ist eine interaktive, von deiner Stimme gesteuerte Meditationsübung. Wenn du also in dein Mikrofon jammerst, hauchst, pfeifst oder lange Töne entsendest, quittiert das Andromeda Entertainments Programm mit sich entfaltenden Soundlandschaften und noch abgefahreneren Visualisierungen aus Farben und Formen. Während deine Stimme den treibenden Part übernimmt, soll genau diese Handlung eine Harmonie zwischen dem Erlebten und deinem Körper eingehen. Vibrationen deiner Stimme, Töne, Rückkopplungen und abstrakte Formen greifen ineinander und führen dich im besten Fall zu einer Ganzkörperentspannung oder mehr noch. Lead Designer Robin Arnott verspricht eine berauschende Reise in veränderte Bewusstseinszustände, auch für Menschen, die noch nie mit Meditation zu tun hatten.

Und genau hier scheut SoundSelf Klarheit. Das alles kann entspannend wirken, muss es aber nicht. Es kann genau das Richtige für dich sein oder eben auch nicht. Und wenn du noch nie in die Eigenheiten der Meditation eingeführt oder angeleitet wurdest, dann kann auch Andromeda Entertainments Erlebnis nicht den gewünschten Effekt erzielen. Denn wirklich detailliert anleiten wollen sie dich nicht. Ein kurzes Einführen in Form einer bedachten Stimme erzählt dir vom ruhigen Atmen, vom Fühlen deines Körpers und deiner Umgebung, vom stetigen Takt des Atemgeräuschs und… entlässt dich dann einfach in die freie Wildbahn aus Lasershow und Verzerrung.

Von Extrovertierten für Extrovertierte

SoundSelf erwartet, dass du völlig okay damit bist, in Einsamkeit deine Stimme gegen die Mattscheibe zu werfen.
Ein Umstand, der bestimmte Eigenschaften voraussetzt. Alleine, in völliger Ruhe und ohne plausibel erkennbaren Grund seine Stimme zu erheben, ist keine Eigenschaft, die allen Menschen angeboren ist. Ebenfalls nicht, wenn du vielleicht schon mit Depressionen, Angstzuständen und Sozialphobien kämpfst. SoundSelf ist nicht für bereits gestresste Menschen. Es ist etwas für extrovertierte, stabile Menschen, die auch mal ohne Probleme zu ihrem Spiegelbild sprechen, bei jeder kleinsten Problematik sofort zum Telefonhörer greifen und keine Probleme damit haben, sich selbst zuzuhören. Egal ob allein vorm Bildschirm oder vor Massen. Besitzt du all diese Eigenschaften einer gewissen Selbstsicherheit nicht, stellt das Starten von SoundSelf eine enorme Hürde dar.
Kein Wunder also, dass Robin Arnott die erste Idee zu diesem Programm auf dem Burning Man Festival erschien. Festival und Kunstausstellung zugleich in Nevada, USA. Intensive Selbstdarstellung und große Partys gehören hier zum guten Ton.

„Wann mache ich das am besten? Wenn niemand da ist? Soll ich meine Tür schließen? Was für Töne sind von Nöten? Wie erschaffe ich sie? Klinge ich dabei doof? Wie wirkt das auf mich? Und was macht das mit mir? Krieg ich das überhaupt hin?“ Schon beim ersten Gedanken daran, meine Stimme einfach so zu erheben, eröffnen sich Szenarien, die das unbedarfte Erleben von SoundSelf unmöglich machen. Es erzeugt schon vor dem ersten Starten genau das, was es zu bekämpfen vermag, Stress!
Eine Integration von Tönen, die du über die Tastatur entsenden kannst, wäre für einen barrierefreien Einstieg, auch um Hemmungen vor der Nutzung deiner eigenen Stimme als Instrument zu verlieren, vielleicht nicht die schlechteste Idee. Musiktherapien sind erwiesenermaßen ein tatsächlich feiner Helfer zur Entspannung, nicht nur mit deiner eigenen Stimme.

„Well, that escalated quickly!“

Nachdem ich also über zwei Wochen alle Schreckensszenarien abgehandelt hatte, setzte ich mich einfach an meinen Schreibtisch und stürzte mich in die erste Session. So schlimm wirds schon nicht werden.
Während der zu kurzen Einführung empfiehlt die Stimme ein tiefes Einatmen, gefolgt von dem Ausstoßen eines langen Tones. Krieg ich nicht hin! Ich pfeife stattdessen verlegen. In regelmäßiger Ausgiebigkeit atme ich tief ein und stoße einen zaghaften Ton aus, der das Bild durch eine Art Weltraumtunnel in psychedelischen Farben vorantreibt. Nach einer Weile der regelmäßigen tiefen Atembewegungen sucht mein Körper nach einem Ventil. Mein Kopf heizt sich auf, meine Stirn wird feuchter. Mein inzwischen seufzend intoniert ausgestoßener Ton, unterbrochen von einer verzweifelten Lache. Nach fünf Minuten SoundSelf entsendet mir mein Körper das Signal: „Hör mal lieber auf damit. Das ist mir zu stressig!“ Mein Körper außer Atem und aufgeheizt. Der entsandte Stressbefreier, er sorgt bei mir für noch mehr Stress.

Auch gerade deshalb, weil Andromeda Entertainment eine ausgiebige Einführung in die komplexe Welt der audiovisuellen Meditation nicht bereitstellt. Für Menschen, die sich mit dieser speziellen Art der Stresskompensation nicht auskennen, verkommt der folgende Effekt zum Glücksspiel. Ähnlich der Ungewissheit vor deiner ersten Erfahrung im Kontakt mit bewusstseinserweiternden Drogen. Es kann zum beschriebenen Effekt kommen, doch Körper und Menschen sind zu verschieden, als das genau dieser vorhergesagte Effekt bei allen eintreffen würde. Manch ein Eindruck wird sich in der Virtuellen Realität sicher anders auswirken oder gar verstärken, im negativen, wie im positiven. Doch da es eben nicht als konsequente VR-Erfahrung angeboten wird, muss SoundSelf grundsätzlich auch auf stationären Systemen wie gewünscht funktionieren. Ich war letztendlich froh, dass ich nur vor dem handelsüblichen Bildschirm saß, um mein Stresslevel nicht noch weiter zu strapazieren.

SoundSelf A Technodelic – ein unbekümmerter audiovisueller Spaß?

Meine Meditation habe ich abgebrochen. Müde und entspannt oder gar direkt danach eingeschlafen, wie manche berichten, war und bin ich nicht. Wurde mein Bewusstsein erweitert oder gar auf ein anderes Level gehoben? Nein! SoundSelf ist in seiner Herangehensweise und seiner Auswirkung völlig unbestimmt. In unendlich vielen Möglichkeiten kann entweder von Andromeda Entertainment beschriebenes Szenario, etwas völlig anderes oder eben auch gar nichts eintreten. Positive Einflüsse auf meinen Gemütszustand oder eine Linderung von Angstzuständen, wie sie die Wissenschaftler_innen des NeuroMeditation Institutes bestätigen, kann ich nicht feststellen. Die gleiche Studie sagt aber auch, dass SoundSelf eher psychedelische Erfahrung als Meditation ist.

Eine Auswirkung hat das Erlebnis aber dennoch gezeigt. Nämlich die, dass ich mich lieber wieder in meinen „Inneren Raum“ flüchte und mich in meinen bereits bewährten Herangehensweisen weiter stärke. Denn das Erlebnis in SoundSelf war alles andere als entspannend. Stress entsteht oft als Folge eines übermäßigen Aussetzens von Eindrücken. Und genau dieser Umstand ist hier fester Bestandteil des Konzepts, paradox. Ich bin wohl nicht die Zielgruppe, doch genau das sollten Andromeda Entertainment auch klar kommunizieren.
Die Entwicklung der Technodelics zur Entspannung und Bewusstseinserweiterung scheint jedenfalls noch einen langen Weg vor sich zu haben. SoundSelf ist ein Ansatz, der weitere Herangehensweisen an die Meditation mit digitalen Hilfsmitteln folgen lassen wird. Das außerordentliche Erlebnis bleibt zumeist ein unbekümmertes Spiel mit Stimme, Ton, Formen und Farben. Eher Drogentripsimulator als ernstzunehmende Meditation. Daran wird sich für einen großen Teil von Menschen auch in der VR Version nichts ändern. Kann funktionieren, muss es aber nicht.

5/10 💊

(Wertung ohne VR-Erlebnis)

https://www.youtube.com/watch?v=vQW-ctfvLPE

Developer/Publisher: Andromeda Entertainment
Genre: Interaktive Erfahrung
Team: Robin Arnott (Lead Designer), Evan Balster (Lead Engeneer), Marc Luck (Design/Production)
Veröffentlichung: 22. April 2020 (Steam, unterstützt VR (HTC Vive, Oculus Rift))

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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