The Forgotten City Review | Ins alte Rom gemodded

Ursprünglich als Skyrim-Mod entwickelt, wurde The Forgotten City größer, komplexer und letztendlich sogar mit einem Award prämiert.

Ich liebe Moddingcommunities. Schon immer hatte ich eine große Faszination für diese Menschen, die sich eines ihrer Lieblingsspiele als Grundlage nehmen und auf dieser Basis etwas Eigenes erzählen oder erstellen wollen. Manche unterlegen in Resident Evil jedes Auftreten von Mr. X mit einem DMX-Song, andere entwickeln in Slay the Spire neue Charaktere mit eigenen Karten, so dass ich mit Monstern aus dem Spiel oder Sailor Moon höchstpersönlich spielen kann. Wieder andere krallen sich ein Pokémon-Spiel, erstellen 150 eigene Monster und eine neue Geschichte, die spannender und herausfordernder erzählt ist als alles, was Gamefreak für Nintendo je auf ein Modul gepresst hat. Der Kreativität ist in solchen Communities keine Grenzen gesetzt und nur wenige Spiele profitieren so sehr davon wie große Open World Rollenspiele wie Skyrim eines ist. Holt den Weihnachtsmann nach Himmelsrand, schickt mich auf neue Sidequests oder gebt mir einfach ein völlig neues Spiel!

Die vier Entwickler namens Modern Storyteller haben ihre Idee sogar so sehr auf die Spitze getrieben und ausgearbeitet, dass am Ende eine Mod veröffentlicht wurde, die außer der grundlegenden Mechanik nichts mehr mit Skyrim zu tun hatte. Unter dem Namen „The Forgotten City” veröffentlichten sie ein alleinstehendes Abenteuer, das so gut geschrieben war, dass 2016 zum ersten Mal überhaupt eine Modifikation eines bereits existierenden Spiels mit dem Australian Writers Guild Award ausgezeichnet wurde. Seitdem saß das Team nun an ihrem Projekt und sorgte dafür, dass The Forgotten City endlich auch als alleinstehendes Spiel überarbeitet und weiter ausgefeilt erscheinen kann. Ich verspreche jetzt schon mal, dass sich die Zeit gelohnt hat. Ich habe hier ein Spiel gespielt, das smart und spannend erzählt ist, toll aussieht und die offene Welt wunderbar überschaubar hält.

Mein Latein ist eingerostet

Nachdem ich die grundlegenden Eigenschaften meines Charakters festgelegt habe, also das Geschlecht und eine von vier möglichen Hintergrundgeschichten, wache ich am Ufer des Tiber auf. Neben mir steht eine Frau in Kapuzenpullover namens Karen, die mich gerettet zu haben scheint. Viel mehr weiß ich nicht. Und trotzdem schickt sie mich in eine alte, verlassene Ruine, um dort nach ihrem Bekannten zu suchen. Ich war etwas stutzig. Hast du mich nicht gerade erst aus dem Fluss gezogen? Wie wäre es, wenn du selbst suchen gehst? Aber klar, Videospiellogik schlägt wieder zu. Also tapse ich in diese dunklen Höhlen und es dauert nicht lange, bis ich auf antike Bauwerke stoße, in denen unzählige Goldstatuen aufgestellt sind. Menschen in Rüstungen, um Hilfe flehende oder flüchtende Personen, es wirkt fast so, als wären sie an Ort und Stelle einfach zu Gold erstarrt. Was ist hier los, wieso hat Karen mich in diese Höhle geschickt?

Aber die Neugier treibt mich tiefer in Richtung eines großen, magischen Strudels. Es ist eher meine Faszination für dieses Ereignis als die tatsächliche Anziehungskraft, die mich weitergehen lässt. Mit einem Rutsch bin ich in seinem Sog gefangen und lande in einem alten Tempel einer römischen Kleinstadt tief unter der Erde. Ein Bauer führt mich zum Magistraten des Ortes, der mir schnell erklärt, was Sache ist. Seit sieben Monaten leben die Menschen hier ohne einen einzigen Gesetzesbruch. Über ihnen schwebt nämlich die sogenannte Goldene Regel. Wird hier ein Gesetz gebrochen, so erwischt der Zorn der Götter die Menschen und würde alle in Gold verwandeln. Meine Aufgabe als Person aus der Zukunft, was ich natürlich sofort zugegeben habe, ist es nun, herauszufinden, wer tatsächlich an der goldenen Katastrophe schuld sein wird. Dessen Ausmaß durfte ich bereits sehen. Zum Glück hat der Magistrat einen nützlichen Zauber parat, der mir die Aufgabe erleichtert.

Und täglich grüßt The Forgotten City

Natürlich tritt die Goldene Regel ein. Dass es passiert ist, weil ich „aus Versehen” das Geld aus der Schatztruhe im Schlafzimmer der Magistratentochter geklaut habe, ignorieren wir getrost. Doch anstatt das Spiel abzubrechen, folge ich dem davonlaufenden Oberhaupt des Ortes, der im Tempel meiner Ankunft genau den Strudel erschafft, mit dem ich hier angekommen bin. Kurzerhand steht der Tag wieder in seinen Morgenstunden, der Bauer begrüßt mich und ich habe eine neue Chance. The Forgotten City richtet damit herzliche Grüße an Majora’s Mask, Und täglich grüßt das Murmeltier, Edge of Tomorrow und viele andere Werke aus. Ich habe also genügend Zeit, um alle Charaktere im Ort kennenzulernen, mir ihre Probleme anzuhören und ihnen zu helfen. Dadurch sammle ich Hinweise, wie ich sowohl diesen Ort retten als auch meine Heimreise sichern kann. Verhindere ich die Goldene Regel, muss der Magistrat nie das Zeitreiseportal erschaffen, ein Paradoxon entsteht und katapultiert mich zurück.

Diese Zeitreise ist ein wunderbarer Kniff für meine Ermittlungen, da Fehler nicht wirklich bestraft werden, sondern einfach mehr Erkenntnisse bringen. Ich fühle mich wie Bill Murray, der irgendwann einfach mal ausprobiert, was geschieht, wenn er seinem Chef ins Gesicht schlägt. Am nächsten Tag weiß dieser sowieso nichts mehr davon. Also flirte ich, pöble ich und beklaue immer wieder die gleiche Person, um unfassbar reich zu werden. Meine Gegenstände behalte ich nämlich. The Forgotten City ist mein ganz eigener Spielplatz! Das Beste daran ist aber, dass ich Aufgaben nicht zwingend wiederholen muss. Habe ich etwas Wichtiges herausgefunden, wie ich zum Beispiel eine kranke Person vor dem Sterben retten kann, teile ich diese Info zu Beginn dem freundlichen Bauern mit, der die Aufgabe für mich übernimmt. So liegt es nicht in meiner Hand, dauernd die gleichen Errungenschaften zu meistern und gibt mir die Möglichkeit, meine volle Konzentration auf den Fortschritt zu lenken.

Begrabt das Kriegsbeil!

Im Prinzip lässt sich die Goldene Regel als „Mitgehangen, mitgefangen” zusammenfassen. Völlig egal, wer sich hier danebenbenimmt, alle müssen dafür bezahlen. Das führt allerdings zu der wunderbaren Tatsache, dass eine direkte Auseinandersetzung in The Forgotten City selten zum Ziel führt. Es ist eine Option, die mir zur Verfügung steht, die aber immer mit einer endgültigen Konsequenz verbunden ist. Viel wichtiger ist es demnach, sich bedacht mit den Mitmenschen zu unterhalten. Was sage ich, um ihnen nicht auf den Schlips zu treten, wie komme ich an nötige Informationen und wie können die Charaktere mir am besten helfen? Die illustre Runde an Figuren hier erfordert ständig neue Herangehensweisen. Kann ich mich mit manchen Figuren verbünden, weil Männer oder Frauen eben zusammenhalten, ist bei anderen Fingerspitzengefühl in der Überzeugung nötig. Hilft mir manchmal meine Herkunft als Archäologe oder Mensch auf der Flucht, ist andernorts meine eigene Geschichte völlig unerheblich.

Dachte ich zu Beginn noch, dass die anfangs getroffenen Entscheidungen, wen ich in The Forgotten City darstelle, recht belanglos wären, merke ich mit der Zeit mancherorts Vor- und Nachteile, die sich mir dadurch bereiten. Dass das vor allem durch die Erzählung der Geschichte und weniger durch genretypische Kampffertigkeiten funktioniert, ist großartig. Ich bin gezwungen, mir diese Welt durch Beobachtung und Mitgefühl zu erschließen und bin begeistert, wie gut das funktioniert. Ich könnte über zahlreiche Absätze schildern, was ich mit diesen Charakteren hier durchgemacht habe, wie sie mir ans Herz gewachsen sind und wie mich manche Erkenntnisse überrascht haben, aber das würde euch den gesamten Spaß nehmen. Zumal ich selbst noch weit davon entfernt bin, alles entdeckt zu haben. Laut Trophäen kann ich noch Personen verkuppeln, ich habe nur zwei der vier Enden entdeckt und irgendwie lässt sich The Forgotten City auch durchspielen, ohne ein einziges Mal den Timeloop zu nutzen.

Die richtige Größe

Modern Storyteller haben es geschafft, hier alles zu streichen, was mich bisher von Skyrim abgehalten hat. Es gibt hier keine belanglosen Dialoge, alles ist pointiert, hat Hand und Fuß für die Geschichte und das Setting. Die Welt überfordert mich nicht durch ihre schiere Größe und trotzdem ist sie so verschachtelt, dass ich immer wieder neue Sachen entdecke. Das Einzige, was mich an Bethesdas Rollenspielepos erinnert, ist der zentrierte Fokus auf die Gesichter meiner Gesprächspartner_innen während der Dialoge. Ansonsten ist es erstaunlich, wie gut The Forgotten City es zu verstecken weiß, dass es ursprünglich mal eine Mod war. Demnach sollte diese Info auf keinen Fall abschreckend wirken, wenn Skyrim so gar nicht dem eigenen Spielgeschmack entspricht. Sie dient höchstens als beeindruckende Information, was entstehen kann, wenn kreative Köpfe an existierenden Spielen herumbasteln dürfen, ohne dass sie dabei mit Unterlassungsklagen überhäuft werden (I’m looking at you, Nintendo!).

Ich hoffe vor allem, dass durch Spiele wie The Forgotten City auch mehr gute Mods eine ähnliche Aufmerksamkeit bekommen und vielleicht von ihren Entwickler_innen generalüberholt werden. Das Potential ist auf jeden Fall da. Vielleicht traut auch ihr euch hier und da mal häufiger in die unterschiedlichen Moddingcommunities oder den Steamworkshop, in dem einiges gesammelt ist, um zu schauen was euren Spielen frischen Wind verleiht. Schließlich werden durch Modifikationen tolle Werke weiter am Leben und im Gespräch gehalten. Und das haben sich viele Spiele definitiv mehr als verdient!

9/10 ⌚🏛️

Developer: Modern Storyteller
Publisher: Dear Villagers
Genre: Adventure
Team: Nick Pearce (Director); Alex Goss (Technical Lead); John Eyre (Lead Artist)
Musik: Michael Allen
Auszeichnungen: Unreal Underdog (Unreal E3 Awards 2018), Most anticipated Indie 2019 (Indie DB Editor’s Choice)
Veröffentlichung: 28. Juli 2021 (Steam, Epic Game Store, GOG, PS5, PS4, Xbox Series X|S, Xbox One)


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Redakteur | + posts

Die Couchkartoffel von WTLW. Sein Seelentier ist definitiv ein Relaxo! Am liebsten hockt er zu Hause und spielt Videospiele. Seine Nase steckt er dabei in alles mögliche, wagt sich an jedes Genre und hat schon diverse Horrorspiele abgebrochen, weil er nicht der Idiot sein wollte, der jetzt die Treppe herunter zum gruseligen Geräusch geht.

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