Carrion Review | Ein tödlicher Organismus bricht aus

In Carrion übernehmen wir die Rolle des Antagonisten. Eine parasitäre Biomasse, die aus einem Untergrundlabor ausbricht.

Carrion von Devolver Digital und Zweimannstudio Phobia Game Studio ist wie ein interaktiver Horrorfilm, in dem wir den Antagonisten spielen dürfen. Zumindest will uns das die Marketing Abteilung bei Devolver glauben machen. Ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht. Die namenlose Biomasse ist eher vergleichbar mit dem Alien, ein perfekter Organismus, der nicht einfach aus Lust am Töten Jagd auf die Menschen macht. Ein durch den unstillbaren Machtdurst der Menschen eingesperrtes Wesen, das alles tut, um zu überleben. Lasst mich euch die Geschichte von einer lang versteckten Lebensform erzählen, die eines Tages von übereifrigen Wissenschaftlern aufgeweckt und in ein geheimes Labor gesteckt wurde.

Der Ausbruch

Die Menschen haben dich lange genug in einem Glasbehälter eingesperrt! Es reicht ihnen nicht deinen Schlaf zu stören, sie mussten auch gleich eine Probe von dir in eines ihrer Untergrundlabore stecken, um perfide Experimente an dir durchzuführen, die nur zerstörerischen Zwecken wie Atomkraft und Kriegsführung dienen. Doch dann zerbricht der Glasbehälter und du bist frei, kannst einen Ausweg durch die dunklen Schächte der Anlage suchen. Zeit sich ein wenig von deiner Stärke zurückzuholen, indem du deine Masse vergrößerst. Dazu ist es notwendig zu fressen, denn du bestehst aus Biomasse, die andere Lebewesen assimilieren muss, um zu wachsen. Die unbewaffneten Mitarbeiter_innen des Labors sind freilich einfache Beute, du schnappst sie mit deinen Greifarmen und ziehst sie in dein Maul. Das geht herrlich einfach von der Hand, denn du bewegst dich flüssig und rasend schnell durch die Gänge und Labore.

Doch das Gefühl der Unbesiegbarkeit währt nicht lange. Einige der Menschen besitzen Pistolen und beginnen erste Gegenwehr zu leisten. Die eine oder andere Kugel dringt in deinen wachsenden Körper und zerstört das Gewebe, sodass es mit noch mehr Fleisch wieder gefüllt werden muss. Noch ist es ein Leichtes den Widerstand im Keim zu ersticken, aber, um deinen Gegnern immer einen Schritt voraus zu sein, musst du schnell neue Tricks lernen. Auf diese Weise gelangst du ebenfalls in vorher unzugängliche Areale. Praktisch, dass in der Untergrundanlage auch noch andere Proben der Biomasse verwahrt werden, die deinem Genom starke Fähigkeiten verpassen.

Die drei Phasen der Biomasse in Carrion

In deiner kleinsten Form bist du beweglich und schnell, kannst aber schnell von den wachenden Menschen durchsiebt werden. Bevor du zu oft ins Kreuzfeuer gerätst, solltest du die Angreifer also aus dem Schatten heraus mit deiner Netzfähigkeit fesseln und somit unschädlich machen. Außerdem ist es dir nur in dieser kleinen Gestalt möglich, dich unsichtbar zu machen und Sicherheitssysteme wie Laserschranken zu umgehen. Wenn genug Menschen gefressen wurden, erweitert sich deine Größe und du wirst schlagkräftiger, kannst neue Wege erkunden, indem du stärkere Wände durchbrichst. Du bildest Stacheln aus, die Angreifer auf Distanz halten. Euphorie kommt auf, wenn du anfangs fordernde Gegner mit fiesen Elektroschilden leichter zerpflückst.

Gegen Ende erhältst du in Carrion deine finale Form, mit der du fast schon zu voluminös bist, um dich durch die engen Rohre zu zwängen. Dafür wirst du zur mächtigen Kampfmaschine, die auch explosive Ladungen ohne Probleme abfängt und die Fangarme wie Speere herausschießt. Durch dieses ständige Wechseln der drei Formen ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten. Die Spielwelt ist in Metroidvania-Manier erforschbar – mit neuen Fähigkeiten tun sich auch neue Wege auf. Vor allem im späten Spielverlauf von Carrion ist es unabdingbar den Wechsel zwischen den Größenordnungen der Biomasse und deren respektiven Fähigkeiten im Schlaf zu kombinieren, um den Ausweg zu finden. Mithilfe der Parasitismus Fähigkeit kannst du  die Menschen in der Anlage sogar wie ferngesteuert kontrollieren, um Rätsel zu lösen oder deine Kämpfe auszutragen. Noch stärker wirst du, wenn du die in jedem Level versteckten Eindämmungseinheiten plünderst.

Meisterlich umgesetzter Pixel-Horror

Durch die stufenweise Progression der Fähigkeiten bietet Carrion eine gute Lernkurve, die nicht überfordert. Doch nicht nur die Umgebungsrätsel werden komplizierter und verlangen eine Kombination des bisher Erlernten, auch die Gegner_innen werden immer stärker, bis am Ende pfeilschnelle Drohnen, Flammenwerfer und Mechs mit MGs auf uns warten. Aufgrund der angenehmen Spiellänge erlangt die Biomasse in kurzen Intervallen neue Fähigkeiten, was die Motivation hochhält. Auch die Umgebungen sind durchweg abwechslungsreich. Atomreaktoren reihen sich an Militärforschungsanlagen, im botanischen Garten verbreitest du die Knotenpunkte der Biomasse, die gleichzeitig als Speicherpunkte dienen, genauso wie in einer Unterwasserbasis. Der detaillierte Pixel-Art Stil des Horror-Metroidvanias passt perfekt. In Szene gesetzt wird er von einem unheimlichen Soundtrack von Cris Velasco und den Schreien der Labormitarbeiter_innen, die deinem Hunger nach Leben zum Opfer fallen. Genau so fühlen sich die Spieler_innen wie ein mächtiges Horrorwesen.

Beim Durchspielen des 2D-Horrorfests war ich im Flow gefangen, lediglich der finale Abschnitt ließ mich aufgrund einer Schwierigkeitsspitze das ansonsten gut ausbalancierte Spiel frustriert pausieren. Gamedesign und Präsentation sind in Carrion mit viel Augenmaß handgefertigt. Das gestraffte und abwechslungsreiche Spielerlebnis langweilt zu keinem Zeitpunkt und lässt keine Durchhänger aufkommen. Mal rollst du wie eine massive Fleischwalze durch den Raum, um alles zu vertilgen, mal musst du deine Fähigkeiten mit Hirnschmalz und Präzision einsetzen, um den weiteren Weg zu ergründen. Lediglich die bei steigender Masse fummelige Steuerung durch enge Passagen fällt störend auf: Das Gleiche gilt für das Zielen mit der Netzfertigkeit. Dass dieses Spiel von nur zwei Entwicklern geschaffen wurde, ist kaum zu glauben. Sebastian Krośkiewicz und Krzysztof Chomiki haben sich hier selbst übertroffen. Die Publisher von Devolver Digital  beweisen wieder einmal ein goldenes Händchen und bescheren mir nach Sludge Life ein weiteres Highlight des Spielejahres 2020.

8/10 ☣️

Developer: Phobia Game Studio
Publisher: Devolver Digital
Genre: Horror, Metroidvania
Team: Sebastian Krośkiewicz (Programming & Development), Krzysztof Chomiki (Game & Leveldesign)
Musik: Cris Velasco
Auszeichnungen: Best in Show (Gamescom 2019), Best of Show Nominee (E3 2019), Indie Grand Prix (Pixel Awards 2018), People’s Choice 1st Place (The Mix 2018), Best Indie Game & Community Vote (Digital Dragons Indie Showcase 2018)
Veröffentlichung: 23. Juli 2020 (Steam, Xbox One, Xbox GamePass, Switch)

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Der Historiker von WTLW. Spielt alles vom Walking Simulator bis zum Point-and-Click Adventure, am Liebsten aber RPGs mit guter Narrative und Strategie.

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