Wie sein Leben aussah, bevor der berühmte Detektiv in die Baker Street zog, um dort Fälle zu lösen, zeigt uns Sherlock Holmes: Chapter One.
Bereits zum neunten Mal beschert uns das ukrainisch-irische Studio Frogwares ein Abenteuer des exzentrischen Meisterschnüfflers. Vor einigen Jahren stieß auch ich auf diese Titel und mochte die Freiheit in den Ermittlungen, das spielerische Zusammensetzen der Hinweise in einem Netz aus Gedanken sowie die Möglichkeit, eigene Entscheidungen anhand dieser Schlüsse zu ziehen. Habe ich ordentlich ermittelt, konnte ich guten Gewissens entscheiden, wer schuldig war und wer nicht. Ich durfte sogar bestimmen, ob ich diese Personen laufen oder festnehmen lasse. Dieses Konzept zog sich durch alle aktuelleren Titel der Reihe und machte Frogwares Spiele so besonders. Das alles zu einem Zeitpunkt, an dem detektivische Ermittlungen im Spiel oftmals einem klaren Schema von Gut und Böse folgten. Als dann im Rahmen des Summer of Gaming 2021 ein ordentlich herausgeputzter Trailer erschien, war ich doch ziemlich vorfreudig. Nur verschwand dieses Gefühl zum Release innerhalb kürzester Zeit wieder.
Die Probleme einer Legende
Schnell war die Rede von technischen Problemen, einer hakeligen Open World und rassistischen Stereotypen im Spiel. Die ersten Eindrücke, die die Runde machten, bevor ich selbst Sherlock Holmes: Chapter One starten konnte, bremsten meine Euphorie ungemein. Technisch war die Reihe noch nie auf dem besten Stand. Deswegen wunderte es mich nicht, dass mein PC brummte wie ein alter Kühlschrank und das Geschehen ordentlich ruckelte. Die Insel Cordona, auf der alles spielte, hatte mit unzähligen aufploppenden Figuren, Straßen und Gebäuden zu kämpfen. Recht früh fällt auf, dass es hier nicht nur um das Lösen von Fällen geht. Sherlock Holmes: Chapter One hat plötzlich ein Kampfsystem. In abgeschlossenen Arenen wird auf unzählige Fieslinge geschossen. Sie können getötet oder festgenommen werden, wenn ich sie zuvor mit Gegenständen der Umgebung betäube. Alles war gewöhnungsbedürftig und so gar nicht wie früher. Das Wort ,,überambitioniert” schwirrte mir durch den Kopf.
Und dann ist da noch das Rassismus-Problem. Sherlock Holmes: Chapter One startet mit einem Disclaimer, dass das Spiel in einer Zeit spielt, deren Gesellschaft von Rassismus geprägt ist. Frogwares wollten das nicht ignorieren, weswegen im Spiel selbst viele Charaktere rassistische Äußerungen und Vorurteile von sich geben. Ich befürchtete daraufhin, dass im Spiel selbst vor allem People of Color ins Ziel meiner Ermittlungen rücken und die Darstellung dieser Figuren von den überall präsenten Vorurteilen und Stereotypen geprägt sein könnten. Anstatt mich also unvoreingenommen auf das Spiel einlassen zu können, war mein Blick geschärft. Ich wartete fast schon auf die ersten, groben Schnitzer. Dass der erste Fall in Sherlock Holmes: Chapter One sich dann auch direkt auf einen schwarzen Trickbetrüger fokussiert, bestätigte meine Befürchtungen. Doch zum Glück ließ ich mich davon nicht abbringen und hielt die Augen weiter offen, um den Blick auch hinter das Offensichtliche zu werfen.
Eine beschwerliche Entwicklung
Schon beim genannten Täter wird schnell eine nachvollziehbare Motivation klar, die mich dazu brachte, ihm genug Zeit für eine Flucht zu geben. Auf Cordona selbst treffe ich immer wieder auf unterschiedlichste Menschen in unterschiedlichsten Rollen. Unabhängig von der Herkunft oder dem Aussehen können die Bewohner_innen Cordonas wichtige Positionen im Rathaus belegen, Reichtum anhäufen, Violine lehren oder eben unter Armut leiden. So sehr die Bevölkerung hier vorurteilsbelastet spricht, ist es vor allem der Faktor der Klasse, der zum Tragen kommt. Das wirkt sich auch direkt auf das Spiel aus. Ist Sherlock Holmes zu fein angezogen, sprechen Arbeiter_innen, arme Menschen oder Matrosen nicht mit ihm. Er muss sich also verkleiden, um sich der jeweiligen Klasse anzupassen. In Polizeiuniform kann Holmes dann einige Tatorte entspannt begutachten, braucht aber die schwarze oder osmanische Bevölkerung nicht ansprechen. Diese macht sehr deutlich, dass die Polizei ihnen ebenso wenig helfen würde, wenn sie in Not wären.
Durch eine so simple Mechanik der Verkleidung wird hier also ein gesellschaftliches Problem offenbart und auf eine Art greifbar gemacht, wie ich es selten erlebt habe. Plötzlich stöberte ich durch die Klamottenläden im Spiel, um mich dem Fall entsprechend kleiden zu können. Ich überlegte mir genau, wen ich in meinem schmutzigen Blaumann nach dem nächsten Hinweis fragen könnte. So ist die Insel Cordona sicherlich eine Insel voller Probleme, für die der vorangestellte Disclaimer Sinn ergibt, problematisch finde ich es jedoch nicht. Vielmehr offenbart Sherlock Holmes: Chapter One diese Strukturen und bietet mir in der Rolle des Ermittlers oft genug die Möglichkeit, Menschen gegen diese Vorurteile zu bestärken oder aufgrund ihrer nachvollziehbaren Motivationen nicht den Hammer des unrechten Gesetzes zu schwingen. Ob ich es letztendlich tue, bleibt natürlich mir überlassen. Das Spiel selbst hat jedoch keine Hemmungen, moralisch fragwürdige Entscheidungen auch als solche zu kommentieren.
Sherlock Holmes: Chapter One – Eine Frage der Moral
Es passt dabei wie die Lupe vors Auge, dass Sherlock hier noch nicht der erfahrene Haudegen ist, den wir sonst so kennen. Er macht Fehler, reagiert auch mal impulsiv und wird ständig von seinem imaginären Freund Jon begleitet. Der ist dann auch die erwähnte Stimme der Moral, die sich ständig einmischt und Sherlocks Verhalten kommentiert. Bei der Ermittlung nach den Todesumständen seiner Mutter stolpert der junge Detektiv also von Fall zu Fall und hat hier deutlich seltener eine Ausgangslage, die eine richtige Lösung präsentiert. Immer wieder stand ich vor der Frage, wie ich den Fall jetzt lösen soll. Manchmal hatten alle Verdächtigen handfeste Motive und kein wasserfestes Alibi, so dass ich einfach meinem Instinkt vertrauen musste. Ob ich richtig lag, sagt mir Sherlock Holmes: Chapter One nicht. Bis auf ein paar Zeitungsartikel hat mein Handeln auch vermeintlich keine weiteren Konsequenzen. Doch auch das greift das Spiel irgendwann auf.
Wie Sherlock selbst wachse ich im Spiel mit den mir gestellten Aufgaben. Mal reagiere ich frustriert, mal entscheide ich mich aus purer Hilflosigkeit. Ist meine Entscheidung so vertretbar? Kann ich die Verdächtigen der Polizei übergeben oder ist mir das doch zu heikel? Gerade weil ich keinen Detektiv spiele, der schon alles erlebt und gelöst hat, wirkt dieses Hin und Her äußerst authentisch. Wenn ich mich ohne wirkliche Erlaubnis in Fälle einmische, dann hat mein Handeln Konsequenzen für alle Beteiligten. Sherlocks Arbeit ist ein Drahtseilakt, bei dem fehlende Informationen fatale Folgen haben könnten. Nur sind die nicht zu umgehen, wenn der Kopf schon zu tief im Fall steckt. Ein Gefühl der Sicherheit hatte ich daher selbst zum Ende hin nicht. Im Hinblick auf die Entwicklung der Geschichte ist das aber auch alles andere als verwunderlich. Sherlock hat genug Probleme, die im Weg stehen. Wer dann noch im Lernprozess steckt, macht Fehler.
Ein Licht am Ende der Lupe
Ich bin wirklich froh, mich hier durchgebissen zu haben. Die technischen Probleme habe ich mit der Zeit gar nicht mehr wahrgenommen. Die offene Welt führte dank fehlender Missionsmarker dazu, dass ich mich nur anhand einer übersichtlichen Straßenkarte zurechtfinden musste. Oftmals wurden mir für Aufträge nur Stadtteil und Straßenname genannt, den Rest musste ich mit der Karte selbst herausfinden. Informationen aus Archiven der Polizei, der Presse oder des Rathauses wollten dank zuvor gesammelter Infos gefunden werden. Bereits Erfahrenes wurde gut sortiert im Pausenmenü aufgeführt, alles Weitere lag in meiner Hand. So konnte ich mich tatsächlich wie ein Detektiv fühlen, der immer wieder auf neue Hinweise stößt. Das ,,überambitionierte” Projekt funktionierte mit der Zeit immer besser. Wenn sich im Gedankennetzwerk die ersten Hinweise zu Schlüssen zusammenführen, fühlte es sich wie meine ganz eigene Errungenschaft an.
Hat mich die offene Welt anfangs noch überfordert und abgeschreckt, wirkt Cordona mit der Zeit immer lebendiger. Die Vielfalt an Menschen und Stadtteilen ist so abwechslungsreich, dass ich keine 100 Beschäftigungen brauche, um einfach durch die Gassen schlendern zu wollen. Irgendwo schnappe ich ein Gespräch auf, dem ich lauschen kann, um einen neuen Fall zu erhalten. Irgendwie finde ich polizeiliche Absperrungen, die meine Spürnase erfordern. Irgendwann lande ich in der Straße, die das Ende einer langen Schnitzeljagd darstellt. So war mein Abschied aus Cordona am Ende deutlich wehmütiger, als ich es mir je hätte denken können. Sherlock Holmes: Chapter One hat mir vor Augen geführt, dass ich auch meine eigenen Vorurteile und Erwartungen ständig auf den Prüfstand stellen sollte. Sonst hätte ich es wahrscheinlich nach wenigen Stunden einfach beendet und damit eine spannende Reise verpasst.
8/10 🕵️
Die Couchkartoffel von WTLW. Sein Seelentier ist definitiv ein Relaxo! Am liebsten hockt er zu Hause und spielt Videospiele. Seine Nase steckt er dabei in alles mögliche, wagt sich an jedes Genre und hat schon diverse Horrorspiele abgebrochen, weil er nicht der Idiot sein wollte, der jetzt die Treppe herunter zum gruseligen Geräusch geht.