Grime Review | Die Ästhetik des Vergänglichen

Neben herausforderndem Gameplay stellt Grime vor allem Kunst und Ästhetik im Angesicht ihres Verschwindens in den Mittelpunkt.

Habt ihr früher Steine gesammelt? Den Blick über den Boden streifen lassen, in der Hoffnung, ein besonders glänzendes, glattes Stück Mineral zu finden, um es mit nach Hause zu nehmen? Habt ihr zahlreiche Brocken durch eure Hand klackern lassen, während euch eine Person esoterischen Quark erzählt hat, wozu diese Steine alles gut sein können? Oder habt ihr versucht, aus einer Ansammlung dieser harten Klumpen kleine Figürchen zu bauen, um dann zu merken, dass die Heißklebepistole hier nicht im Ansatz so gut funktioniert wie erhofft? Steine begegnen uns überall, sind monumentale Elemente in der Natur oder nerviges Kleinod in unserem Schuh. Sind fiese Wurfgeschosse oder hartes Kissen beim Nickerchen am See. So unscheinbar Steine auch sein mögen, haben wir doch alle bestimmte Erinnerungen, die fest damit verknüpft sind. Nun hat sich das Studio Clover Bite aus Haifa, Israel, dazu entschieden, ihre ganze Welt aus Stein zu meißeln.

Ein steiniger Weg

Als schwarzes Loch auf einem Steinkörper ziehe ich in dieses Universum, um es komplett aufzunehmen. Je mehr große Widersacher dem Sog erliegen, desto mehr Fähigkeiten erhält meine Gestalt und wird stärker. Dabei liegt es an mir zu entscheiden, wie ich diese Stärke verteile. Soll es in Lebensenergie, Ausdauer, Angriff, Geschick oder Fertigkeit gesteckt werden? Je nachdem, welche Werte ich bevorzuge, kann ich andere Waffenarten nutzen, die ich überall in der Welt versteckt finde und die damit das Spielgefühl stark verändern. Haue ich alle Steine, die ich sammle, in Kraft, kann ich zwar sehr starke Waffen nutzen, diese lassen sich aber nur langsam führen und verbrauchen viel Ausdauer, was nur wenige Angriffe am Stück ermöglicht. Geschick gibt mir dafür deutlich schnellere Angriffe mit schwächeren Waffen. Da zu Beginn die ersten Verstärkungen nur wenig Steine kosten, habe ich immerhin die Möglichkeit auszuprobieren, was mir am Ehesten liegt, bevor ich mich entscheide.

Falls jemand von euch schon einen Titel aus der Dark Souls-Reihe gespielt hat, dürfte das Kampfsystem in Grime schnell in Stein und Geröll übergehen. Es ist ein Tanz zwischen Angriff und Ausweichrolle, den Blick ständig auf der Ausdauer, um nicht plötzlich ausgelaugt einem feindlichen Angriff ausgeliefert zu sein. Überall in der Welt befinden sich versteckte Gänge und Geheimnisse, die entweder Schätze oder fiese Gegner beherbergen, die aus dem Nichts zuschlagen. Schafft ihr es dabei, im richtigen Augenblick einen Konter zu aktivieren, saugt euer schwarzes Loch den Gegner kurzerhand zu großen Teilen ein, was zusätzlich eure besondere Kraft auffüllt, mit der ihr verlorene Lebensenergie wieder regenerieren könnt. Gegenstände, die ihr findet, dienen nämlich häufiger eher dem Angriff, verstärken kurzzeitig eure Werte oder spenden dieselbe Kraft, die ihr beim Aufsaugen erhaltet. Hoffnung auf unmittelbare Heilung durch solche Funde ist vergeblich. Vorsicht und Aufmerksamkeit sind demnach die wichtigsten Begleiter des schwarzen Lochs.

Grime dich nicht, deine Zeit ist zu kostbar

Doch war es nicht das herausfordernde Gameplay, das mich in seinen Bann zog. Es war viel mehr die Welt, durch die ich mich bewegte, die so kryptisch und geheimnisvoll blieb, dass ich selbst am Ende nur Bruchstücke zusammensetzen kann, um ein halbwegs kohärentes Mosaik zu erhalten. Diverse Steinwesen, denen ich begegne, greifen mich nicht an, sondern suchen den Dialog mit mir. Doch außer einer tiefsitzenden Verzweiflung verstehe ich nicht so ganz, wie dieses Universum funktioniert, wie es aufgebaut ist. Was ich jedoch merke, ist, dass alle Wesen hier nach Schönheit und Ästhetik streben. So bekam ich die Information, dass dieses Verlangen dazu führt, dass nahezu alle Steinwesen unter ihrer eigenen Gestalt leiden, aber unterschiedliche Wege finden, damit umzugehen. Während manche zu wütenden Monstern werden, suchen andere den Ausweg in der Kunst oder beginnen, ihre Steine zu schleifen und zu dekorieren.

Im Kontrast dazu steht mein Schwarzes Loch, das von vielen Kreaturen in Grime als vollkommene Perfektion angesehen wird. Der Körper ist glatt und kann sich aus diversen Gliedmaßen zusammensetzen, die ich in der Welt finde. Der Kopf als kreiselnde Kugel des Nichts ist kein Vergleich zu den großen, unförmigen Klötzen, die auf den Schultern der ersten Wesen stehen. So blicken sie sowohl mit Bewunderung und Faszination auf meine Spielfigur, spüren an vielen Stellen aber auch einen tiefen Neid durch den Eindruck, diese Art der Vollkommenheit nie zu erreichen. Und wie reagiere ich darauf? Gar nicht. Das schwarze Loch ist nicht dafür da Heilung zu spenden und diesen verlorenen Kreaturen zu helfen. Das schwarze Loch steht für Zerstörung, das unvermeidbare Ende. Neben der Konfrontation mit vollkommener Perfektion steht also auch das Bewusstsein, dass die Zeit nun abgelaufen ist und das persönliche Bestreben wohl nicht mehr zu einem zufriedenstellenden Ziel kommen wird.

Sekunden der Perfektion

Grime bietet damit einen Blick auf Kunst, der mir sehr nahe geht. Dieses Streben nach unerreichbarer Perfektion, das so lange anhält, bis die eigenen Ansprüche erdrückend werden und nur noch Resignation bleibt, ist ein Gefühl, das ich selbst nur zu gut kenne. Auf der anderen Seite sehe ich Hoffnung im Angesicht des Untergangs, wenn Kreaturen sich nicht mehr mit dem eigenen Schönheitsideal beschäftigen, sondern ihren Anspruch an Ästhetik in Farbe auf die Wände um sie herum projizieren. Völlig unerwartet stieß ich auf Wesen, deren Artgenossen mich zuvor noch attackierten, die augenscheinlich ihren Frieden mit sich gefunden haben und einfache Freude darin empfanden, ihr Umfeld zu verschönern, zu lernen und sich in ihrem kreativen Ausdruck zu verbessern. Ich hätte mit vielem gerechnet, aber nicht, dass ich in Grime auf eine Kunstschule stoßen würde. Hier gibt es keine Kämpfe, keinen Konflikt. Alles verschwindet im fleißigen Ausleben von Kreativität.

Einige Stunden später erreiche ich eine pömpöse Stadt, in der Steinwesen wie perfekt proportionierte Mannequins aussehen. Hier ist optischer Eindruck kein Thema mehr, die Perfektion erreicht und trotzdem sprudelt auch in dieser Gesellschaft der Brunnen der Kreativität. Im Wissen, dass meine Ankunft das endgültige Ende der Zivilisation bedeutet, ist das einzige Anliegen dieser Bevölkerung, eine letzte Darbietung zu liefern. Ihre Kunst hat den Anspruch, selbst im Nichts meines alles einsaugenden Kopfes in Erinnerung zu bleiben, auch wenn das eigentliche kreative Schaffen nur Sekunden andauert. Ihre Kunst löst sich vom materiellen Wert und soll einzig und allein die Rezipient_innen berühren. Diese Wesen hier freuen sich, wenn ich Kunstwerke zerstöre, um die darin enthaltenden Steine einzusaugen, da ihre Werke für immer in mir weiterleben. Die Perfektion ihrer Kunst liegt nicht mehr im Werk an sich, sondern allein in der Wirkung dessen. Eine Haltung, die ich selbst auch gerne mehr verinnerlichen würde.

Ein kleines Licht vor großem Nichts

Wenn ich mir Dokumentationen über das Weltall und Schwarze Löcher anschaue, fühle ich mich selbst oft klein und unbedeutend. Doch gibt mir dieses Gefühl eine große Sicherheit. Denn auch meine Probleme erscheinen plötzlich unbedeutend klein. Im Bezug auf meine Kunst hat mir Grime also geholfen, sie wieder einzig und allein um der Kunst willen schaffen zu wollen. Ob ich das gänzlich verinnerlichen kann, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß jedoch wieder, warum ich angefangen habe zu schreiben. Demnach hat mich die moralische Frage, die Grime aufwirft, inwiefern es vertretbar ist, ohne Rücksicht auf Verluste der Welt ihr Ende zu bringen, relativ kalt gelassen. Für ein Schwarzes Loch gibt es nämlich keine Moral. Es gibt keine Abstufung, was verschlungen wird und was bestehen bleibt. Kommt ihm etwas zu nahe, ist es weg. Ganz einfach. Diese Unvermeidbarkeit ist nicht nur Bestandteil des Spiels, sondern auch unseres Alltags.

Ein schwarzes Loch auf zwei Beinen, das riesige, klobige Waffen schwingt, hat mir erneut vor Augen geführt, dass theoretisch jeden Tag etwas geschehen kann, was mein Leben völlig auf den Kopf stellt und es in der Form beendet, in der ich es aktuell kenne. Wieso sollte ich mich dann von einem Anspruch an Perfektion aufhalten lassen? Dafür ist die Zeit zu kostbar, so kitschig es auch klingen mag. Vielleicht werde ich sie auch dazu nutzen, mehr von der steinigen Welt in Grime zu erkunden. Es kann nämlich gut sein, dass mir noch die ein oder andere Ecke entgangen ist, deren Inhalt mir mehr über diese Welt und ihre Lebewesen sowie deren Verständnis von Ästhetik erzählt. Und im Angesicht dessen, was mir die bisherigen Begegnungen vermitteln konnten, wäre es eine Schande, wenn mir das entgehen würde.

9/10 🧱🖼️

Developer: Clover Bite
Publisher: Akupara Games
Genre: Action RPG/Metroidvania
Team: Yarden Weissbrot (Director); Yonatan Tepperberg (Technical Art, Level Design, Wirting); Nick Pochtariov (Character Design); Theodor Kovalev (Technical Director, Programming); Adva Kovalev (Environment-/UI-Design); Sean Secca (Sound Design)
Musik: Alex Roe
Auszeichnungen: Best Character Design (Unfold Games Awards 2021)
Veröffentlichung: 2. August 2021 (Steam, Epic Games Store, GOG)


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Redakteur | + posts

Die Couchkartoffel von WTLW. Sein Seelentier ist definitiv ein Relaxo! Am liebsten hockt er zu Hause und spielt Videospiele. Seine Nase steckt er dabei in alles mögliche, wagt sich an jedes Genre und hat schon diverse Horrorspiele abgebrochen, weil er nicht der Idiot sein wollte, der jetzt die Treppe herunter zum gruseligen Geräusch geht.

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