Die Zeitmagierin Crisbell und ihre Begleiter_innen müssen im klassischen JRPG Cris Tales die Welt retten. Was auch sonst?
Rundenbasiertes Kampfsystem, Zufallskämpfe in Dungeons, fantasievolle Städte voller Wesen, mit denen ich mich unterhalten kann und die mir Quests geben – das sind die Elemente, die ich erwarte, wenn mir jemand ein „klassisches JRPG”, also ein japanisches Roleplaying Game empfiehlt. Wobei das J nicht zwingend bedeuten muss, dass die Entwickler_innen aus Japan stammen. Vielmehr ist es zur einfachen Genrebezeichnung dieser Spiele geworden, die so ihren Ursprung in Japan hatten. Während RPGs im Westen deutlich mehr Inspiration von Pen and Paper-Runden zogen, uns Charaktere frei erstellen und Statuswerte selbst festlegen ließen, waren die Figuren in JRPGs meist vorgegeben. Spiele wie Final Fantasy oder Dragon Quest prägten diese Art von Spiel und fungieren auch heute noch als Vorbilder für einige Spielmechaniken, die über die Jahre immer mehr Feinschliff erhielten. Die Kämpfe wurden trotz rundenbasierter Grundmechanik mit neuen Elementen aufgewertet und die Zufallskämpfe wurden optimiert, um nicht gänzlich an unseren Nerven zu sägen.
Der Zahn der Zeit nagt unerbittlich
Und damit komme ich direkt zu Cris Tales und muss meinem Frust kurz Luft lassen. So gerne ich nämlich immer wieder in die Welt dieses Spiels eingetaucht bin, gab es mehrmals Situationen, in denen ich wütend und entnervt aufgeschrien habe. Denn genau die Elemente, die vor 20 Jahren einfach zum Genre dazugehörten, heute aber durch diverse Optimierungen weitaus angenehmer sind, hat Cris Tales aus der Vergangenheit in die Gegenwart gebracht. Zahlreiche Zufallskämpfe in Dungeons, durch die ich nur im Schritttempo laufen kann? Check! Rundenbasierte Kämpfe, deren zusätzliche Gimmicks meistens nicht nötig sind, so dass einfach Angriffe gespammt werden? Check! Kein Autosave, so dass eine Niederlage mich zum letzten manuellen Speicherstand zurücksetzt? Check! Natürlich kann so etwas als Hommage an alte Zeiten auch heute in Spielen gemacht werden. Nur werde ich damit einfach nicht mehr warm. Aber langsam und von vorne. Was genau hat mich gestört?
Der größte Haken ist definitiv die Speicherfunktion. Es gibt in der Welt von Cris Tales mehrere Sandflecken, an denen meine Gruppe ruhen kann. Das dient auch als Speicherpunkt. Den habe ich immer wieder benutzt, aber nie zu häufig, weil das Spiel an sich nicht zu schwer war. So gerne ich die Zufallskämpfe in ihrer Häufigkeit beeinflusst hätte, indem ich wie in Bravely Default die Wahrscheinlichkeit verändern könnte oder Gegner auf der Karte vielleicht sichtbar wären, war ich zumindest immer auf einem angemessenen Level und damit stark genug. Kommt dann aber doch mal ein plötzlicher Bosskampf, der mich überrumpelt und ich habe nicht gespeichert… tja, Pech gehabt. Ich habe so teilweise zwei Stunden Spielfortschritt verloren. Viele Rollenspiele fragen zumindest, ob ich einen Kampf direkt wiederholen möchte, wenn ich verliere. Nicht Cris Tales. Oh nein. Zurück zum letzten Speicherpunkt mit dir! Ich möchte nicht sagen, wie weit ich mein Gamepad geworfen habe.
In Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Beruhige dich, Malte. Ganz tief Luft holen. Am besten erzähle ich euch überhaupt erst einmal, worum es in Cris Tales geht. Zumindest insofern ich verstanden habe, was die Geschichte ist. Je länger ich darüber nachdenke, desto unsicherer bin ich mir. Das Mädchen Crisbell merkt eines Tages, dass sie empfänglich für Zeitmagie ist. Sie kann sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft ihrer Umwelt zu jeder Zeit sehen und damit auch erahnen, was an den jeweiligen Orten geschehen wird. Das gibt ihr natürlich die Möglichkeit Einfluss zu nehmen, um die Zukunft zu retten. Gemeinsam mit dem Zeitmagier Willhellm und ihrem Freund Christopher macht sie sich auf den Weg, die Kathedralen der Welt aufzusuchen, um ihre neue Kraft weiter zu ergründen. So lernt sie immer weitere Fähigkeiten. Zum Beispiel kann sie später einzelne Gegenstände in Vergangenheit oder Zukunft schicken oder die Zeit um sich herum anhalten.
Unterstützt wird sie bei diesen mächtigem Potential außerdem vom kleinen Frosch Matias, der das Talent besitzt, die Versionen der Zukunft und Vergangenheit, die Crisbell sieht, direkt zu bereisen, um zum Beispiel Gegenstände aus diesen Zeitebenen zu erhalten. Crisbells Zauberkräfte sind ihr auch in Kämpfen zugänglich, um beispielsweise Gegner in Vergangenheit oder Zukunft zu schicken, was sichtbare Veränderungen hervorruft. Ist ein Feind beispielsweise vergiftet und wird in die Zukunft geschleudert, wird er nicht nur älter und gebrechlicher, sondern nimmt direkt den gesamten Giftschaden auf einmal. Das gibt dem herkömmlichen rundenbasierten Kampfsystem mehr taktische Tiefe. Außerdem verursache ich mehr Schaden, wenn ich bei meinen Angriffen im richtigen Zeitpunkt einen Knopf drücke. Blöd ist nur, dass all diese Mechaniken meistens nicht nötig sind. Oft reicht es völlig, einfach die starken Angriffe zu nutzen und auf die Zeitgimmicks zu verzichten… bis plötzlich ein Boss auftaucht, dem damit überhaupt nicht beizukommen ist.
Glorreiche Zeiten für Cris Tales?
Ich habe ja schon in diversen Reviews und Podcasts erwähnt, dass ich mich vor allem dann ärgere, wenn ein Spiel das eigentlich tolle und vorhandene Potential nicht nutzt. Für mich wäre Cris Tales ein viel besseres Spiel gewesen, wenn an manchen Punkten die Stellschrauben nochmal angesetzt worden wären. Denn im Großen und Ganzen sehen die platten 2D-Figuren in der dreidimensionalen Welt wunderschön aus. Die Zwischensequenzen erinnern an alte Gemälde, sodass jederzeit ein Screenshot gemacht werden könnte, der einfach traumhaft aussieht. Die Musik ist märchenhaft schön und verträumt und die erzählte Geschichte wunderbar leichtherzig. Zwar sind alle Witze, die von diversen Figuren versucht werden, absolute Rohrkrepierer, die mich wirklich nie auch nur haben schmunzeln lassen, trotzdem mochte ich die Charaktere. Jeder Dialog ist komplett vertont, ohne dabei irgendwo an Qualität zu verlieren. Das Spiel findet sogar Wege, mich an neue Charaktere heranzuführen, wenn ich eigentlich schon eine feste Gruppe habe.
Da ich immer nur mit drei Figuren auf einmal kämpfen kann, hatte ich recht schnell meine bevorzugte Kombination an Charakteren, mit denen ich umgehen konnte. Neue Teammitglieder hatten es daher schwer, aber zack, kleiner Plottwist und schon blieb mir nichts anderes übrig, als mich auch mit denen anzufreunden. Cris Tales war für mich ein ständiges Auf und Ab von purer Verzücktheit – ob der schönen Präsentation – und gähnender Langeweile oder knallhartem Frust, wenn die Spielmechaniken mir wieder Steine in den Weg legten. Selbst die großen, Jahrzehnte älteren Vorbilder konnten ihre mittlerweile veralteten Mechaniken besser kaschieren, als es Cris Tales gelingt. Selbst eine Hommage an diese alte Zeit hätte also deutlich angenehmer spielbar sein können, ohne die Vorlage zu “verraten”. Dann müsste ich jetzt nämlich nicht ständig daran denken, wie viel Zeit dieser 25 Stunden ich mit mieser Laune verbracht habe.
6/10 🐸️⌚
Developer: Dreams Uncorporated, SYCK
Publisher: Modus Games
Genre: JRPG
Team: Carlos Andrés Rocha Silva (Game Director); Sebastian Villarreal (Art Director); Yaddir Vill (Gameplay Director)
Musik: Tyson Wernli, Norihiko Hibino
Auszeichnungen: Best Indie Game (Gaming Trend E3 2019); Best Sleeper Hit (RPGFAN Awards E32019); Star of the Show (Ultimagames E3 2019); Best PC Game (Dualshockers E3 2019); Best Indie Game (WCCF Tech E3 2019)
Veröffentlichung: 20. Juli 2021 (Steam, Epic Game Store, GOG, PS5, PS4, Xbox Series X|S, Xbox One, Switch)
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Die Couchkartoffel von WTLW. Sein Seelentier ist definitiv ein Relaxo! Am liebsten hockt er zu Hause und spielt Videospiele. Seine Nase steckt er dabei in alles mögliche, wagt sich an jedes Genre und hat schon diverse Horrorspiele abgebrochen, weil er nicht der Idiot sein wollte, der jetzt die Treppe herunter zum gruseligen Geräusch geht.