Das Leben ist bunt, doch Trauer trägt schwarz. Kein anderes Spiel mag das so gut zu verbildlichen wie das preisgekrönte Gris.
Ich spreche oft über meine Gefühle. Ich würde sogar sagen, ich nehme sie intensiver wahr als andere und bin dementsprechend fähig, sie in bildhafte Worte zu fassen. Nicht immer führt das dazu, dass ich besser verstanden werde. Meine Gegenüber sehen zwar ein, dass ich die Gefühle derart empfinde, aber sie sind außerstande, sie nachzuempfinden. Meine Worte, und seien sie noch so voll mit Vergleichen und lebendigen Ausdrücken, sind ein schwacher Abklatsch dessen, was in mir vorgeht. Alle, die schon einmal Trauer, Verlust oder Angst empfunden haben, können sich an diese Gefühle erinnern, aber jede Erinnerung bedeutet auch eine Abschwächung zugunsten unserer geistigen Gesundheit.
Gris macht diese überwältigenden Gefühle erlebbar. Es handelt sich um ein Spiel von Nomada Studio, das bereits 2018 erschienen ist. Und für nicht wenige befindet es sich unter den besten Indie-Spielen aller Zeiten. Rein deskriptiv würde ich es als Puzzle-Plattformer beschreiben, denn die Protagonistin läuft und springt, um kleinere Rätsel zu lösen. Allerdings geht es nicht darum, der/die Schnellste oder der/die Beste zu sein. Vielmehr geht es um Gris‘ Reise zurück zu einem glücklichen Leben und um die Verarbeitung von Verlust und Trauer. Wir Spieler_innen begleiten sie, doch sie bleibt unnahbar in ihrer eigenen Welt, die von innen nach außen gekehrt ist. Der Begriff Gefühlswelt bekommt anhand ihrer Reise durch ihr Innerstes eine neue Bedeutung. Sie findet sich überall in Farben, Formen, Symbolen und der Musik.
Gris, spanisch für grau*
Die erste Szene zeigt das junge Mädchen Gris in allen Farben des Regenbogens. Vertrauensvoll kniet sie in der Handfläche einer riesigen steinernen Hand. Sie gibt ihr Halt, während sie mit geschlossenen Augen singt. Gris‘ Gesicht ist offen, beinahe kindlich, während sie geborgen in ihrer kleinen Welt sitzt. Doch dann geschieht es. Ein Ruck erschüttert ihren Grund. Gris hört abrupt auf zu singen, wirkt erstickt, als sie in sich zusammensackt. Die Hand bröckelt, und sie fällt durch Wolken und Dunst hindurch, bis sie auf den Boden auftrifft. Nicht hart, mehr, als würde ein Tuch zu Boden sinken.
Gris‘ Welt hat ihre Farbe verloren. Nur noch schwarz und weiß sind übrig. Es ist die völlige Abwesenheit von Leben, eine Totenstille ist wie ein Leichentuch über die Umgebung gebreitet. Obwohl wir nicht wissen, was dem verstummten Mädchen passiert ist, erleben wir ihren Bruch mit. Sie rappelt sich auf und geht mit gesenktem Kopf einfach los, scheinbar ziellos, und passiert die Trümmer ihres einstigen Lebens. Riesenhaft türmen sie sich am Wegesrand auf und erdrücken Gris‘ zarte Gestalt mit ihrer Wuchtigkeit. Erst trottet sie nur, fällt, rappelt sich wieder auf und wischt ihre Tränen ab. Dann läuft sie, springt über Steinbrocken und durchquert eine taube, tote Umgebung, die aller Schönheit beraubt ist. Halb versunkene Paläste und Bäume wie Stimmgabeln zeugen stumm von ihrer einstigen Herrlichkeit.
Perseverance, englisch für Ausdauer*
Als sie auf die Reste der Hand trifft, in der sie eben noch geruht hat, trifft der Kummer sie mit voller Wucht. Von der Hand sind nur noch Trümmer übrig, scharfkantige Reste einstigen Friedens. Sie rollt sich zusammen, steckt den Kopf zwischen die Knie und trauert lautlos. Doch es ist eine reinigende Trauer, denn wir sehen eine Farbe in ihr Leben zurückkehren. Rot fließt wie Blut aus ihr heraus und gibt allem einen Tropfen Leben zurück. Am roten Himmel steht eine riesige Sonne, Symbol der Neugeburt einer Welt. Ein Hoffnungsschimmer erwacht: ein Stern öffnet einen Weg, wo vorher nur der Abgrund gähnte. Sie erreicht einen Palast, kaum mehr als eine Ruine mit einem geneigten Turm.
Wir erkennen, dass es im Vorankommen ein Ziel gibt. Gris sammelt Sterne ein, die ihr wortwörtlich eine Brücke in den Himmel bauen. Sie spenden Licht und folgen ihr, bis sie jene große Anlage erreicht. Sie ist nicht in der Lage, die höheren Etagen des Palasts zu betreten, noch sind ihr die Türme und Arkaden verwehrt. Hier finden die Sterne ein neues Zuhause und nehmen ihren Platz in einem Sternbild ein, das noch unvollständig ist. Gris wird immer wieder an diesen Ort zurückkehren. Und er wird mit jeder Rückkehr ein Stück gewachsen sein, wie auch das Sternbild mit weiteren Sternen wachsen soll. Wir ahnen, sie steht in ihrem persönlichen Heiligtum, das ein Abbild ihrer Seele liefert.
Descent, englisch für Abstieg*
Angesichts der massigen Steine erlernt Gris eine neue Fähigkeit, während die junge Sonne am Firmament zusammenschrumpft. Gris‘ Kleid wird zu einem schweren Klotz, mit dem sie brüchige Bauwerke zum Einsturz bringen kann. Es visualisiert eine Abwehrhaltung gegenüber Hindernissen, eine Abkapselung von der Außenwelt. Auch als ihr heftige Wüstenstürme tiefroten Staub entgegenblasen und sie immer wieder zurückwerfen, bleibt sie stur. Mit kleinen Tippelschrittchen schafft sie es, sich voranzuschieben, bis die kritische Phase überstanden ist. Als sie nun zum Palast zurückkehrt, ist er umgeben von grazilen, metallisch anmutenden Konstruktionen. Sie sind leblos und mechanisch, reagieren aber doch auf Gris‘ Schritte. Dieses Funktionieren entspricht einem Weiterleben, das noch nicht von Willen geprägt ist.
Und ihr Weg ist nicht ohne Hindernisse. Nach den zaghaften Fortschritten folgt ein Rückschlag, und Gris fällt erneut. Sie landet in einer tiefschwarzen Höhle, sie wirkt wie eine tief in Stein begrabene Krypta. Unter Gris‘ Füßen breitet sich ein weißes Negativ mit ihrem schwarzen Schattenriss aus. Übergroße steinerne Statuen zeugen von klagenden Momenten der Trauernden. Dem Anblick der Trümmer kann Gris nicht standhalten. Schattenhafte Vögel tragen sie wieder an die Oberfläche, befreien sie ebenso wie sich selbst aus dem Gefängnis. Sie werden ihren Weg mehrfach kreuzen und ihre Gestalt dabei wandeln. Einmal werden sie zu einem riesenhaften Vogel, der Gris mit seinem schrillen Kreischen durch die Luft wirbelt. Er verletzt sie nicht, aber er hält sie auf, destabilisiert sie in ihrem Prozess der Heilung. Sie wird in die Defensive gezwungen, um ihn zu überwinden.
Tobu (飛ぶ), japanisch für springen, fliegen*
Mit der nächsten Farbe, Grün, kehrt das Leben auch in die Umgebung zurück. Erneut trifft sie der Kummer unerwartet. Ihre Emotionen fließen als Farbe aus ihr heraus und benetzen den Bildschirm. Die sanften Grüntöne nehmen dem Rot die Härte und erzeugen eine fragile Aufbruchsstimmung. Ganz gemäß den Assoziationen zur Farbe Grün betritt die junge Frau einen wunderlichen Wald. Statt von starren Trümmern und geometrischen Formen ist sie nun von kleinen Pflanzen umgeben, die vor ihren Schritten in den Erdboden flüchten. Die strengen Symmetrien sind organischem Wachstum gewichen, geschwungene Wurzeln säumen ihren Weg. Gris sammelt weitere Sterne ein und ihr Palast gedeiht. Sie erlernt eine neue Fähigkeit und kann nun dank ihres Kleids kleinere Strecken gleiten. Vorher unüberwindbare Abhänge sind plötzlich kein Hindernis mehr.
Mit der Farbe Blau kehrt das Wasser in ihre Welt zurück. Der Regen plätschert, ganze Strömen fließen über die steinernen Monumente und füllen gigantische Höhlensysteme. Zart leuchtende Unterwasserlebewesen und gewundene Pflanzen diktieren das Unterwasserlabyrinth. Gris erkundet es auf der Suche nach weiteren Sternen und findet eine seltsame Spiegelwelt. Mal ist sie unter Wasser und schießt einem Fisch gleich durch die Kavernen. Dann durchbricht sie die Oberfläche und muss Hindernisse mühsam erklimmen. Viele Bauwerke sind im Wasser nach unten gespiegelt, eine Vorahnung der späteren Entwicklung. Denn noch fehlt eine Farbe zur Komplettierung, nämlich das warme, heimelig leuchtende Gelb. Die Unterwasserwelt fluoresziert in kühlem Türkis und bleibt weitestgehend im Halbdunkeln verborgen.
Ascension, englisch für Aufstieg*
Doch dann taucht sie in ihrer Neugier zu tief und weckt das tintenschwarze Ungeheuer erneut. Ihr Schatten hat nun die Gestalt einer Muräne, und diesmal will er sie verschlingen. Was sie zuvor bedrohte, trachtet jetzt nach ihrem Leben. Eine bange Jagd durch die Unterwasserwelt endet beinahe tödlich, es gibt kein Entkommen vor einem nachtschwarzen Gestaltwandler. Doch sie wird gerettet, von der Welt, die sie selbst errettet hat. Sie wird wieder nach oben getragen, und ist daran gewachsen. Ihrem Abstieg in das dunkelste Innerste folgt der Aufstieg, dem Himmel entgegen.
Mit der vierten Farbe ist das Licht in ihre Welt zurückgekehrt. Die Farbe Gelb findet sich in Lampen und kleinen Sonnen, die vergängliche Treppen erschaffen. Sie kann endlich ihren Palast erklimmen, doch ganz oben wartet nicht der Himmel. Dort wartet ein Spiegelbild ihrer Welt, und dieses steht Kopf. Das Licht eröffnet ihr also eine weitere Dimension voller intakter Monumente, eine fragile, heile Welt, die ihr zugänglich wird. Und ihr Sternenbild ist beinahe vollständig, seine Form deutet sich an. Eine große Hand wird ihr gereicht. Gris‘ Verlust ist fast bewältigt, ihre Heilung nahezu komplett. Sie findet ihre lang verlorene Stimme wieder und ihr Singen lässt zarte Blumen erblühen.
In Your Hands, englisch für In deinen Händen*
Doch als ihr Sternbild vollendet ist und sich ihre Welt umkehrt, in diesem Moment ist sie am verletzlichsten. Der Umbruch lässt das himmlische Spiegelbild zu ihrer eigenen Welt werden, eine durchscheinende Realität wird in der Welt verankert. Diesen Moment nutzt die Dunkelheit und kehrt ein letztes Mal zurück. Sie legt ihre Formen ab und wird zur Urangst, die Gris mit grotesk aufgerissenem Mund verschlingt. In einem schwarzen Ozean aus Trauer schwimmt die junge Frau nach oben, nur um erneut vor den Trümmern ihres mühsamen Prozesses zu stehen. Wieder der Farben beraubt, steht ihr Schicksal erneut auf der Kippe. Sie passiert einen aufgebahrten steinernen Leichnam und trifft auf die zerbrochenen Überreste ihres Verlusts, den wir nun im Ganzen als Frauenstatue erblicken.
Gris hat sich dem Schrecken zuvor nie gestellt, sie ist ihm entronnen und sie hat ihn einmal knapp überlebt. Gestärkt von ihrem Weg, begegnet sie der Trauer offensiv und beginnt zu singen. Während ihre Stimme ertönt, setzen sich die Trümmer zusammen, während die Dunkelheit erneut aufsteigt. Gris legt alle Kraft in ihre Stimme, selbst als sich der Schatten schon um ihr Gesicht legt. Mit dem letzten Ton ist die Verkörperung ihres Verlustes komplett. Statt marmorgrau ist er nun so bunt wie ihre Welt. Hier findet ein Bezug zur titelgebenden Farbe statt, das Grau hat sich wie durch ein Prisma in alle Regenbogenfarben aufgeteilt. Mit einem letzten Kuss lässt sie das steinerne Monument ihrer Trauer hinter sich und macht sich zu den Sternen auf. Und ich weine heilsame Tränen mit ihr.
*Alle Zwischenüberschriften sind den Titeln des Soundtracks entnommen und übersetzt
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Die Naturwissenschaftlerin von WLTW. Sie recherchiert alles, was im Entferntesten nach Informationen riecht. Weil ihre Kreativität im Studium zu kurz kommt, hat sie Indie Games für sich entdeckt, am liebsten Point-and-Clicks. Aber im Prinzip kann man sie für alle Puzzler, RPGs oder Lebenssimulationen begeistern.