Forgotten Fields Review | Früher war alles unbekannt

Forgotten Fields zelebriert den Genuss des Augenblicks. Zwischen nostalgischer Fotografie, Inspiration und rohen Momenten.

Das erste Mal ist immer wahnsinnig aufregend. Ohne Stützräder Fahrradfahren. Das erst mal Kakao trinken. Die ersten Töne deiner Lieblingsband entdecken. Auf ihr erstes Konzert hinfiebern. Der erste Urlaub allein mit deinen Freund_innen. Das erste Mal allein mit dem Auto unterwegs, den Fahrtwind genießen. Es ist das Unbekannte, das den Moment so reizvoll und unglaublich einzigartig erscheinen lässt. Was haben meine Fingerspitzen gekribbelt, als ich meine ersten Reviews für Musikmagazine verfassen durfte, die es tatsächlich auch am Bahnhofskiosk zu kaufen gab.

Und natürlich war es ebenfalls meine Wenigkeit, die als erste genau dorthin rannte, um nach ihrem Namen im Magazin zu blättern. Das erste Interview, die erste Feature Story, die erste eigene fiktive Geschichte. Das alles war so aufregend, dass ich nicht mal im Ansatz an das dachte, was mit den Jahren unweigerlich hinzukam, die Routine. Ich fand keinen Anfang mehr, Emotionen blieben aus, jeder Text fühlte sich gleich an, auch wenn meine Artikel und Geschichten immer weiter an Reichweite und positivem Feedback gewannen. Routine killt Leidenschaft.

Zu bemüht, zu beliebig, zu belanglos

Auch Sid findet keinen Einstieg. Das Gefühl scheint verloren, die Leichtigkeit vergangener Tage verschwunden. Dabei muss er bis heute Nacht den groben Rahmen der nächsten Geschichte abgesteckt, formuliert und eingesendet haben, um den so dringend benötigten Vorschuss kassieren zu können. Bei seinem ersten Roman war doch alles so einfach. Er schrieb sich wie von selbst. Und jetzt? Bruchstücke, Reproduktion, kein roter Faden, kein handfestes Thema. So wird das nichts. Er sieht die Welt, die Protagonistin und ihre Eigenschaften vor sich, nur etwas Sinnvolles damit anzufangen weiß er nicht. Eine seit langer Zeit währende Blockade. Hinzu kommt die Angst, dass sie sich niemals mehr auflösen könnte. Was dann? Doch die Einladung seiner Mutter zur anstehenden Abschiedsparty des verkauften Elternhauses – des Hauses seiner Kindheit – kommt seiner eigentlichen Tagesplanung in die Quere. Kommt der nahenden Deadline in die Quere.

Deadlines, genau die treiben mich oft an, können aber auch wahnsinnig erdrückend wirken. Gerade wenn dein Lebensunterhalt von deiner Kreativität abhängig ist. Du verfällst in Muster, die du so früher von dir nicht kanntest, die aber den Prozess des Schreibens eventuell beschleunigen können. Doch sind es wirklich Blockaden oder bloß fehlende Inspiration, die bei der stupiden Schreibtischsitzerei zwangsweise einkehrt. Je mehr Sid mit Freund_innen und Bekannten spricht und die Welt auf sich wirken lässt, desto mehr Ideen kommen ihm für seinen Roman. Forgotten Fields lässt dich nicht nur eine Schreibblockade nachfühlen. Das Narrative begibt sich auf die Suche nach Inspiration und verbindet Sids kreativen Prozess des Schreibens als Subebene mit der eigentlichen Erfahrung. Es sind Erinnerungen, nostalgische Gefühle und vergangene Erlebnisse, die Sid mit Menschen teilt. Es sind Dialoge, die Perspektiven austauschen und die Sicht auf den Moment verdichten.

Meister der Fotografie

Immer wieder wechselt Forgotten Fields aus dem Präsens in die Entstehung der fiktiven Erzählung. Springt in die noch rohe Welt des Buches. Verknüpft gewonnene Erkenntnisse mit der sich ausbildenden Geschichte und der Protagonistin. Du erlebst die Entwicklung beider Welten, die eng miteinander verknüpft sind und zum Ende zusammenfinden. Es ist vor allem das Schwelgen in der Vergangenheit, das den Autor hier in fruchtende Denkprozesse bringt. Es sind jedoch die aktuellen Erlebnisse, die Einfluss auf das Buch innerhalb der Geschichte besitzen. Developer Armaan Sandhu zelebriert den Augenblick. Forgotten Fields baut auf Erinnerungen und Nostalgie, weiß aber um den Zauber des Moments und der Veränderung im Leben. Ein Genuss, der durch perfekt inszenierte Fotografie weitergedacht wird. Immer wenn sich das Narrative verselbstständigt, Fahrten mit dem Auto in unglaublicher Schönheit aneinanderreiht, immer dann ist Frostwood Interactives Werk, geschöpft aus geringer Polygondichte, am besten. Nah dran am Sehnsuchtsgefühl eines immerwährenden Roadtrips.

Micamics Klänge füllen die Membrane der Autoboxen, die untergehende Sonne färbt die Szenerie in ein fast schon zu romantisches, warmes Licht. Sandhu beweist abermals sein ausgeprägtes Gespür für feine Atmosphäre gepaart mit ausdrucksstarken Bildern. Doch bei all seiner Stärke, die Forgotten Fields in seinen inszenierten Bildern auszuspielen weiß, die es in der Cleverness der Verknüpfung beider Ebenen zeigt, so sehr verspielt es sein Talent in der eigentlichen Interaktivität. Immer dann, wenn du tatsächlich eingreifen musst, ergreifen technische Schwächen das Ruder des Geschichtenschreibers. Und die erzählen vom Hängenbleiben am Inventar des Hauses, von unreifen Größenverhältnissen, von mäßig integrierten Quick Time Events, vom Verschwinden in der Levelstruktur und von so gar nicht funktionierenden Ego-Perspektiven, wie der beim Schwimmen im Meer. Und des Öfteren wird es dann zunehmend ruhig, weil der eigentliche Ablauf des Spiels mit diesen Problemen nicht rechnet. Die musikalische Untermalung verstummt, Schritte und Handlungen sind spärlich oder gar nicht vertont.  

Lass dich nicht aus der Ruhe bringen, der nächste wundervolle Moment in Forgotten Fields kommt bestimmt

Während holprige Animationen und verschwindende Hauswände durchaus charmant erscheinen, sind es leider die oben genannten Augenblicke, die den vollen Genuss auf den Moment, die Zelebrierung des Jetzt, immer wieder unter der Last der technischen Schwächen ersticken lassen. So brauchst du in manch interaktiver Szene starke Kauleisten, damit sich der Frust nicht in abgeriebenem Zahnschmelz äußert. Zugegeben, ich habe Forgotten Fields bereits zwei Wochen vor der eigentlichen Veröffentlichung gespielt. Derzeit arbeitet Armaan Sandhu mit Hochdruck an den größten Schwächen des Spiels, sodass zum Release das ärgste hoffentlich ausgeglichen sein wird. Das mitgelieferte Issues-Dokument bestätigt den hohen Arbeitsaufwand. Forgotten Fields ist bei weitem nicht unspielbar. Im Gegenteil, die wundervollen Momente überwiegen. Es sind nahbare, nachvollziehbare Momente und Dialoge, die die Erzählung so wertvoll machen.

Was Frostwood Interactive fehlt, ist ein talentierter Sound-Design Mensch, der nach dem polieren der technischen Unebenheiten den Szenen ihre Würdigung gibt, die Micamic nicht mit Musik füllen kann. Der die Szenen des Lebens mit eben diesem füllt, Leben. Was der Entwicklung vermutlich in die Quere kam, eine Deadline. Die benutzten beliebigen Soundfiles werden der eigentlichen Stärke von Forgotten Fields bei weitem nicht gerecht. Dabei ist die Aussage des Loslassens, der Mut zur Veränderung, zu etwas Neuem, hinter dem eben genau die fehlende Inspiration stecken kann, eine Wichtige. Es braucht momentan vielleicht noch ein dickes Fell und vor allem Geduld, um diese ärgerlichen Momente im etwas zu roh scheinenden Status zu überstehen. Die wirklich exzellente Inszenierung, die beachtliche Verknüpfung beider Ebenen und die Selbstfindung innerhalb der Dialoge werden dir das Durchhaltevermögen jedoch danken. Der bewusste Genuss des Moments killt die Routine.

7/10  🌅 📖

Developer: Frostwood Interactive
Publisher: Dino Digital
Genre: Narative
Team: Armaan Sandhu
Musik: Micamic
Veröffentlichung: 14. April 2021 (Steam,GOG)

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Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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