Die Entwickler Chris Nordgren und Jordi Roca haben mit Everhood ein Rhythmusspiel geschaffen, das in Erinnerung bleiben wird.
Tief Luft holen. Zurücklehnen. Ausatmen. Gamepad weglegen. Ich bin fertig. Physisch und psychisch. Mein Schreibtischstuhl riecht nach Schweiß, die Katzen haben Flucht vor meinen Achseln genommen. Ich habe gerade das nervenaufreibende Finale von Everhood nach mehreren Versuchen gepackt, mich durch Lichteffekte und Soundtrack in einen Rausch gespielt und meinen Fokus nicht vom Bildschirm lösen können. Die letzten Dialogfelder huschen über den Bildschirm, während ich alle Charaktere ein letztes Mal sehe, die mir in dieser skurrilen Welt immer und immer wieder über den Weg gelaufen sind. Ich kann nicht sagen, was ich denken soll, was ich fühlen soll. Ich weiß nur, dass ich beeindruckt bin. Mitgenommen. Nachdenklich. Was kann ich aus Everhood für mich mitnehmen? Was hat dieses Spiel mit mir gemacht? Was ist dieser Wirrwarr an Eindrücken, der jetzt, wo ich mich endlich wieder entspannen kann, über mich einbricht? Und vor allem: Wie kann ich das in Worte fassen?
Am Anfang war ein Arm
Zu Beginn werde ich als Marionette namens Red in einem verlassenen Waldstück wach, nur um zu erleben, wie mein Arm von einem blauen Zwerg gestohlen wird. Mehr Motivation braucht es nicht, um mich auf den Weg zu machen. Ich will dieses hölzerne Stück Gliedmaße wieder. Doch so leicht wird die Sache nicht. Der Boss des Diebes macht kurzen Prozess mit mir und nur durch das Immortal Realm, in dem ich mich befinde, überstehe ich diesen Angriff. Ich kann nicht sterben. Also muss ich mich durch die unterschiedlichen Abschnitte des Realms schlagen, um Spuren für meinen Arm zu finden. Unzählige skurrile Charaktere kreuzen dabei meinen Weg und wollen mich entweder aufhalten oder fordern mich einfach aus Spaß an der Freude heraus. Diese Kämpfe ähneln allerdings kaum einer Auseinandersetzung, die ich bisher in einem Videospiel gesehen habe.
Es erinnert mich an die Spieloberfläche eines klassischen Guitar Heroes. Fünf vertikale Linien, auf denen nach und nach Noten auftauchen, liegen vor mir. Im Rhythmus kommen nun Noten auf mich zu, die ich allerdings nicht wie im Vorbild treffen muss. Gekonntes Ausweichen ist hier die Devise. Ein schneller Schritt zur Seite oder ein kleiner Hüpfer über die Noten, sofern sie keine Wand auf sich tragen. Erwischt mich ein Sound, verliere ich ein bisschen Energie, die sich jedoch glücklicherweise schnell regeneriert, wenn keine weiteren Treffer folgen. Sind die Muster der Kämpfe zu Beginn noch schnell zu durchschauen, kann ich mir später nicht mehr erklären, wie ich diese wahnsinnigen Kombinationen schadlos überstehe. Ich reagiere nur noch, höre auf die Musik, achte auf die Lichter und habe den Denkapparat ausgeschaltet. Ich werde eins mit meiner Marionette, bis meine Widersacher vor Erschöpfung aufgeben und meine starken Moves loben.
Zauberhafte Abwechslung
In Everhood werden Konflikte also mit Dance Battles ausgetragen. Chris Nordgren und Jordi Roca haben dementsprechend eine riesige Zahl unterschiedlicher Komponist_innen zusammengetragen, die musikalisch unterschiedliche Genres abdecken und in jeglicher Hinsicht aus den Vollen schöpfen. Und trotzdem wird noch eine riesige Ladung Abwechslung ins Spiel gepackt, damit ich der Kämpfe bloß nicht überdrüssig werde. So sind einige Auseinandersetzung mit starken Lichteffekten und psychedelischen Schwingungen garniert, die mich tatsächlich seekrank haben werden lassen. Das Flackern und die abgefahrenen Bewegungen können in Accessibility-Options jedoch auch abgeschaltet werden. An anderer Stelle fahre ich ein Kart-Rennen oder spiele Tennis auf einer Retro-Konsole. Alles natürlich dem Beat des Soundtracks entsprechend. Hinter jeder dritten Ecke habe ich einen Moment erlebt, der mich laut hat auflachen lassen, weil er entweder wirklich witzig geschrieben oder unfassbar kreativ war. Charaktere wie der Ritter Sir Lost-A-Lot oder der niesende Vampir Nosferatchu wissen eben zu unterhalten.
Besonders gefallen hat mir die Pen and Paper-Runde, in die ich plötzlich gestoßen bin. In einem Dörfchen treffe ich auf alle mir bereits bekannten Charaktere, die nur darauf gewartet haben, mich mitspielen zu lassen. So werde ich in eine Fantasy-Welt gezogen. Außerdem besitze ich das mächtige „Sword to deflect red Attacks”, welches mich rote Beats auf die Gegner zurückschlagen lässt. Ein fieser Zauberer terrorisiert ein hilfloses Dorf aus seinem großen Turm und ich darf mich durch klassische Fantasywelten schlagen, die teilweise nur Pixelbrei sind, weil sich die Runde am Tisch etwas Neues gewünscht hat, was der Dungeon Master nicht vernünftig vorbereiten konnte. Wer kennt solche Situationen nicht? Everhood lässt mich ein Teil seiner Welt werden und zeigt mir seine Bewohner_innen in unterschiedlichsten Situationen, so dass aus Feinden Freunde werden können. Ich mag diese skurrilen Figuren. Umso schwerer war die Entwicklung der Geschichte zu verdauen, die mich vieles hat hinterfragen lassen.
Die Suche nach der Wahrheit
Je näher ich meinem Arm komme, umso mehr “absolute Wahrheiten” entdecke ich auch. Schwammige Aussagen, bei denen eine mystische Stimme mir sagt, ich solle selbst entscheiden, was ich damit anfangen möchte. Absolute Wahrheit ist ein trügerischer Begriff. Aus der Wissenschaft weiß ich, dass es so etwas nicht gibt. Jede Wahrheit ist immer nur vorläufig und wird ständig überprüft. Was anfangs wahrhaftig erschien, kann mit besserem Kenntnisstand völlig anders aussehen. Was genau tue ich hier eigentlich? Suche ich nur meinen Arm? Und was genau passiert, wenn ich ihn habe? Vielleicht wissen die Charaktere mehr, als ich erahnen könnte. Immer wiederkehrende Aussagen auf einer Meta-Ebene über das Spiel und die Welt selbst könnten ein kleiner Spaß der Entwickler sein. Vielleicht ist es aber auch ein Hinweis darauf, dass ich selbst mehr in Betracht ziehen müsste als die digitale Umgebung selbst.
Everhood gibt mir keine klare Antwort und ich hinterfrage mich. Muss ich wirklich so handeln, wie ich es tue? Gibt es eine Möglichkeit, mich zu widersetzen? Folge ich weiter meiner Aufgabe, wenn selbst die Savepoints oder die kleine Hand zum Auswählen der Dialogoptionen mir davon abraten? Ich weiß es nicht. Selbst mein Versuch, mich einfach zu beruhigen, dass es doch nur ein Spiel ist, hilft nicht. Ja, vielleicht spielt Everhood gerade mehr mit mir als ich mit ihm. Natürlich passiert nichts Schlimmes, wenn ich weiter voranschreite wie bisher. Aber trotzdem fühle ich mich ratlos. Ein Twist zur Spielhälfte reicht aus, das vorher undefinierbare Gefühl in stetiges Zweifeln zu verwandeln. Und trotzdem empfinde ich eine ungehindert perfide Freude, selbst die kniffligsten Rhythmus-Herausforderungen zu meistern und Achievements abzustauben, wenn ich sie ohne einen einzigen Treffer überstehe. Ich weiß einfach weder ein noch aus und muss, nein, möchte trotzdem weiter und mehr herausfinden.
Alles kommt so bekannt vor
Es gab ein Spiel, das ähnliche Gefühle in mir hervorrufen konnte. Undertale von Toby Fox hat mein Verständnis von klassischen Rollenspielen während des Spielens komplett auf den Kopf gestellt und mich ähnlich hilflos fühlen lassen. Das Spiel hat mich ausgetrickst, jede Entscheidung hinterließ Spuren, selbst wenn ich meinen Spielstand neu geladen habe. Everhood orientiert sich bereits an der Optik und gestaltet seine Welt und Figuren in ähnlichem Design. Sie machen ähnliche Geräusche in den Gesprächen und scheinen sich bewusst zu sein, dass jemand über einen Bildschirm auf sie schaut. Zu Beginn dachte ich noch, dass Everhood damit höchstens ein gut gemachter Abklatsch sei. Eine schöne Idee, die aber nicht ganz an die Wucht des Vorbildes kommt. Doch ich muss mich eines Besseren belehren.
Everhood ist für Rhythmusspiele das, was Undertale für Rollenspiele war. Die optischen und erzählerischen Anleihen mögen ohne das Spiel von Toby Fox vielleicht nie entstanden sein, doch stehen dem Titel in nichts nach. Selbst Tage, nachdem die Credits liefen und Stunden, nachdem ich den Artikel mit der Frage einleitete, was dieses Spiel mit mir gemacht hat, weiß ich keine konkrete Antwort. Aber die brauche ich auch nicht. Wenn ich etwas aus Everhood mitnehme, dann wahrscheinlich die Erkenntnis, dass absolute Gewissheit, eine einzige Wahrheit, wohl nicht erreichbar ist. Ich kann mich nur immer weiter einem Standpunkt annähern, der sich bewährt. Und bis dahin bleibt mir nichts anderes übrig, als die Erfahrungen wirken zu lassen und stetig zu überdenken. Dass Everhood diesen Prozess anstößt und weiterlaufen lässt, ist beeindruckend und dafür bin ich äußerst dankbar!
10/10 🎭
Developer: Chris Nordgren, Jordi Roca
Publisher: Foreign Gnomes
Genre: Rhythmus-Adventure
Musik: Cazok, Lewmoth, The Dancefloor is Lava, Gunnar Olse, ROZKOL, OurMusicBox, Chris Nordgren
Veröffentlichung: 4. März 2021 (Steam, Switch)
Die Couchkartoffel von WTLW. Sein Seelentier ist definitiv ein Relaxo! Am liebsten hockt er zu Hause und spielt Videospiele. Seine Nase steckt er dabei in alles mögliche, wagt sich an jedes Genre und hat schon diverse Horrorspiele abgebrochen, weil er nicht der Idiot sein wollte, der jetzt die Treppe herunter zum gruseligen Geräusch geht.