Twin Mirror Review | Gedankenversunken

DONTNOD finden in Twin Mirror erneut eine herausragende Erzählweise und vorzügliche Bilder, um psychische Gesundheit ins rechte Licht zu rücken.

DONTNOD Entertainment gelten seit Life is Strange als Meister des Geschichtenerzählens. Doch ungefähr genauso lange verfestigt sich in Social Media Bubbles und Rezensionen immer wieder die Ansicht, dass sie ebenfalls nie wieder so gut gewesen sind. Das unabhängige Entwicklerstudio mit Hauptsitz in Paris, Frankreich legt sein Hauptaugenmerk jedoch immer wieder auf gesellschaftlich relevante und vor allem diverse Geschichten. Der Fokus liegt dabei ganz deutlich auf Charakterentwicklungen, Beziehungsebenen, der detaillierten Auszeichnung von Erlebnissen und dessen Wirkung. Zumeist sind es ziemlich deutliche Charterstudien, die beliebige Plots nutzen, um zu funktionieren. Dass im Videospielbereich dann vor allem die Erzählung um die Teenager an der Kunstschule breiteren Zuspruch erfährt, als die über den knapp 40 Jährigen, der in seinen Heimatort zurückkehrt, mag da wenig überraschend sein.

Schauen wir genauer auf die Aussagen, ist es den Menschen aber eigentlich egal, was auch immer DONTNOD noch so wichtiges zu erzählen oder zu transportieren haben, sie wollen lediglich Max und Chloe zurück. Sie wollen zwei Charaktere in ihrem Umfeld behalten und mehr Geschichten mit ihnen sehen. Weitere Erzählungen interessieren sie nicht, auch wenn sie durchaus Relevanz besitzen. Das ist zwar berechtigt, wenn dir die Personen ans Herz gewachsen sind, wird aber dem weiteren Schaffen von DONTNOD in keiner Weise gerecht. Es verhindert sogar eine offene Herangehensweise an Folgeprojekte. Von Remember Me! über Vampyr, Life is Strange 2 bis hin zu Tell me Why und Twin Mirror steht das französische Developer Studio für herausragende Charakterzeichnungen und gesellschaftlich relevante Themen, für Repräsentation – auch innerhalb der Gamingbranche – dem Aufzeigen von Missständen und dessen Auswirkungen auf Lebensumstände.

Manchmal darf es auch ein Sam sein

Ob der kritische Blick auf Technologie, Verlust und Beziehung, Rassismus, Transsexualität oder gar moralisches Handeln. Immer wieder werden Themen der psychischen Gesundheit mit der eigentlichen Erzählung verbunden. Verpackt in ziemlich clever entworfenen Welten, dienen diese vor allem nur einem Zweck, dem Transport des zu vermittelnden Themas. Und nun werden diese Stimmen wieder laut. Twin Mirror sei nicht innovativ, ein mäßiger Detektivkrimi, viel zu überhastet, zu matschig, der Protagonist unsympathisch und überhaupt, mal wieder nicht so genial wie Life is Strange. Ja, das mag aus bestimmten, vor allem gefilterten Blickwinkeln eventuell alles stimmen, ignoriert jedoch erstens wieder einmal das Gesamtbild und zweitens, dass Twin Mirror all das gar nicht sein will, gar nicht sein muss! Weil die eigentliche Auszeichnung des Protagonisten mit seinen komplexen Beziehungsebenen, mit samt seiner charakterlichen Eigenheiten und den Problemen die Mentale Gesundheit betreffend in den Blickpunkt rücken. Weil vor allem seine Entwicklung im Vordergrund steht.

Die Ereignisse und sein Tun in Basswood sind die Stationen, die er dazu braucht, um als Persönlichkeit zu wachsen. Huch, schon wieder so ein Merkmal, das alle DONTNOD Games gemein haben. Nun aber endlich an den Ausgangspunkt der Twin Mirror Geschichte.
Eigentlich hatte der ehemalige Investigativ-Journalist Sam Higgs mit seiner Heimatstadt abgeschlossen. Einst Hals über Kopf aus der amerikanischen Kleinstadt Basswood geflüchtet, kehrt er nun zurück, um sich von seinem plötzlich verstorbenen ehemaligen besten Freund zu verabschieden. Ihm die letzte Ehre zu erweisen. Zwei Jahre war er nicht mehr hier. Doch nun, da Konfrontationen und das Erwecken von Erinnerungen warten, wird der sonst so strukturierte kühle Sam wieder einmal nervös, gerät in Panik und geht jede noch so kleine Möglichkeit gedanklich durch, die zu seiner Rückkehr eventuell geschehen könnte.

Twin Mirrors Zwiespalt

Doch nicht nur die Konfrontationen mit der Stadt, mit seinen ehemaligen Arbeitskolleg_innen, Freund_innen und Bewohner_innen warten auf ihn, auch sein Drang nach Informationen, nach Aufklärung der Todesumstände seines Freundes, lassen ihn länger in der Stadt verweilen als es ihm eigentlich lieb ist.
In Twin Mirror tauchst du tief in die Gedankenwelt von Sam ein. Gemeinsam reist ihr zurück in die Stadt, die in seinem Kopf so schlechte Assoziationsketten hervorruft. Immer wieder geht er gedanklich Momente und Erinnerungen durch, wägt ab wie er bekannten Menschen gegenübertritt, wie er sich verhält. Denn zwei Seiten schlummern in ihm. Die eine analytisch, kühl auf Fakten basierend, die andere immer darum bemüht einfühlsamer und herzlicher mit Menschen umzugehen. Letztere hat Sam, der mit Depressionen, Panikattacken und einer generalisierten Angststörung zu kämpfen hat, zunehmend außeracht gelassen.

Es ist aber genau diese Seite, die ihn gerade in der jetzigen Situation immer wieder dazu auffordert, die Dinge anders anzugehen als damals. Zuzuhören, Probleme unter seinen Mitmenschen wahrzunehmen, seinem Bauchgefühl mehr Raum zu geben und nicht immer anhand der kühlen Faktenlage zu entscheiden. Es sind ebenfalls Auswirkungen, die in seine Denkhandlungen mit einbezogen werden sollten. Empathie ist es, die ihm durch all das Erlebte zunehmend abhandengekommen ist. Doch wem kann Sam in dieser Stadt eigentlich noch vertrauen, wenn sie alle in irgendeiner Weise ihn verletzt oder enttäuscht haben. Und sicher hat auch er durch seine endgültige und fluchtartige Entscheidung, die Stadt zu verlassen und jegliche Kontakte abzubrechen dazu beigetragen, die Beziehungsebenen nicht gerade zu verbessern. Wie kann er entscheiden, wenn er nicht mal mehr weiß welcher Stimme er in seinem Kopf überhaupt zuhören soll?

Wenn Hände, Augen und Ohren gleichermaßen Aufmerksamkeit erhalten

DONTNOD wählen für Sams kühle, analytische Seite, die ihm vor allem Erfolge als Investigativ-Journalist eingebracht hat, eine sehr visuelle Art, Ereignisse und Fakten in Ruhe zu betrachten und zusammenzufügen. Twin Mirrors Protagonist zieht sich genau dann in seinen Gedankenpalast zurück, in dem all die Einflüsse der Welt ausgesperrt und nur das isoliert betrachtet werden kann, was gerade gebraucht wird. So kann er gefundene Hinweise immer wieder in Ruhe betrachten, abwägen und am Ende zu der einzig möglichen Variante zusammenfügen. Aber auch Erinnerungen finden hier ihre losgelöste Beachtung, die er dann immer mal wieder auch mit seiner zweiten Hälfte bespricht. Diese ist in Form eines gestriegelten Abbildes seiner Selbst im Spiel verankert. Zunehmend schaltet sich sein imaginäres Ich auch in aktuelle Situationen ein, während das tatsächliche Geschehen pausiert wird. Genau dann kann er um Rat bitten oder das Vorgehen in der aktuellen Situation noch einmal Erörtern.

Twin Mirror findet eine hervorragende Art, die es schafft die Probleme von Menschen mit Depressionen und Ängsten zu visualisieren. Wenn Sam sich von seiner Welt völlig abkapselt und nur noch in seinem Gedankenpalast alle Möglichkeiten abwägt, um wirklich auch die beste Lösung für alle Eventualitäten zu finden, fühle ich mich gesehen. Ein Prozess des Überdenkens, der am Ende eher belastet als hilft und somit auch oft in nicht beherrschbaren Panikattacken mündet. Auch hier besitzen DONTNOD audiovisuelle Möglichkeiten, etwaige Emotionen zu transportieren. Denn in solchen Situationen flüchtet Sam z.B. vor einem nicht greifbaren Verfolger in einem dunklem Tunnel. Um die Szenerie verlassen zu können, muss er entsprechende Türen, die Worte des Hineinsteigerns tragen, vermeiden und solche finden, die beruhigen. Verstärkt wird das ganze nicht nur durch das exzellente Sounddesign, sondern auch durch das haptische Feedback, das deinen Controller angepasst an die Schritte immer wieder links und rechts abwechselnd vibrieren lässt.

Nicht Twin Mirror ist hastig, du bist es!

Ich selber bin aufgrund vergangener Ereignisse und Erlebnisse nicht nur einmal, sondern gleich drei Mal aus Städten geflüchtet, mit denen ich schlechte Erfahrungen und Emotionen verbinde. Das Gefühl, wenn es heißt in eine dieser Städte aus irgendeinem Grund zurückzukehren, sich mit all dem was sich angestaut, aber verschüttet werden konnte, erneut auseinandersetzen zu müssen, ist nahezu unbeschreiblich. Doch in Twin Mirror wurde dafür eine authentische Art gefunden, genau das zu veranschaulichen und zu transportieren. Wenn Sam nur schleppend in der phantastisch gestalteten Welt voranschreitet, immer wieder Ereignisse überdenkt, Treffen analysiert, die Erfahrungen von Menschen notiert und sich erneut ansieht, dann fühlt sich das wahnsinnig echt an. Die verschleierte Sicht, die die Hintergründe zunehmend verschwimmen und nur weniges scharf werden lässt. Das, was Menschen als matschig  bezeichnen, ist genau die Sicht, die du auf die Dinge hast, wenn du dermaßen von Gedankenwolken überlagert wirst.

Und genau dann ergibt auch die Aufklärungsarbeit Sams, anhand der mysteriösen Ereignisse in Basswood Sinn. Ein Investigativ-Journalist, der anhand dessen, was er liebt zu tun, Konfrontationen eingehen muss und dadurch in seiner Persönlichkeit wächst. Und natürlich werden dann genau die Stationen abgearbeitet, die es für sein persönliches Wachsen braucht, und nicht alle, die es braucht um die Umstände der Vorfälle in der Kleinstadt in all seinen Einzelheiten zusammenzufügen. Das ist zudem sowieso deine Aufgabe. Wenn du dich in DONTNODs Adventures nicht auf das einlassen willst, was dir deine Umwelt erzählt, in Twin Mirrors Fall also all die Einträge zu den Personen und Erinnerungen, all die Akten und Briefe nicht lesen willst und an Bildern und Gegenständen vorbeiwatschelst, genau dann verpasst du in diesen speziellen Welten eine Menge und genau dann fühlt sich die Investigativgeschichte auch zu hastig erzählt an. Aber eben nur dann.

Nötige Repräsentation

Twin Mirror erfordert Einsatz. DONTNOD beherrschen noch viel mehr als andere die Kunst, der Umwelt das Geschichtenerzählen zu beauftragen. Noch mehr heißt es hier nicht nur Show don’t Tell sondern eben auch Read don’t Tell. Denn Videospiele besitzen diese einzigartige Fähigkeit, dich in Welten eintauchen zu lassen. Warum bitte sind dann Developer dafür verantwortlich, wenn du keinen Bock darauf hast deren Welten in all ihren Details zu entdecken? Twin Mirror ist einer der seltenen Fälle, in denen du in eine Charakterstudie eintauchen kannst, die entlang einer Investigativgeschichte erzählt wird. Eben genau in dieser Reihenfolge. Die Entwickler_innen orientieren sich damit wieder einmal eher an filmischen Elementen, aber geben dir massig Material an die Hand, um darin zu versinken. Und genau das ist deine Aufgabe in Twin Mirror. Ob Sam als Person wächst, sich am Ende weiterhin komplett abschottet und in seinem Gedankenpalast versinkt oder einen Mittelweg findet, liegt in deinem Entscheidungsweg.

Es geht um die Person selbst, um seine Beziehungsebenen und ob er sich der Aufgabe der plötzlichen Konfrontation gewachsen sieht oder daran komplett zu Grunde geht. DONTNOD stehen wieder einmal für Themen ein, die in der Gesellschaft gerne gemieden werden, nur als sonderbar oder krankhaft erscheinen. Sie geben eine Plattform für Menschen, die sich mit diesen Themen identifizieren können und in der Folge sich damit nicht alleingelassen fühlen. Sie geben nicht nur mir mit ihren Werken in diesem Jahr zum zweiten Mal Sichtbarkeit, sondern erreichen erneut gesellschaftliche Relevanz. Und dazu machen sie das wieder einmal so eindringlich, so visuell herausragend und so tiefgehend, dass ich noch mehr als ohnehin schon keine dieser Geschichten missen möchte. Denn DONTNOD helfen mir mit ihrer Diversität der Geschichtenerzählung ebenfalls als Person zu wachsen. Und dafür ist die fast 40 jährige Person mit all seinen Eigenheiten und Problemen eben in manchen Fällen der passendere Spiegel.

9/10 🤯

Developer/Publisher: DONTNOD Entertainment
Genre: Narrative, Adventure, Psycho-Thriller
Veröffentlichung: 1. Dezember 2020 (Epic Games Store, PS4, Xbox One)

Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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