Visage Review | Willkommen im Geisterhaus

Knarzende Balken, polternde Schritte und gruselige Begegnungen erwarten uns in Visage, dem Horrorspiel des SadSquare Studios.

Leerstehende Häuser allein reichen schon aus, um uns zu gruseln. Selbst Spiele wie Gone Home, die alles andere als ein Horrorspiel sind, erzeugen leichte Gänsehaut und dezentes Unwohlsein, weil diese Räume, die uns deutlich zeigen, dass hier Menschen leben, plötzlich gänzlich verlassen sind. Welch erdrückende Wirkung so eine verlassene Wohnung haben kann hat uns Hideo Kojima 2014 mit seinem Playable Teaser zu einem neuen Silent Hill, kurz P.T., deutlich vor Augen geführt. In diesem sich ständig wiederholenden Flur habe ich es keine halbe Stunde ausgehalten und mir diese Geisterbahnfahrt der Gefühle lieber als Video angeschaut. Das Team der SadSquare Studios war wie so viele auch sehr betroffen, als Silent Hills gecancelt und P.T. aus allen Stores entfernt wurde. Nur haben sie sich dazu entschieden, einfach selbst ein Spiel in diesem Stil zu entwickeln.

Die schaurigen vier Wände

Durch die Augen von Dwayne startet ihr in einem Haus, in dem schreckliche Sachen passiert zu sein scheinen. Niemand ist mehr hier, ihr müsst nach Hinweisen suchen. Ob die Hinrichtung einer Familie aus dem Intro auch in diesen Räumen stattfand, ist ungewiss. Relativ ziellos lauft ihr langsam von Tür zu Tür, öffnet Schränke und Schubladen, während immer wieder gerade geöffnete Durchgänge ins Schloss fallen, etwas umfällt oder ihr Poltern und Knarzen über euch hört. Sofort setzt ein starkes Unwohlsein ein, der Herzschlag geht in die Höhe und Dwaynes Blick wird von euch hektisch hin und her gesteuert. Visage umwickelt euch in Windeseile und lässt euch mit diesem Gefühl unbestimmter Angst und Nervosität nicht mehr alleine. Dabei ist noch gar nichts passiert. Alles, was ihr wahrnehmt, könnte sich bestimmt einfach erklären lassen. Doch trotzdem erwartet ihr ständig, dass etwas geschieht. Irgendwann geht der Horror doch richtig los, oder?

Doch das dauert. Visage lässt sich Zeit. Im Haus sind Gegenstände zu finden, die jeweils eines von vier Kapiteln starten. Diese Kapitel erzählen die Geschichten der Menschen aus diesem Haus. Das heißt doch, dass es jetzt  abgeht, oder? Jetzt begegnet ihr ihren Geistern, die Jumpscares werden euch um die Ohren geworfen, oder? Fehlanzeige. Die unheimlichen Momente nehmen zu, aber es bleibt trotzdem alles dezent hintergründig. So lange, bis ihr euch sicher fühlt, dass Visage euch nur an der Nase herumführen will. Und dann steht plötzlich ein kleines Mädchen mit langen Haaren am Ende des Flures, starrt euch an und schlurft langsam auf euch zu. Oder ihr geht um eine Ecke und seht plötzlich eine Frau im Nachthemd regungslos in einem Türrahmen stehen. Das ist der Moment, in dem ihr wirkliche Angst bekommt. Der Moment, an dem der langsame und kräftezehrende Aufbau des Spiels euch wirklich in der Magengegend trifft.

Ewige Suche in Visage

Ich würde euch gerne mehr erzählen, was sich hinter diesen Erscheinungen verbirgt, was genau in diesem Haus passiert ist. Doch Visage bleibt die gesamte Spieldauer über kryptisch. Das ist auch so gewollt. Das SadSquare Studio will euch knobeln lassen. Wenn ihr am Ende nur Fragezeichen über dem Kopf habt, sind euch vielleicht in der Panik Hinweise durch die Lappen gegangen oder ihr habt möglicherweise nicht richtig aufgepasst. Das ist aber nicht schlimm. Visage ist ein Albtraumszenario und die ergeben nicht immer den Sinn, den ihr euch wünscht. In der Early Access Phase gab es sogar noch deutlich weniger Hinweise. Die durch Kapitel vorgegebenen Pfade kamen erst später ins Spiel, nachdem die völlige Erkundungsfreiheit zu überwältigend gewirkt hat. Ganz abgeschaltet werden konnte das trotzdem nicht. Manche Abschnitte sind so verwinkelt und sparsam mit ihren Hinweisen, dass ihr lange durch das Haus irrt, bevor ihr die richtigen Punkte zur Interaktion findet.

Während eines der Kapitel noch sehr geradlinig in den bekannten vier Wänden bleibt, ziehen euch die anderen in verzerrte Varianten oder in verlassene Krankenhäuser, die sich dabei so ähnlich sehen, dass die Orientierung gerne mal flöten geht. Wenn dann auch noch die gruseligen Gestalten anfangen, die Jagd auf euch zu eröffnen und ihr nur noch weglaufen könnt, dann steigt schnell der Frust in die Höhe. Hinzu kommt, dass ihr ständig Feuerzeuge und Kerzen suchen oder kaputte Glühbirnen austauschen müsst, um eure geistige Gesundheit nicht im Dunkeln zu gefährden. Steigert Dwayne sich doch zu sehr in seine Angst, müssen Tabletten geschluckt werden, die überall im Haus herumliegen. Das mag erst mal unreflektiert klingen, wird aber später vom Spiel noch sehr gut aufgegriffen und thematisiert. Trotzdem sind diese Spielmechaniken neben der eh schon nervenzerreißenden Atmosphäre ein großer Stressfaktor, mit dem ihr klarkommen müsst.

Probleme oder Spielerfahrung?

Manche Elemente in Visage wirken unbedacht, zu wenig poliert. Damit sind nicht unbedingt kleinere optische Bugs gemeint. Dass Dwayne nur eine unsichtbare, schwebende Kamera ist, die weder Füße, Körper oder Spiegelbild besitzt, ist vor dem Hintergrund eines kleinen Indie-Teams kein Problem. Dass Gegenstände in eurer Hand durch Wände und Türen gleiten, wenn ihr euch dreht, sei ebenfalls geschenkt. Schwieriger ist die wenig intuitive Handhabung dieser Gegenstände. Steckt ihr sie ins Inventar, wollt ihr sie einfach ablegen oder direkt benutzen? Welchen Gegenstand habt ihr in der linken, welchen in der rechten Hand und wollt ihr das tauschen? Die Möglichkeiten sind da und müssen auch dementsprechend eingesetzt werden, doch bis zum Ende habe ich immer wieder vergessen, wie genau das lief, habe rumprobiert, Fehler gemacht oder mich über die langsame Ausführung aufgeregt. In Visage geht keine Bewegung leicht von der Hand, selbst die Türen wollen manuell langsam mit der Maus aufgezogen werden.

Ich habe immer mal wieder einen Albtraum, in dem ich hinfalle, in der Ferne ein Auto auf mich zukommen sehe und mich nur noch in Zeitlupe bewegen kann. Visage ist genau das, wenn ihr Schränke oder Türen öffnet und euer Inventar managt. Ich hätte die Maus einige Male fast wütend in den Bildschirm gehauen, wenn ich aus solchen Gründen von einem Geist erwischt und zum letzten Speicherpunkt gesetzt wurde. Limitierte Handlungsfähigkeit kann natürlich stimmungsfördernd sein, Visage übertreibt diesen Gedankengang aber völlig. Es trägt nicht zur Stimmung bei, wenn ich für eine Schranktür die Maus zehn Mal von rechts nach links ziehen muss und es somit wirkt, als würde ich gerade einen Banktresor öffnen. Vielmehr bricht es die Immersion völlig. Solltet ihr eine VR-Brille haben, ist das Problem hier wahrscheinlich nicht gegeben. Ich konnte es selbst nicht testen, kann mir aber bestens vorstellen, dass Visage von dieser Spielweise enorm profitieren würde.

Kein Schlaf im Horrorhaus

So negativ möchte ich euch allerdings nicht entlassen. Die letzten Punkte haben mich vor allem deswegen so aufgeregt, weil ich alles andere an Visage so großartig fand. Lichtstimmung und Aufbau des Hauses sind nahezu perfekt, das Sounddesign und das damit einhergehende stetige Gefühl von Bedrohung und Unsicherheit sind selten so allumfassend wie hier. Viele Studios haben versucht, P.T. irgendwie zu imitieren, das SadSquare Studio hat es aber geschafft, sich dieser Erfahrung so gut es geht anzunähern und genug eigene Ideen einzubringen. Von denen funktionieren bei weitem nicht alle für meinen Geschmack, doch trotzdem habe ich lieber ein Spiel mit Ecken und Kanten als eine einfache Kopie von Kojimas Horror-Meilenstein! Sonst hätte ich mir wohl nicht die Nächte um die Ohren geschlagen, um herauszufinden, was Dwayne in diesem Haus sucht und am Ende noch zahlreiche Theorien gelesen, weil ich selbst nix kapiert habe.

8/10 🏠👻

Developer/Publisher: SadSquare Studio
Genre: First Person Survival-Horror
Team: Jonathan Vallières (Level Design); Jonathan Gagné (Programmer); Jonathan Wachoru (Sound Design); Martin McGhee (3D Character Modeler)
Musik: Peter Wicher (Composer)
Auszeichnungen: Nominiert für “Best Horror Game 2018” (Global Game Awards)
Veröffentlichung: 30. Oktober 2020 (Steam, PS4, Xbox One)

Redakteur | + posts

Die Couchkartoffel von WTLW. Sein Seelentier ist definitiv ein Relaxo! Am liebsten hockt er zu Hause und spielt Videospiele. Seine Nase steckt er dabei in alles mögliche, wagt sich an jedes Genre und hat schon diverse Horrorspiele abgebrochen, weil er nicht der Idiot sein wollte, der jetzt die Treppe herunter zum gruseligen Geräusch geht.

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