Röki Review | Das Flüstern im Wald

Auf der Suche nach ihrer Familie kreuzen Protagonistin Tove und die nordische Mythologie in Röki ihre Wege.

Der Tomte ist ein eigenwilliges aber leicht zufriedenzustellendes Wesen. Jeder Hof zwischen den ausladenden Wäldern Skandinaviens auf Wärme spendenden Lichtungen oder am Ufer eines Sees, wird von einem dieser kleinen bärtigen Kerlchen bewohnt. Er beschützt den Hof, die Tiere und die Menschen. Der Tomte ist mit seiner Weisheit, seiner Kraft und seinem Können eine unersetzliche Hilfe für die tägliche Arbeit. Es braucht nur eine abendliche Portion Haferschleim und schon ist dir der nachtaktive, unter dem Haus oder auf dem Heuboden wohnende Wichtel freundlich gesonnen. Tatkräftig und schier niemals energielos hilft er wo Hilfe benötigt wird. Auch wenn er manches Mal über die unergründliche Sterblichkeit des Menschen grübelnd die Zeit vergisst. Er ist ein sorgsames Wesen. Es braucht nur diesen Haferschleim und ein bisschen von deinem uneingeschränkten Glauben an die nicht sichtbare magische Welt des Waldes.

Der Tomte ist nur ein kleiner Teil der skandinavischen Mythologie, die sich tief in Polygon Treehouse Point & Click Adventure in eine Geschichte um Familie, Liebe und Mut einwebt, aber auch Themen wie Trauma, Trauer, Abschied, Reflexion, Akzeptanz und Verletzlichkeit ihren Raum zugesteht. Pack deine dick gefütterten Stiefel aus, setz deine rote Mütze auf und folge mir auf den Spuren des Pulverschnees in eine zauberhafte Welt aus liebevollen Wesen, schreckhaften Pilzen und wundersamen Einsiedlern. Folge mir in den verschneiten Wald von Röki.

In Röki wird auseinandergerissen was längst getrennt war

Tove lebt mit ihrem kleinen Bruder Lars und ihrem Vater Henrik am Rande einer kleinen Stadt in Skandinavien. Während sich Lars nur liebend gern in den unendlichen Weiten des Waldes vergnügt, ist Tove eher besorgt um sein Wohlergehen. Denn seit ihre Mutter vor einigen Jahren gestorben ist, scheint Henrik nicht mehr allzu viel Anteil an ihrem Leben zu nehmen. Immer mehr wird sie zur Fürsorgeperson Nummer eins, was Lars eigentlich so gar nicht schmeckt.
Des Nachts wird das Haus der kleinen Familie von einem großen Monster attackiert, in dessen Folge es Lars verschleppt. Nun ist Tove abermals auf sich allein gestellt. Den Vater in den Trümmern zurückgelassen, folgt sie den im tiefen Schnee hinterlassenen Spuren, um ihren Bruder wiederzufinden.

Und so startet sie ihre Suche im nahen Wald, in dem Lars immer von magischen Wesen erzählt hat. Zu ihrer Verwunderung muss auch Tove nun feststellen, dass dieser viel lebendiger ist, als sie geglaubt hat. Bäume mit Augen, Trolle, Elfen, die oben angesprochenen Tomtes und viele weitere sonderbare Wesen begegnen ihr auf ihrer Suche. Röki macht sich die nordische Folklore zu Eigen, um die Geschichte der Familie über ihre reichhaltigen Gestalten des Waldes ins Rollen zu bringen. Wenn Tove mit den Bewohner_innen spricht, werden auch immer wieder ihre eigenen Erlebnisse und ihre Vergangenheit thematisiert, die sie in ihrer Reflexion zum weiteren Fortschreiten animiert, auch wenn Ängste sie manches Mal davon abhalten mögen. In diesem Märchen verschwimmen skandinavische Mythologie und Familiendrama zu einer dynamischen Gesamterzählung, die ihre Kraft aus dem Miteinander schöpft, dem Hilfsbereiten.

Darf es sonst noch etwas sein?

So ist es auch nicht verwunderlich, dass das zwar modern angelegte Point & Click Adventure Röki in seiner recht Ausrichtung dann doch immer wieder zu klassischen Mitteln greift. So scheinen überwiegende Erledigungen von Gefallen im Spielsystem Anfangs etwas zu sehr aus der Zeit gefallen, ergeben in ihrer eigenen kleinen Welt dann aber doch Sinn. Denn hier ist es die gegenseitige Freundlichkeit und der Wille zu helfen, der alle Wesen in Röki wieder enger zusammenrücken lässt. Nicht nur Toves Familienverhältnis ist hier arg zerrüttet, auch das Zusammenleben im Wald hat sich im Gegensatz zu Früher verändert. Einsamkeit und Egoismus hielten Einzug und haben die Balance des Waldes aus dem Gleichgewicht gebracht.
In der Folge werden von Wesen geforderte Items als Zeichen der Aufmerksamkeit und zur Aufweichung des Misstrauens, um dir ihre Hilfe anzubieten, zur absolut authentischen Handlung. Ich hätte niemals geglaubt, dass ich das nochmal sagen werde.

Und so wandeln Rökis angelegte Puzzle zumeist auf einer der Welt angemessenen, sehr logischen Basis, die nach einiger Zeit des Knösterns ein zufriedenstellendes Gefühl verabreichen. Auch wenn manches Puzzle dann doch mal zu ausschweifend oder undurchsichtig angelegt ist oder Straffung hätte vertragen können. Du verzeihst dem Adventure seine Ausbrecher und gestehst ihm seine Makel zu. So hätte es der skandinavische Spirit auch gewollt. Da ist es am Ende egal, dass du deine Vorhandenen Items immer wieder neu aus dem Rucksack ziehen musst, statt Pilzausgrabungen endlich mal automatisch mit der schon seit langem vorhandenen Schaufel zu tätigen. Wenn Tove so verträumt in Richtung Rucksackinhalt schaut und nachzudenken scheint, was sie denn jetzt genau damit anfängt, dann werden auch die liebevollen Details und Animationen zum wertvollen Teil der Welt. Zum kleinsten Teil einer Erzählung, die so viel über ihre Visualität preisgibt, dass das aktuelle Popcornkino sich verschämt im Schnee einbuddelt.

„Du bist hier mit mir eingesperrt!“

Röki nimmt sich Zeit für die Belange der Bewohner_innen, für Toves Gefühlswelt, für Zusammenhänge, Anekdoten und locker eingeworfene Popkultur. Wenn die Jugendliche im blauen Kapuzenpullover so selbstsicher wie Rorschach einem übermächtig scheinenden Gegner entgegenschreit. „Ich bin hier nicht mit dir eingesperrt, du bist hier bei mir eingesperrt!“, dann verbreitet Röki nicht nur den Mut einer selbstentschlossenen jungen Frau, sondern ebenfalls Selbstvertrauen und Stärke unter ihren Spielenden. Eine nahbare Person, voller innerer eigener Kämpfe, entschlossen in ihrem Vorgehen, auch wenn immer wieder Zweifel und Trauer ihren Weg kreuzen. Die nicht-lineare Welt macht es möglich, dieses Erlebnis mit Tove in deinem eigenen Tempo zu erkunden. Rätsel oder Aktivitäten auch mal liegenzulassen, um die wundervoll gestaltete Welt zu genießen, einmal durchatmen zu können.

Und so erinnert auch Polygon Treehouse Low-Poly Design an zauberhaft gezeichnete Märchen und Sagen deiner Kindheit. Röki ist wie das zum Leben erweckte Bilderbuch, in das du am Liebsten hineingesprungen wärst, um einfach allein und ungestört etwas Zeit in ihm zu verbringen und die dargestellte Welt vollends aufsaugen zu können, um Wesen kennenzulernen. Die englischen Developer aus Cambridge, um die Ex Guerilla Games Mitarbeiter Tom Jones und Alex Kanaris-Sotiriou erschaffen mit ihrem einzigartigem Design und der tollen Tonebene eine lebhafte Welt. Eine Welt, in der sich kleine Pilze vor Schreck zusammenziehen, wenn du ihnen zu Nahe kommst, deine Schritte im Schnee genau dieses friedlich, idyllische Knarzen hinterlassen und Wölfe im Hintergrund aufjaulen. Genau dort versteht es auch Aethers musikalische Begleitung dieses magische Gefühl eines einsamen Waldspaziergangs zu vermitteln. Den einzigartigen und wundersamen Ort Wald mit seinen stiesigen Bewohner_innen treffend genau zu begleiten ohne ihnen unsanft vor den Kopf zu stoßen.

Röki reaktiviert ein längst verloren geglaubtes Band

Wo nordische Mythen und Folklore im Videospielbereich immer wieder in einer dir feindlich gesinnten Welt platziert werden und dich zum Kampf auffordern, ist Polygon Treehouse Comig of Age Geschichte eine wahre Wohltat. Wo fabelhaft designte Monster und Wesen dir zwar misstrauisch, aber auf Augenhöhe begegnen und nach einiger Zeit zu Freunden werden können, da ist ganz viel Platz für liebevolles Miteinander und ausbalancierte Gegenseitigkeiten. Wo Trolle nicht wahllos Kinder fressen, sondern nur reflektiert davon reden und Riesen nicht mit Schwertern gejagt, sondern Feinde durch ausgefuchste Mythologiekenntnis in die Flucht geschlagen werden, da sitzt das pazifistische Herz am rechten Fleck. Dort kannst du getrost deine von den Mumins geprägten Erinnerungen an die skandinavische Folklore, um einige Erzählungen erweitern. Mit der ganzen Familie versteht sich!

Röki ist ein Tomte von einem Spiel. Das Spiel, das dir freundlich gesinnt ist, wenn du seine oberflächlichen Makel akzeptierst. Das Spiel, das dir hilfsbereit mit einer Welt zur Seite steht, die Kraft spendet, um deine Abenteuer zu überstehen. Dir aber auch sagt, hey, es okay dir die Zeit zu nehmen, die du brauchst. Auch wenn dadurch etwas Trägheit einsetzt. Diese Trägheit kreiert Spitzen innerhalb deiner Rökierlebniskurve. Eine, die weiß, wann sie die Dinge etwas in Fahrt bringen muss, wann sie dir übergreifende Emotionalität zutrauen kann und wann sie dich lieber locker aufpäppeln mag. Das Märchen mit Monsterbeteiligung vermittelt Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Es sagt dir, dass Schmerzbewältigung auf unbestimmte Zeit andauern kann, dich das Wiedererleben von prägenden Momenten aber an einen Ort der Zufriedenheit und Akzeptanz führen kann. Röki ist ein fabelhaftes Märchen.

9/10  👨‍👧‍👦 ❄️

Developer: Polygon Treehouse
Publisher: United Label
Genre: Point & Click Adventure
Team: Tom Jones (Co Director, Environments), Alex Kanaris-Sotiriou (Co-Director, Charakters, Animation), Ali Tocher (Sound Designer), Danny Salfield Wadeson (Narrative Designer, Writer), Sam Dickinson aka Samu (Gameplay Designer), Matthew Dickson (Tech), Kari Kinn ( Nordic Language Consultant)
Musik: Aether
Auszeichnungen: Best Indie Game (Dev Gamm!), Game of the Show Nominee (gamescom 2019), Best Arthouse (Dreamhack Summer 2019)
Veröffentlichung: 23. Juli 2020 (Steam)

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Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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